Mut zur Zürcher Bildungsdebatte, NZZ, 25.4. von Walter Bernet
Von einem lautlosen, allmählichen Verschwinden der
Kantone hat die Wochenzeitung «Die Zeit» kürzlich gesprochen. Anlass dazu gab
die tiefe Beteiligung an den kantonalen Wahlen in Zürich und anderswo. Die
Kantone seien in den letzten Jahrzehnten in vielen Fragen zu Vollzugsbehörden
des Bundes degradiert worden, wird zur Begründung angeführt. Stimmt das? Oder
ist das nur eine Frage der medial filtrierten Wahrnehmung? Immerhin war die
Wahlbeteiligung an den Zürcher Wahlen nie besonders hoch. Nehmen wir die
Schulpolitik in den Blick, eine der kantonalen Kernkompetenzen, so scheint
einiges für die These vom Verschwinden zu sprechen. Die Harmonisierung der
Volksschulen ist zwar erwünscht, aber von der Bundesverfassung erzwungen. In
der erneut aufgebrochenen Sprachenfrage will Bundesrat Berset ein Machtwort
sprechen, sollten die Kantone sich nicht einigen können.
Im Kanton Zürich steht nach zwölf Amtsjahren von
Regine Aeppli eine Neubesetzung des Chefpostens im Schulwesen an. Ein Blick in
die jüngste Vergangenheit scheint zu bestätigen, dass zwar um die Schule nach
wie vor Grabenkämpfe geführt werden, es aber um die Zürcher Volksschule
verdächtig ruhig geworden ist. Die Pisa-Resultate, das Harmos-Konkordat, der
Deutschschweizer Lehrplan 21, die Probleme der Sonderpädagogik und der
Fremdsprachenunterricht haben die Auseinandersetzungen auf eine überkantonale
Ebene gehoben. Deren Befeuerung ist zur Marketingaufgabe der nationalen
Parteizentralen geworden, über die Kantonsgrenzen hinausreichende Netzwerke und
Interessenorganisationen - einige davon mit diffusem Hintergrund - konnten
profitieren.
Man muss allerdings nicht sehr weit zurückblicken,
um auf intensive kantonale Schuldebatten zu stossen, welche die Eigenständigkeit
des Kantons und die Mobilisierungskraft kantonaler Schulfragen belegen. Der
Gebrauch der Mundart im Kindergarten oder die Grundstufe sind rezente
Beispiele. Etwas weiter zurück liegen die fünf Volksinitiativen, welche die
Streichungen des bisher einschneidendsten kantonalen Sparprogramms 2004
auslösten. Sie alle wurden vom gleichen Kantonsrat, der die Sparübung
mitgetragen hatte, ohne Volksabstimmung umgesetzt. Selbst über den
Fremdsprachenunterricht fand eine rein kantonale Debatte statt, die im November
2006 mit einem klaren Nein zur Volksinitiative «Nur eine Fremdsprache an der
Primarschule» endete. Welchen Stellenwert der Kanton in Bildungsfragen immer
noch hat, lässt sich auch aus dem Jahres-Sitzungskalender der
Bildungsdirektorin ablesen, den Bildungsrat Lucien Criblez kürzlich in einem
Referat zur Bildungspolitik im politischen Mehrebenensystem der Schweiz
vorstellte. Zu den 45 Regierungsratssitzungen kommen 40 mit dem Kantonsrat und
seinen Kommissionen, 27 mit den Bildungs-, Universitäts- und Fachhochschulräten
und rund 10 mit Gemeindevertretungen. Diesen stehen etwa 20 Sitzungen der
Erziehungsdirektorenkonferenz und ihrer regionalen Untergruppen, 6 Sitzungen
der Hochschulkonferenz und einige mit dem Bund entgegen.
Von einem allmählichen Verschwinden kann im Fall
des Kantons Zürich also kaum gesprochen werden, zumal dieser seine Interessen
in interkantonalen Gremien geltend zu machen weiss, was nicht für alle Kantone
zutreffen mag. Eher ist von einem Phänomen der Überschichtung zu sprechen:
Ähnliche Problemlagen und Steuerungsprobleme erzwingen in der Bildungspolitik
eine zunehmende Koordination. Der kantonale Gestaltungsraum bleibt aber gross.
Die jüngsten Schuldebatten haben diese Tatsache etwas übertüncht. Das muss
korrigiert werden. Wenn der Dachverband der Zürcher Volksschullehrer die
Ergebnisse einer simpel angelegten Mitgliederbefragung eins zu eins in die
Forderung nach Französisch als einziger Fremdsprache in der Primarstufe umformt
und darin einen Beitrag zu einer nationalen Lösung der Sprachenfrage sieht,
läuft etwas falsch. Es braucht wieder eine mit offenem Visier geführte,
kontroverse Diskussion über die Schule, die wir im Kanton Zürich wollen. In
nächster Zeit werden die Vorgaben des Lehrplans 21 in einen Zürcher Lehrplan
umgegossen. Dessen Umsetzung ist der Testfall dafür.
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