10. April 2015

Sexualkunde in Deutschland

Besuch in einem bayerischen Gymnasium. Angesagt ist Sexualkunde. Ein Lektionsprotokoll.




Das Standardwerk 'Sexualpädagogik der Vielfalt' soll Lehrern neue Anregungen geben, Bild: Picture-Alliance

Womit fängt guter Sex an? FAZ, 9.4. von Melanie Mühl

Sexualkundeunterricht an einem bayerischen Gymnasium. Fünfundzwanzig Schüler der achten Klasse hängen mehr in ihren Stühlen, als dass sie sitzen. Die Mädchen sind geschminkt, das Spektrum reicht vom nudefarbenen Lipgloss bis zum Komplettprogramm inklusive Nagellack. Sie wirken älter, als sie tatsächlich sind. Die meisten Jungs hingegen erwecken den Eindruck, als hätten sie eben noch mit Plastikbaggern gespielt. Als die Lehrerin, eine resolute, durchaus humorvolle Frau um die fünfzig, das Wort Sex ausspricht, kichert die Klasse, obwohl die meisten von ihnen schon mal einen Porno im Netz gesehen haben dürften. Pornos werden unter Jugendlichen gerne herumgeschickt, als Mutprobe (Ekelpornos) oder aus Spaß. Zu aufgeklärten (und abgeklärten) Sex-experten bildet der Pornokonsum sie freilich nicht aus. Stars Wars gucken bedeutet ja auch nicht, dass man die Cape Canaveral Air Force Station dadurch wie seine Westentasche kennt.

Die Besonderheiten des männlichen und weiblichen Körpers stehen erst in der nächsten Unterrichtsstunde auf dem Programm. Für heute lautet die Aufgabe: Jeder soll notieren, was er am jeweils anderen Geschlecht positiv und was negativ findet. Anonym. Danach werden die Blätter eingesammelt. Jungs mögen an Mädchen besonders Folgendes: „Geben Bonbons. Geben Blätter. Geben Stifte. Lassen Hausaufgaben abschreiben.“ Erotik? Ist nirgendwo im Spiel. Die Jungs nehmen Mädchen hauptsächlich als Lieferantinnen von Stiften und Hausaufgaben wahr. Negativ beurteilen sie: „Gehen immer gemeinsam aufs Klo. Schnell beleidigt. Kichern ständig. Schauen einen immer so blöd an. Stecken sich Stifte in die Haare. Haben einen irgendwie komischen Körper.“ Die Vorstellung eines Zungenkusses muss sie ekeln.

„Voll Porno“

Beim weiblichen Blick auf die Jungs schwingt die Anziehungskraft des anderen Geschlechts bereits mit: „Ab und zu ganz süß. Manche riechen voll gut. Geile Haare. Ihre Deos riechen toll. Gentlemanlike. Tiefe Stimme.“ Was die Mädchen nicht leiden können, sind Angeber, Machos, „das Zocken am Computer“. „Die sind noch voll die Kinder“, flüstert eine Schülerin ihrer Nachbarin ins Ohr. Ob sich jemand zu dem Thema äußern möchte, fragt die Lehrerin. Niemand traut sich. Wieder Gekicher.

Die Lehrerin insistiert nicht. Dabei könnte sie auch den harten Weg einschlagen und das als Standardwerk geltende Buch „Sexualpädagogik der Vielfalt“ heranziehen. Sie könnte die Aufgabe stellen: Bildet Gruppen, und denkt über den Orgasmus nach! Die Schüler müssten dann zuerst - als „Input und Anregung“ - einige Behauptungen rund um den Orgasmus auf den Prüfstand stellen. Zum Beispiel: „Frauen haben eine unerschöpfliche orgastische Potenz. Für muslimische Frauen ist der Orgasmus nicht wichtig. Nur schwule Männer bekommen durch Analverkehr einen Orgasmus. Frauen, die keinen Orgasmus erleben, sind frigide.“

Wäre die Lehrerin mit diesem Thema bereits durch, könnte sie auf eine Vielzahl weiterer, „völlig neuer didaktischer Anregungen“ zurückgreifen, wie den Fragebogen „Voll Porno“. Empfohlen wird er ab vierzehn. Bei Bedarf auch früher. Die Fragen lauten: „Warum haben die Männer in Pornofilmen immer so einen langen bzw. großen Penis? A: Weil die Pornofirmen die Männer hauptsächlich danach aussuchen. B: Wenn ein kurzer Penis in eine Körperöffnung gesteckt wird, sieht man nicht mehr viel davon, oder C: Je länger der Penis, desto länger dauert der Sex.“ Oder: „Was ist Gangbang? A: Alle treiben es wild durcheinander. B: eine Person hat ohne Pause nacheinander mit vielen bereits wartenden Männern Sex. C. Sex mit vorbestraften Gang-Mitgliedern.“ Verhandelt wird zudem, warum in Pornofilmen so viel Sperma fließt und ob guter Sex tatsächlich der festgelegten Dramaturgie folgt: „1. Oralverkehr, 2. Vaginalverkehr, 3. Analverkehr und 4. Samenerguss?“ Im Vorwort ist übrigens von „Verstörung von Selbstverständlichkeiten“ die Rede. Das dürfte gelingen.

Wir bauen einen Puff!

Das Autorenteam vertritt die Meinung, dass Jugendliche im Aufklärungsunterricht nicht nur lernen sollten, wie man verhütet, sondern auch, was Dildos, Taschenmuschis und drag queens sind und wozu Gleitmittel taugen. Offenbar muss auch der Irrtum, Handschellen seien lediglich ein Faschingsaccessoire, aus der Welt geschafft werden. Die Leitlinie des Buchs lautet: „größtmögliche Denkfreiheit und Kreativität“.

Kreativität wird den Jugendlichen auch abverlangt, wenn sie den „neuen Puff für alle“ einrichten dürfen („Altersstufe ab 15, geeignet als Vertiefung“). Wie muss so ein Puff eigentlich von außen gestaltet sein, „damit er von allen möglichen Menschen aufgesucht werden kann“? Bei einem Puff liegt es auf der Hand, dass die „Fähig- und Fertigkeiten“ der dort Arbeitenden keinesfalls außer Acht gelassen werden dürfen. „Es macht einen Unterschied, einen weißen heterosexuellen Mann in dem neuen Puff bedienen zu wollen oder einen weißen, heterosexuellen Mann im Rollstuhl.“ Auch die Trans-Frau habe ihre sexuellen Bedürfnisse. Für Variantenreichtum ist gesorgt. Lehrer und Schüler können sich sicher sein: „Diese Übung birgt viel Spaß und Humor.“

Zurück zum Sexualkundeunterricht. Die Lehrerin fordert ihre Schüler auch in den verbleibenden zehn Minuten nicht zum Brainstorming über Dildos und Latex-Masken auf. Sie sollen ein Werbefoto kommentieren, auf dem eine sehr blonde Frau mit sehr langen Beinen und einem gürtelähnlichen Rock neben einem Auto posiert. „Wohin habt ihr zuerst geschaut?“, fragt sie. „Auf das Nummernschild!“, rufen die Jungs, „und auf das coole gelbe Auto!“ Irgendwann sagt einer schüchtern, dass die Beine der Frau schon ganz hübsch seien. Die Klasse johlt. Die Mädchen finden das freizügige Outfit der Blondine abstoßend. „Da sieht man ja voll den Busen!“ Dann ertönt der Gong, und die Schüler haben es ziemlich eilig. In ihren Gesichtern zeichnet sich Erleichterung ab.

 

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