Wieso denn im Schulzimmer darben, wenn es draussen so schön ist? Bild: Sandra Ardizzone
Lehrer erfinden die Schule neu - kaum noch Probleme mit Disziplin, Aargauer Zeitung, 1.4. von Heinz Lang
Am
Anfang stand das Chaos: eine pöbelnde Problemklasse mit demotivierten
Realschülern, die statt Mathematikformeln zu büffeln die Schulzimmer mit
Klebeband verunzierten. «Die Realschule war eine Problemzone», meint Mark Fry,
Projektleiter des Schulversuchs, rückblickend, «wir mussten handeln, es drohten
Kündigungen.»
Nach
dieser Erkenntnis stellten die Niederwiler Reallehrkräfte die Schule auf den
Kopf, kein Stein blieb auf dem anderen. Heute, vier Jahre später, ist das
Fundament der Schule stabiler denn je. Im ländlich geprägten Niederwil, einem
2600-Seelen-Dorf im Freiamt, wurde die Schule neu erfunden.
Projekte am laufenden Band
Dienstagnachmittag,
13.30 Uhr: 34 Schülerinnen und Schüler sowie drei Lehrkräfte haben sich im
Estrichzimmer des alten Realschulhauses im grossen Kreis versammelt. Auf dem
Stundenplan steht das Fach «Freier Ausdruck». Jeder Schüler muss sich an diesem
Nachmittag für ein selbst gewähltes Projekt entscheiden.
Die
meisten der Schüler malen an einem Bildmotiv. Pascal und Markus wollen aus
Papier ein Mikroskop basteln, verwerfen nach intensivem Selbststudium im
Internet die Idee und bauen mit einer Linse aus einem Laserpointer ein iPhone
zu einem Mikroskop um. Sie präsentieren nach zwei Stunden ihrem Lehrer Janos
Eller Makroaufnahmen von Holzstücken, Jeans und Kapuzenpulli.
Unterdessen
wählen Dominique und Melissa die Fotos für ihre Powerpoint-Präsentation über ihr
Leben als Paar aus. Lehrer Eller definiert lediglich eine Einschränkung: «Die
Bilder müssen ab 12 Jahre frei sein.» Dabei lächelt er verschmitzt.
Neben
dieser lockeren, beinahe schon kollegialen Atmosphäre scheint an der Realschule
Niederwil das Unternehmen Lernen zu gelingen. «In einem Jahr Realschule
Niederwil habe ich mehr gelernt als in drei Jahren Sekundarschule in
Deutschland», ist Schüler Dominique vom Schulmodell überzeugt.
Mathe fehlt auf Stundentafel
Ein
Blick auf den Stundenplan verdeutlicht, wie anders das Modell Niederwil ist.
Auf der Stundentafel sucht man vergebens Fächer wie Mathematik und Deutsch. Die
Woche beginnt mit zwei Stunden «Wochenstart», in denen Schüler und Lehrpersonen
gemeinsam und minutiös die Aufträge und Wochenziele festlegen.
In
den vier altersdurchmischten Lerngruppen mit acht Schülern werden die
Arbeitsmaterialien in 12 Lektionen aufgearbeitet. Wann was gemacht wird,
entscheidet der Schüler selbst. Die Lehrpersonen vermitteln den Stoff jeweils
in 20-minütigen Inputs. Die Schüler verdienen sich für die Zielerreichung
Kreditpunkte für einen Kinobesuch.
Schon
fast logisch, dass an der Realschule Niederwil keine typischen Klassenzimmer
existieren. Die Schulzimmer erinnern eher an Büros eines KMU-Betriebes, die
Schüler arbeiten an sogenannten Lerninseln. Jeder Schüler hat seinen
persönlichen Arbeitsplatz mit Büchergestell; jede Lerngruppe hat zwei Tablets
zur freien Verfügung.
Die
vier Lerngruppen haben je einen «Chef». Gruppenleiterin Vanessa hilft einer
Schulkollegin beim Verfassen des Lebenslaufes. «Es ist cool, eine Gruppe zu
leiten. Man lernt, Verantwortung zu tragen», sagt Vanessa zu ihrer Aufgabe. Das
Übertragen der Lernverantwortung von Lehrer zu Schüler ist der Schlüssel zum
Erfolg.
«Die
Rolle des Lehrers verändert sich total, wir sind zu Lerncoaches geworden. Und:
Wir müssen mehr als Team funktionieren», sagt Lehrer Simon Landwehr. Zweimal
pro Woche treffen sich die Lehrer zwei Stunden zur gemeinsamen Arbeit.
Durch
den Teamspirit hat sich auch die Haltung der Lehrer gegenüber den Schülern
verändert. «Wir sind wie eine Familie», sagt Mathematik-Lehrerin Ruth
Fueglistaller, «es ist beruhigend, dass vier Lehrer gemeinsam für 35 Schüler da
sind – auch beim Lösen von disziplinarischen Problemen.»
Die
Leistungen der Schülerinnen und Schüler aus Niederwil sind bei standardisierten
Tests zwar nicht besser als an anderen Schulen. Schulleiter Dani Burgi ist vom
Modell trotzdem überzeugt. «Ich habe kaum noch Disziplinarfälle auf meinem
Tisch.»
Der
Schulverband Reusstal baute das Modell weiter aus. Seit diesem Schuljahr wird
in Stetten nicht nur altersdurchmischt, sondern auch stufendurchmischt
unterrichtet.
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