25. April 2015

Offene Bildungs-Diskussion gefordert

Wenn jemand fordert, "Es braucht wieder eine mit offenem Visier geführte, kontroverse Diskussion über die Schule, die wir im Kanton Zürich wollen", dann sagt er implizit auch, dass diese Diskussion in letzter Zeit nicht stattgefunden hat. Jemand muss diese Diskussion wohl unterdrückt oder hintertrieben haben. Wenn nun Walter Bernet dabei ausgerechnet auf den Zürcher Lehrerverband zielt, dann ist dies etwas seltsam. (uk)
Mut zur Zürcher Bildungsdebatte, NZZ, 25.4. von Walter Bernet


Von einem lautlosen, allmählichen Verschwinden der Kantone hat die Wochenzeitung «Die Zeit» kürzlich gesprochen. Anlass dazu gab die tiefe Beteiligung an den kantonalen Wahlen in Zürich und anderswo. Die Kantone seien in den letzten Jahrzehnten in vielen Fragen zu Vollzugsbehörden des Bundes degradiert worden, wird zur Begründung angeführt. Stimmt das? Oder ist das nur eine Frage der medial filtrierten Wahrnehmung? Immerhin war die Wahlbeteiligung an den Zürcher Wahlen nie besonders hoch. Nehmen wir die Schulpolitik in den Blick, eine der kantonalen Kernkompetenzen, so scheint einiges für die These vom Verschwinden zu sprechen. Die Harmonisierung der Volksschulen ist zwar erwünscht, aber von der Bundesverfassung erzwungen. In der erneut aufgebrochenen Sprachenfrage will Bundesrat Berset ein Machtwort sprechen, sollten die Kantone sich nicht einigen können.
Im Kanton Zürich steht nach zwölf Amtsjahren von Regine Aeppli eine Neubesetzung des Chefpostens im Schulwesen an. Ein Blick in die jüngste Vergangenheit scheint zu bestätigen, dass zwar um die Schule nach wie vor Grabenkämpfe geführt werden, es aber um die Zürcher Volksschule verdächtig ruhig geworden ist. Die Pisa-Resultate, das Harmos-Konkordat, der Deutschschweizer Lehrplan 21, die Probleme der Sonderpädagogik und der Fremdsprachenunterricht haben die Auseinandersetzungen auf eine überkantonale Ebene gehoben. Deren Befeuerung ist zur Marketingaufgabe der nationalen Parteizentralen geworden, über die Kantonsgrenzen hinausreichende Netzwerke und Interessenorganisationen - einige davon mit diffusem Hintergrund - konnten profitieren.
Man muss allerdings nicht sehr weit zurückblicken, um auf intensive kantonale Schuldebatten zu stossen, welche die Eigenständigkeit des Kantons und die Mobilisierungskraft kantonaler Schulfragen belegen. Der Gebrauch der Mundart im Kindergarten oder die Grundstufe sind rezente Beispiele. Etwas weiter zurück liegen die fünf Volksinitiativen, welche die Streichungen des bisher einschneidendsten kantonalen Sparprogramms 2004 auslösten. Sie alle wurden vom gleichen Kantonsrat, der die Sparübung mitgetragen hatte, ohne Volksabstimmung umgesetzt. Selbst über den Fremdsprachenunterricht fand eine rein kantonale Debatte statt, die im November 2006 mit einem klaren Nein zur Volksinitiative «Nur eine Fremdsprache an der Primarschule» endete. Welchen Stellenwert der Kanton in Bildungsfragen immer noch hat, lässt sich auch aus dem Jahres-Sitzungskalender der Bildungsdirektorin ablesen, den Bildungsrat Lucien Criblez kürzlich in einem Referat zur Bildungspolitik im politischen Mehrebenensystem der Schweiz vorstellte. Zu den 45 Regierungsratssitzungen kommen 40 mit dem Kantonsrat und seinen Kommissionen, 27 mit den Bildungs-, Universitäts- und Fachhochschulräten und rund 10 mit Gemeindevertretungen. Diesen stehen etwa 20 Sitzungen der Erziehungsdirektorenkonferenz und ihrer regionalen Untergruppen, 6 Sitzungen der Hochschulkonferenz und einige mit dem Bund entgegen.

Von einem allmählichen Verschwinden kann im Fall des Kantons Zürich also kaum gesprochen werden, zumal dieser seine Interessen in interkantonalen Gremien geltend zu machen weiss, was nicht für alle Kantone zutreffen mag. Eher ist von einem Phänomen der Überschichtung zu sprechen: Ähnliche Problemlagen und Steuerungsprobleme erzwingen in der Bildungspolitik eine zunehmende Koordination. Der kantonale Gestaltungsraum bleibt aber gross. Die jüngsten Schuldebatten haben diese Tatsache etwas übertüncht. Das muss korrigiert werden. Wenn der Dachverband der Zürcher Volksschullehrer die Ergebnisse einer simpel angelegten Mitgliederbefragung eins zu eins in die Forderung nach Französisch als einziger Fremdsprache in der Primarstufe umformt und darin einen Beitrag zu einer nationalen Lösung der Sprachenfrage sieht, läuft etwas falsch. Es braucht wieder eine mit offenem Visier geführte, kontroverse Diskussion über die Schule, die wir im Kanton Zürich wollen. In nächster Zeit werden die Vorgaben des Lehrplans 21 in einen Zürcher Lehrplan umgegossen. Dessen Umsetzung ist der Testfall dafür.


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