Markus Möhl: Integration vernachlässigt die Normalen, Bild: Chris Iseli
"Wir brauchen Jugendliche, die schreiben und rechnen können", Aargauer Zeitung, 15.1. von Hans Fahrländer
«Bin fast 18
und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann eine
Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.» Das schrieb die 17-jährige
deutsche Schülerin Naina K. aus Köln auf Twitter. Die gegenteilige Meinung
vertritt Hans Zbinden, ehemaliger Nationalrat und Vater der Bildungsartikel in
der Bundesverfassung. Er hat kürzlich in der az festgestellt: «Die ursprünglich
universelle Bildung wird schleichend auf eine beschäftigungs- und
marktrelevante Ausbildung reduziert.»
Markus Möhl,
Sie sind KMU-Unternehmer und zudem Präsident einer Berufsschule. Wer hat recht:
Naina K. oder Hans Zbinden?
Markus Möhl:
Aus meiner Sicht zeigt sich in der Wirtschaft ein klares Bild. Das
Bildungssystem hat sich vom Markt weg entwickelt. Bildung, wie sie an der
Volksschule vermittelt werden muss, wird zum sinnentleerten Selbstzweck, weil
sie in der Praxis nicht mehr nutzbar ist.
Was läuft
falsch in der Schule?
Für mich ist
die Frage falsch gestellt. Nicht die Schule läuft falsch, sondern die Vorgaben
für die Bildung zielen nicht auf die Lebens- und Wirtschaftstauglichkeit der
Jugendlichen. Das Bildungssystem orientiert sich heute weitgehend am einzelnen
Kind und seiner individuellen Förderung.
Was spricht
gegen diese Praxis?
Das ist
grundsätzlich richtig und sozial. Doch mit steigender Schülerzahl sind
Lehrkräfte mit den zur Verfügung stehenden knappen Ressourcen kaum in der Lage,
Hochbegabte, Verhaltensauffällige und Lernzielbefreite individuell zu fördern.
Der Preis für die Integration von Kindern mit speziellem Betreuungsaufwand ist
die Vernachlässigung der Durchschnittlichen und Normalen.
Was sind aus
Ihrer Sicht die Folgen?
Wir haben heute
häufiger Lehrlinge im Betrieb, die nach der Sekundarschule die
Grundrechenoperationen nicht können, nicht wissen, was eine Summe ist, für den
Zahlenbereich über 10 den Taschenrechner brauchen und ernst zu nehmende
Schreib- und Lesedefizite aufweisen. Zudem sind immer mehr Jugendliche nicht
mehr belastbar.
An was fehlt es
ihnen?
Bis zur Lehre
werden die Jugendlichen heute durch Schule und Eltern einzeln gefördert. Durch
individuelle Lernziele und vermehrt selbstgesteuertes Lernen erleben sie kaum,
was Scheitern bedeutet. Sie erfahren zu selten, wie es ist, ein Problem selber
lösen zu müssen. In der Lehre und der Berufsschule werden sie dann mit der
Realität, das heisst mit Frontalunterricht und Leistungsforderungen
konfrontiert. Das führt in den Lehrbetrieben immer wieder zu Schwierigkeiten.
Mit der Individualisierung werden grundsätzlich die Interessen des Einzelnen
über das Wohl der Gesellschaft gesetzt. Das fördert den Egoismus und schadet
letztlich allen.
Am Schluss der
Volksschule im Aargau sind Änderungen vorgesehen. Abschluss- und
Übertrittsprüfungen droht die Abschaffung.
Es gibt in der
ganzen Volksschule immer weniger Prüfungen, die Meilenstein-Charakter haben.
Die Kinder und Jugendlichen lernen nicht, mit Druck umzugehen. Für den
Übertritt zählt der Schnitt der Noten, bei Eltern mit Diskussionspotenzial
resignieren die Lehrer, um einem aufwendigen Rekurs aus dem Weg zu gehen. Nun
soll auch im Aargau der Nachteilsausgleich (NTA) eingeführt werden. Schüler mit
einem Handicap können damit Hilfsmittel aller Art brauchen. Damit werden
sämtliche Leistungen relativiert. Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt, weil
er seine Leistung ohne Hilfsmittel erbringen muss.
Wenn es keine
verlässlichen Massstäbe mehr gibt, machen die Lehrbetriebe selber Prüfungen.
Das ist eine
logische Folge. Wir wissen als Abnehmer nicht mehr, was
ein Sekundarschüler mit einem Schnitt von 5,0 wirklich kann. Was bleibt,
ist der Eignungstest. Er ist heute bei vielen Firmen die Regel. An der
Berufsschule müssen Lernateliers eingerichtet werden, wo Stoff vermittelt wird,
der eigentlich an die Volksschule gehört. Anspruchsvollere Berufe wie etwa
Elektriker haben Durchfallquoten an den Lehrabschlussprüfungen im Bereich von
30 Prozent.
Teilen Sie die
Ansicht von Bundesrat Schneider-Ammann, dass es mehr Lehrlinge und
weniger Gymnasiasten braucht?
Grundsätzlich
ja. Die Maturitätsquote im Aargau ist in den letzten Jahren gestiegen. Nachdem
die Jugendlichen nicht automatisch intelligenter werden, kann eine Erhöhung der
Quote nur bedeuten, dass man die Eintrittshürden und die Ansprüche senkt. Und
wenn mittelmässige Schüler an die Kanti gehen, dann sinkt auch das Niveau in
den Berufsschulen. Und die Matur ist in der Regel ja nicht das Endziel: Die
Maturanden drängen an überfüllte Hochschulen und belegen zu Hunderten
Studienrichtungen wie «Internationale Beziehungen», für die ein Markt fehlt.
Der Zusammenhang zwischen Maturitätsquote und Jugendarbeitslosigkeit wurde ja
bereits nachgewiesen. Andererseits wird es immer schwieriger, schulisch gute
Jugendliche zu finden, die einen Beruf lernen wollen.
Die Schulen
stehen unter grossem Reformdruck. Den machen sie sich kaum selber, die Vorgaben
stammen meistens aus der Verwaltung oder der Bildungspolitik.
Zweifellos muss
sich die Schule wandeln, um den Veränderungen in der Gesellschaft Rechnung zu
tragen. Die Frage ist aber, ob die Häufigkeit und die Intensität der Reformen
stimmen. Ich glaube, die aktuellen bildungspolitischen Reformen gehen von einem
idealisierten Menschen- und Gesellschaftsbild aus. Es ist auch im Jahre 2015
kaum so, dass alle Schülerinnen und Schüler gerne zur Schule gehen, gern
lernen, sich selber Ziele setzen, selber einen Sinn in dem sehen, was sie
machen und lernen.
Was heisst das konkret?
Nehmen wir die
Praxis als Massstab, stellen wir noch vor der Einführung des Lehrplans 21 fest:
Die Schüler verfügen zwar über vielfältige Kompetenzen, aber es mangelt an den
«Basics». Wir brauchen Jugendliche, die rechnen und schreiben können. Ich bin
deshalb auch skeptisch, wenn Hans Zbinden sagt, die Lehrpersonen müssten sich
«von Wissensvermittlern zu Sinnschaffenden» entwickeln.
Wir sind zurück
bei Hans Zbinden.
Die Aussage,
das aktuelle Bildungssystem sei auf die Wirtschaft ausgerichtet, kann nach dem
Realitätsvergleich nicht gestützt werden. Das Schulsystem ist mit einer Firma
zu vergleichen, die Spezifikationen macht für Produkte, denen der Markt fehlt.
Soll die Schule einen Beitrag zum Glück und zur Sinnfindung der Menschen
liefern, muss sie wieder Stoff vermitteln, der in der Wirtschaft gebraucht
werden kann. Die Wirtschaft braucht Basiswissen. Was theoretisch wunderbar
tönt, in der Praxis aber nicht umsetzbar und anwendbar ist, ist weder sozial
noch gerecht. Das gilt für die Lehrerbildung, die Lehrtätigkeit auf allen
Stufen, die Schule und die Jugendlichen.
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