Wie oft schon hatte ich als Sekundarlehrer
mit Eltern und Schülern Diskussionen über die Vornoten. Sie zählen immerhin zur
Hälfte, wenn es darum geht, nach der zweiten Oberstufe ins Gymnasium zu
wechseln. Sie gelten bei den Aufnahmeprüfungen als die halbe Miete. Der am
vergangenen Donnerstag publizierte Artikel «Der wundersame Sprung der Noten vor
der Gymiprüfung» spricht
mir deshalb aus dem Herzen: Wer sehr gute Vornoten hat, kann sich an der
eigentlichen Prüfung gar den Patzer von mehreren
ungenügenden Noten erlauben. Letztlich
muss man «nur» den Durchschnitt aus Vornoten und Prüfungsnoten von 4,25
erreichen – und man ist in die von allen so gelobte Mittelschule aufgenommen
worden.
Haarsträubende Bewertungsmassstäbe, Bild: Reuters
Die Gymiprüfung ist eine Castingshow, Mamablog, 9.2. von Patrick Hersiczky
Beim Übertritt
von der sechsten Klasse ins Gymnasium zählen die Vornoten nach wie vor. Bei der
Sekundarstufe allerdings wurden sie nun abgeschafft, was ich sehr
begrüssenswert finde. Denn die Regelung mit den Vornoten zum Eintritt ins
Gymnasium hatte jahrelang Ähnlichkeit mit der Qualifikationsrunde im Eishockey: Es ging bloss noch darum, einen
möglichst guten Platz in den Playoffs zu ergattern. Eishockeyfreunde wissen:
Man kann in der Qualifikation fast Letzter werden und dennoch im Playoff-Modus
den Titel holen. Der ZSC hat dies einmal eindrücklich bewiesen.
Wer in den
schriftlichen Prüfungen den Notenschnitt von 4,25 nicht erreichte, aber
immerhin noch knapp über eine 4 hatte, konnte schliesslich an die mündliche
Aufnahmeprüfung gehen. Dieses mündliche Aufnahmeverfahren erlebte ich als Experte jedoch immer wieder als Casting: «Ja, der passt doch gut in meine
Klasse», meinte etwa die Gymilehrerin, mit welcher ich die Prüfung an der
Kantonsschule abgenommen habe. «Mir fehlt noch ein Fussballer.» Oder aber:
«Nein, die spricht mir zu leise.»
Ich hatte den
Eindruck, ich sei im falschen Film beziehungsweise auf dem falschen
Fernsehkanal und müsse die Fäkaliensprache von Dieter Bohlen und seiner
Entourage ertragen. Aber nein, es waren nicht die Clips aus der DSDS-Kategorie
«Leider nein», sondern
es war die offizielle Aufnahmeprüfung an einem Gymnasium. Ich war erstaunt und
kurz davor, zu sagen: «Aber hey, der ist ein Blender, hat zwar ein gutes
Auftreten, aber keine Ahnung vom Text, den er eben gelesen hat.» Doch weil ich
bei der nächsten Staffel wieder dabei sein wollte, habe ich wohl den einen oder
anderen durchgewunken. Leider ja.
Dieser Teil
des Selektionsverfahrens bleibt auch für Sekundarschüler unverändert, die
mündliche Aufnahmeprüfung bei der Gymiprüfung gibt es nach wie vor. Wir
Lehrer und Experten können so noch immer ein bisschen Einfluss darauf nehmen,wer
Dschungelkönig werden kann und wer nicht. Fraglich ist allerdings, ob ich nach
diesem Blog-Posting noch ein Aufgebot als Experte für eine Kantonsschule
bekomme. Wer zu sehr aus dem Nähkästchen plaudert, wird nicht mehr «gevotet» –
und schnell aus dem Nest von Mama Staat vertrieben.
Patrick
Hersiczky ist Sekundarlehrer und nebenberuflich freier Journalist bei der
«Aargauer Zeitung». Er ist Vater zweier Kinder (13 und 15) und lebt in Baden.
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