Die Kritik am Lehrplan 21 löst heftige Gegenreaktionen aus, Bild: Keystone
Die Befürworter kontern: "Darüber steht im Lehrplan kein Wort!" Aargauer Zeitung, 22.5. von Hans Fahrländer
Die beiden
Initianten, Heilpädagogin Elfy Roca und Bezirkslehrer Harald Ronge,
kritisierten am Lehrplan 21 unter anderem, er fröne dem Konstruktivismus: Die
Schüler müssten ihre Lernprozesse selbstständig steuern, der Lehrer sei nicht
mehr Wissensvermittler, sondern «Prozessberater», das überfordere vorab
schwächere Kinder, diese brauchten Vorbilder und Anleitung.
Aus dem
gleichen Grund wandten sie sich gegen «offene» Unterrichtsformen und gegen die
Fokussierung des Lehrplans auf «Kompetenzen». Lernziele finde man keine mehr.
Man merke heute schon, wie es den Kindern an Grundfertigkeiten fehle, der
Lehrplan 21 verstärke diese Entwicklung.
Gefährliche
Schwarzmalerei
Thomas
Leitch ist Sekundarlehrer und Präsident der grossrätlichen Bildungskommission.
«Ich halte die Schwarzmalerei der Initianten und ihr Festhalten am
herkömmlichen Unterricht für gefährlich. Diese Sicht lässt keinen Raum für die
Vielfalt des Lernens. Man muss doch offenbleiben für unterschiedlichste
Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen.»
Es mache
pädagogisch keinen Sinn, eine bestimmte Lerntheorie zu verteufeln: «Keine
Lehrperson orientiert sich rein an der Theorie des Konstruktivismus. Die Art
und Weise, wie junge Menschen Informationen aufnehmen, verarbeiten, verstehen
und erinnern, verlangt eine grosse Vielfalt von Ansätzen.» Klar sei indes, dass
das «Einpauken» von Information allein niemals zum Ziel führe. «Es braucht
Auseinadersetzung mit dem Lerninhalt und Fähigkeiten für das Lösen von
Problemen.»
Völlig verfehlt
findet Thomas Leitch die «Frontstellung» zwischen Wissensvermittlung und
Kompetenz: «Wissen ist die Basis von Kompetenz. Man kann nicht kompetent sein,
wenn man sich in der Sache nicht auskennt. Der Lehrplan 21 weist deshalb aus,
welches Wissen die Schule vermitteln soll, bleibt aber dort nicht stehen. Die
Schülerinnen und Schüler sollen das Wissen auch altersgemäss anwenden können.
Mathematik zum Beispiel kann nicht nur durch Vorzeigen und Belehren gelernt
werden. Auswendig gelernte Rezepte sind kurzfristig hilfreich, werden aber
schnell wieder vergessen.»
Hattie falsch
verstanden
Thomas Birri
war bis 2014 Gesamtschulleiter in Obersiggenthal, heute ist er Dozent für
berufspraktische Studien an der Pädagogischen Hochschule. «Ja, Wissen ist enorm
wichtig – auch das Wissen, um was es im Lehrplan 21 tatsächlich geht», sagt er.
«Der Konstruktivismus war nie eine Ideologie, sondern eine im Ursprung auf Kant
zurückgehende Erkenntnistheorie. Sie besagt, dass jeder Mensch sein Bild von
‹Welt›, sein Wissen selber aufbauen muss. Diese Vorstellung ist dank der
Hirnforschung heute eine neurophysiologische Tatsache.»
Thomas
Birri ärgert es auch, dass sich die Initianten bei ihrem Lob des
Frontalunterrichts auf John Hattie, den aktuell populärsten Bildungsforscher
berufen. Gemäss Hattie setze die gute Lehrperson jedem Kind angemessene Ziele.
Und Birri zitiert Hattie: «Das Ziel ist es, den Lernenden die Fähigkeit zu
vermitteln, sich selbst zu unterrichten, ihr Lernen selbst zu regulieren.»
Birri schliesst daraus: «Ja, John Hattie misst der Lehrperson grosse Bedeutung
zu, meint aber damit nicht den traditionellen Frontalunterricht, im Gegenteil,
er verwahrt sich explizit davor. Bevor die Initianten Hattie zitieren, sollten
sie ihn lesen, weil Wissen wichtig ist, wie sie selber sagen ...»
Ein
Lehrplan-Macher kontert
Tobias
Erne aus Baden ist Deutschlehrer an der Bezirksschule Möhlin. Er hat sich bei
der Erarbeitung des Lehrplans 21 im Fachbereich «Sprache/Muttersprache Deutsch»
engagiert. Auch er ärgert sich, dass die Initianten vorab mit (angeblich
verfehlten) Unterrichtsmethoden argumentieren: «Der Lehrplan 21 sagt nichts aus
über Unterrichtsmethoden!» Die Lehrpersonen hätten weiterhin die Freiheit,
ihren bevorzugten Unterricht zu praktizieren.
«Ein Lehrplan
formuliert Anforderungen, welche die Gesellschaft an die Schule stellt –
beziehungsweise die Aufgaben, welche die Schule in Bezug auf die Kinder zu
erfüllen hat. Es scheint auf der ganzen Welt Einigkeit darüber zu bestehen,
dass man diese Anforderung am besten mit Kompetenzen formuliert, also damit,
dass man der Schule sagt, was die Kinder am Ende ihrer Schulzeit können müssen.
Dieses Konzept ist doch sinnvoller, als der Schule festzuschreiben, in welchem
Jahr sie was durchnehmen muss.
Tobias Erne
findet es bemühend, was die Initianten dem künftigen Lehrplan alles ankreiden,
zum Beispiel heutige Lehrmittel, heutige Trends an den Hochschulen oder das
heutige Bildungsniveau, das angeblich gesunken sei. Es gebe keine Untersuchung,
welche dieses Klagelied stütze, aber mehrere Studien, welche das Gegenteil
belegten. «Viel eher trifft der Befund zu, dass heutige Schüler viel mehr wissen
und können müssen als früher», so Erne.
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