Bossard: In den Schureformen und Bildungsdebatten verschwindet die Lehrerpersönlichkeit, Bild: zvg
Der Glaube an Plan und Papier, Journal 21, 15.4. von Carl Bossard
In den Schulreformen und
Bildungsdebatten verschwindet die Lehrerpersönlichkeit. Dabei sind die Lehrer,
ihr Unterricht sowie ihre Beziehung zur Klasse entscheidend für den
Schulerfolg.
Pädagogen bringen sich
selber zum Verschwinden. Sie sehen sich heute primär als Coach und
Lernbegleiter. In dieser technokratischen Funktion gestalten sie
Lernlandschaften und moderieren das selbstorganisierte Arbeiten ihrer
Schülerinnen und Schüler. Das ist der Trend, wie eine Abteilungsleiterin der PH
Zürich an einer Tagung Mitte März bekräftigte. Lernen ohne Lehrer – «LoL» – ist
angesagt. Doch wer in Biografien blättert, wer bei Schriftstellern schmökert,
wer von seiner Schulzeit schwärmt, der weiss: Auf die Lehrerin und ihren
Unterricht kommt es an. Das bestätigen Bildungsforscher und Neurobiologen schon
lange. Auch die umfangreiche Hattie-Studie, auf die im Folgenden noch eingegangen
wird, zeigt es.
Vor lauter Reden und
Reformen, vor grossräumigem Gezänk und Getöse um Frühsprachen und Lehrplan 21
geht schnell vergessen, was die Kinder mehr prägt als ein Kompetenzenportfolio
oder altersdurchmischtes Lernen: die Lehrerpersönlichkeit. Der Mensch, an den
man sich auch vierzig Jahre später erinnert, weil er uns ermutigt und an uns
geglaubt hat. Es ist jene Lehrerin, die uns viel zutraut und als Person lebt,
was sie sagt.
Die Schulwelt war fordernd
Solche Persönlichkeiten
waren meine Primarlehrer. Zuerst das Fräulein. In allem ganz Lehrerin. Mit Leib
und Seele, mit Hingabe an ihre Aufgabe – interessiert an uns fünfzig kleinen
Knirpsen. Sie unterrichtete die erste und zweite Klasse. Weiter brachte sie es
nicht. Ab dem dritten Schuljahr wurde die damalige Schulwelt männlich. Nur noch
Lehrer. Mit ihnen kamen neue Werte. Hierarchischer und asymmetrischer wurde das
Verhältnis. Von oben blickten sie uns an, und wir schauten zu ihnen hinauf.
Irgendwie wussten wir: Da stand jemand vor uns, der eine Ahnung vom Leben
hatte, vom wirklichen Leben. Unser Dritt- und Viertklasslehrer erfand das gelb
markierte Netz der Schweizer Wanderwege. Jeden Freitag erklang seine Stimme auf
Radio Beromünster. Das tröstete über alle didaktischen Albträume hinweg. Und der
Fünft- und Sechstklasslehrer: Theaterstücke schrieb und Regie führte er. Auch
hier ganz Magister und fachliche Autorität mit Vorbildfunktion – am Leben
interessiert und tatenorientiert.
So traten beide auf, so
wirkten sie, so konfrontierten sie, und so rieben wir uns an ihnen. Sie setzten
sich mit uns jungen Männern leibhaftig auseinander; sie unterrichteten nicht
einfach Fächer und Stoffe. Ihre subkutane Botschaft: Aus euch kann und muss
etwas werden! Wir trauen euch das zu.
Deutsch und Rechnen waren
die zentralen Inhalte, dazu Geschichte und Geografie. Die Fächerfülle war
bescheiden. Heftführung, Aussprache und Rechtschreibung hatten hohe Priorität.
Was wir «durchnahmen», nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich,
mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können, ist mehr
als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, lebte unser
Lehrer und verlangte es. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv
und genau! – Non multa, sed multum! heisst es bei Plinius. Jeden Aufsatz hat
der Fünft- und Sechstklasslehrer sauber korrigiert und mit jedem einzelnen
persönlich besprochen. Individuelles Feedback heisst das zeitgemässe
Zauberwort. In zwei Jahren schrieben wir gegen zwanzig Aufsätze. Das bedeutete
für ihn die Korrektur von rund tausend Texten. Prägnanz bringt Eleganz, sagte
mir der Lehrer. Noch heute höre ich seinen Satz und sehe, wie er sich für mein
Lernen und Vorwärtskommen verantwortlich fühlte.
Es war eine harte und
autoritäre Schule, fordernd und anspruchsvoll, bemüht um elementares
Basiswissen – eine Bildung, die sich ganz unflexibel einer Sache und
ursprünglicher Erfahrung hingab. Welcher Wandel der Modelle, Themen und Stile
im Vergleich zu heute! Vieles nimmt sich aus jetziger Sicht wie schwarze Pädagogik
aus, und doch hat es mich für mein Leben geprägt. Unser Fünft- und
Sechstklasslehrer verkörperte und verlangte etwas von dem, was der
Kognitionsforscher Howard Gardner als Intelligenzen für das
21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und
Denken.
Den Beruf leidenschaftlich
lieben
Warum blieb uns der
damalige Lehrer in Erinnerung? Es war seine unbedingte Leidenschaft, seine
vitale Präsenz, die absolute Konsequenz, mit der er seiner Berufung, Lehrer zu
sein, gefolgt ist. Er konnte uns begeistern und für eine Sache interessieren,
in vielem vielleicht sogar Flügel verleihen. Dass ich Geschichte studierte und
Lehrer wurde, verdanke ich ihm.
Vieles erinnert an Albert
Camus’ Lehrerporträt. In seinem autobiografischen Werk «Der erste Mensch»
beschreibt der französische Literaturnobelpreisträger Monsieur Bernard. Von
seinem Unterricht sagt Camus, er sei «aus dem einfachen Grund, dass er seinen
Beruf leidenschaftlich liebte, ständig interessant» gewesen. In seiner Klasse
fühlten die Kinder «zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand
höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.»
Den Schülern die Türen zur
Welt öffnen und sie die Welt entdecken lassen als Aufforderung zum Handeln –
das haben sie gemacht, unsere Lehrer. Denn die Welt liegt zwischen den
Menschen, wie es die Politphilosophin Hannah Arendt einmal ausdrückte. Darum
ist Beziehung so wichtig. In den Beziehungen spielt sich das Leben ab:
Beziehung zu Menschen und Tieren, zu Sprache und Mathematik, zu Ideen und
Phänomenen, zu Natur und Kultur. Doch Beziehungen sind nur lebendig, wo Gefühle
mitschwingen. Darum spielt die Persönlichkeit der Lehrerin, die menschliche
Souveränität des Lehrers auch hier eine ganz entscheidende Rolle. Damals wie
heute.
Jede Methode wirkt
irgendwie – aber wie?
Die didaktischen und
pädagogischen Paradigmen haben sich verändert. Das ist gut so. Geblieben sind
die Prinzipien guten Unterrichts. Doch sie sind gefährdet – durch das
Mythisieren modischer Methoden. Dazu gehört zum Beispiel das Programm ‚Lesen
durch Schreiben’, 1982 entwickelt vom Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen.
Es basiert auf einer Anlauttabelle und lässt Kinder individuell und nach
eigenem Tempo das Schreiben lernen. Nach der Wirkung wurde nicht gefragt. Die
Methode löste erst in jüngster Zeit Forschung aus. «Die Ergebnisse sind
katastrophal; eigentlich müsste ‚Lesen durch Schreiben’ sofort verboten
werden», schreibt der renommierte Zürcher Pädagoge Jürgen Oelkers und fügt bei:
«Reichen hat damit ein Vermögen verdienen können.» Gleiches lässt sich von
‚Schreiben nach Gehör’ sagen. Dieses Verfahren sei «keine Methode, sondern
unterlassene Hilfeleistung», bilanziert die FAZ.
Das ist der Grund, warum
der Neuseeländer Bildungsforscher John Hattie isolierten Methoden misstraut.
«Irgendeinen Effekt hat jede Unterrichtsmethode», betont er zu Recht. Er wollte
wissen, was am besten wirkt, und er verglich. Nur so lasse sich erkennen, womit
Schüler die grössten Lernfortschritte erzielten.
«What works best?», lautete
Hatties Forschungsfrage. Er untersuchte während 15 Jahren messbare
Fachleistungen von Schülern, sogenannte «achievements». Dazu sichtete und
gewichtete er alle englischsprachigen Studien zum Lernerfolg. Gegen 70’000
Einzelbefunde führte er zusammen. In Hatties Ergebnisse flossen die Erfahrungen
von rund 260 Millionen Schülern ein.
Das Lernen sichtbar machen
Für die verschiedenen
Unterrichtsmethoden und Lerngrundlagen errechnete Hattie 138 Erfolgsfaktoren
oder Effektwerte. Dass Schüler zum Beispiel sehen, was sie gelernt haben,
erzielt eine hohe Effektstärke. Lehrer können dies bewirken. Darum nennt Hattie
sein Buch «Visible Learning», in der deutschen Übersetzung «Lernen sichtbar
machen». Der Titel ist Programm. Nur die Wirkungen zeigen eben, wie es um ein
pädagogisches Konzept bestellt ist, nicht die politisch korrekte Rhetorik.
«Meinungen gibt es genug; was zählt, ist die messbare Wirkung», schreibt
Hattie. Seine wichtigste Erkenntnis: Auf den Lehrer und seinen Unterricht kommt
es an.
Hattie schrieb kein
Rezeptbuch. Guter Unterricht kann vielfältig sein. Lehrerinnen und Lehrer
müssen darum ihre persönlichen Wirkungen verstehen. Sie bringen eben ihre
Persönlichkeit in den Unterricht ein – und nicht einfach ihr Wissen oder, wie
es heute in der Erziehungswissenschaft heisst, ihre «professionelle Kompetenz».
Und zu dieser Persönlichkeit bauen Kinder eine vertrauensvolle Beziehung auf.
Vertrauenswürdig und
glaubwürdig muss darum der Lehrer sein. Das ist das Fundament jeder
Schüler-Lehrer-Beziehung und hat nach Hattie einen der höchsten Effektwerte.
Lernen basiert auf Vertrauen in den Lehrenden. Und deshalb ist auch qualifiziertes
Feedback zwischen Lehrer und Schüler so wichtig, und zwar beiderseitig:
Unterricht als sozialer Austausch zwischen Persönlichkeiten, als «meeting of
minds», wie es der amerikanische Philosoph John Dewey nannte. Nicht umsonst
wird einer der höchsten Effektgrade im Klassenunterricht und im entwickelnden
Gespräch («reciprocal teaching») erreicht. Darum kommt es nicht einfach auf den
einzelnen Lehrer an, sondern auf den Umgang zwischen ihm und seiner Klasse.
Gutes, unterstützendes Klassenklima bewirkt viel, genauso wie die humane
Energie des Lehrers für seinen Beruf. Darin zeigt sich die Persönlichkeit.
Mit der Glaubwürdigkeit
dieses Engagements steht und fällt der Unterricht. Und mit der klaren und
verständlichen Sprache. Nur so kann ein Lehrer den Unterricht präzis steuern
und strukturieren, die Selbsteinschätzung des Leistungsstandes durch seine
Schüler fördern und sie beim Lernen gezielt unterstützen. Hattie ordnet diesen
Faktoren hohes Potential zu.
Kinder wollen einen
Häuptling
Darum, so John Hattie, muss
ein guter Lehrer mehr sein als nur ein Lernbegleiter oder Coach, darum muss
eine gute Lehrerin mehr tun, als nur Lernumgebungen zu schaffen, als hier mal
ein Arbeitsblatt auszuteilen, dort mal ein Experiment einzurichten. Ein guter
Lehrer ist nicht «faciliator», er wirkt als «activator». Als Häuptling fordert
er seine Klasse heraus und bringt so jeden Einzelnen an seine ganz persönlichen
Grenzen.
Das taten meine Lehrer. Sie
forderten uns und führten uns an Grenzen. Mit hohen Erwartungen, einem
lernförderlichen Klima und gezielten Feedbacks, mit ihrer beruflichen
Leidenschaft und pädagogischen Haltung. John Hattie gäbe ihnen hohe Werte. Von
uns Schülern ganz zu schweigen.
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