Ehrenzeller: Zwei Fremdsprachen an der Primarschule, Bild: www.parlament.gv.at
Bundeskompetenz ist keine Leerformel, NZZ, 13.1. von Bernhard Ehrenzeller
Am 21. Mai 2006 haben Volk und Stände mit überwältigendem Mehr die neue
Bildungsverfassung angenommen. Ziel dieser Verfassungsrevision war es, einen
koordinierten Bildungsraum Schweiz von hoher Qualität und Durchlässigkeit zu
schaffen. Der Anstoss dazu kam von verschiedenen Kantonen, die den Bund auf dem
Weg von Standesinitiativen aufforderten, insbesondere eine Verfassungsgrundlage
für die Harmonisierung der Grundschule zu schaffen. Verschiedene
parlamentarische Kreise wollten weitergehen und dem Bund eine eigentliche
Grundsatzgesetzgebungskompetenz im Bildungswesen einräumen. Das hätte wohl, wie
die Kantone eindringlich geltend machten, weitgehend das Ende der kantonalen
Schulhoheit bedeutet. Den parlamentarischen Bildungskommissionen gelang es, den
Interessenausgleich zwischen dem vorgebrachten Bundesinteresse an einer
einheitlichen Grundsatzregelung im Bildungswesen und dem Interesse der Kantone
an einer gesamtschweizerischen Harmonisierungslösung im Grundschulwesen zu
finden: ein Kompromiss, der nun in Art. 61a ff. der Bundesverfassung (BV)
verankert ist.
Grundsätzlich sind weiterhin die Kantone für das Schulwesen zuständig.
Gleichzeitig verpflichtet die Bundesverfassung jedoch die Kantone, bestimmte
Eckwerte des Schulwesens, die für das Schulsystem von Bedeutung sind,
gesamtschweizerisch zu harmonisieren - so z. B. in Bezug auf die Schulpflicht,
die Anerkennung von Abschlüssen oder die Dauer, Ziele und Übergänge der
Bildungsstufen. Gelingt ihnen das nicht, sieht Art. 62 Abs. 4 BV vor, dass der
Bund die notwendigen Vorschriften erlassen muss. Diese Bundeskompetenz ist
demnach eine subsidiäre; sie kommt nur und nur so weit zum Tragen, als die
Kantone ihrer Harmonisierungspflicht nicht oder nicht mehr nachkommen. Ob eine
solche Notwendigkeit des Bundeshandelns gegeben ist, wird gegenwärtig in Bezug
auf den Fremdsprachenunterricht an der Primarschule in den parlamentarischen
Bildungskommissionen diskutiert.
Vor kurzem hat an dieser Stelle Bernhard Waldmann die Meinung vertreten,
dass dem Bund die Kompetenz fehlen würde, wollte er den Unterricht in einer
zweiten Landessprache auf Primarschulstufe vorschreiben (NZZ 26. 11. 14). Dies
trifft meines Erachtens nicht zu. Unbestritten ist, dass es an sich Sache der
Kantone ist, den Fremdsprachenunterricht an der Grundschule zu regeln. In Bezug
auf den Fremdsprachenunterricht haben diese denn auch eine gesamtschweizerische
Harmonisierungslösung verabschiedet - bereits mit dem Strategiebeschluss der
schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) von 2004 wie auch mit Art.
4 des Harmos-Konkordates. Danach werden auf Primarschulstufe in der 3. bzw. in
der 5. Klasse Englisch und eine zweite Landessprache unterrichtet, wobei die
Einstiegssprache regional koordiniert wird. Am Ende der obligatorischen
Schulzeit sollen in beiden Fremdsprachen gleichwertige Kompetenzen vorhanden
sein.
Was kann der Bund tun, wenn einzelne Kantone «entharmonisieren» und in
der Fremdsprachenfrage wieder den Alleingang beschreiten? Kann er sich auf die
subsidiäre Bundeskompetenz von Art. 62 Abs. 4 BV stützen? Indirekt haben die
eidgenössischen Räte diese Frage bei der Schaffung des Sprachengesetzes bereits
eingehend diskutiert. Dabei hat sich die Meinung durchgesetzt, dass der Bund -
entgegen dem ersten Nationalratsbeschluss - nicht zuständig ist, den Kantonen
vorzugeben, dass die erste Fremdsprache eine Landessprache sein muss. Der Bund
soll nicht eine eigene Sprachenregelung anstelle der Harmonisierungslösung der
Kantone erlassen. Deshalb hat er sich in Art. 15 Abs. 3 des Sprachengesetzes
darauf beschränkt, die Lösung der Kantone bundesrechtlich zu verankern. Damit
hat der Bundesgesetzgeber die Kantone an ihre eigene Harmonisierungslösung,
also an das Zweifremdsprachenkonzept auf Primarschulstufe, gebunden. Die
parlamentarischen Voten zeigen unzweideutig, dass der hart errungene Kompromiss
im Sprachengesetz nur deshalb möglich war, weil die Räte von der glaubwürdigen
Umsetzung der Sprachenstrategie der Kantone ausgegangen sind.
Weichen nun Kantone von dieser gesamtschweizerischen
Harmonisierungslösung ab, so bedeutet dies nicht, dass der Bund ermächtigt ist,
den Fremdsprachenunterricht anstelle der Kantone zu regeln, also Anzahl und
Reihenfolge der Fremdsprachen, Schuljahr, Stundenzahl und Kompetenzniveaus oder
die Lehrpläne zu bestimmen. Doch wenn die Bundesverfassung den Bund als
zuständig erklärt, die Ziele und Übergänge der Bildungsstufen festzulegen, so
kann dies kaum anderes bedeuten, als dass ihm - im Fall des Misslingens der
gesamtschweizerischen Harmonisierung - das Recht zusteht, die Ziele des
Unterrichts auf den einzelnen Bildungsstufen vorzugeben. Darunter ist mehr zu
verstehen als Strukturvorgaben mit nur allgemeinen, fachbereichsunabhängigen
Zielumschreibungen pro Bildungsstufe. So hält der Kommissionsbericht zur
Bildungsverfassung fest, dass der Bund mit Art. 62 Abs. 4 BV das Recht erhält,
«notfalls selbständig den Hochschulzugang», also die inhaltlichen Anforderungen
an den Maturitätsabschluss, zu regeln. Wieso bei diesem Verständnis der
Bildungsverfassung dem Bund die Kompetenz fehlen sollte, bundesrechtlich
zumindest vorzugeben, dass auf Primarschulstufe eine zweite Landessprache
unterrichtet werden muss, ist schwer begründbar. Ihm diese Zuständigkeit
abzustreiten hiesse, die subsidiäre Bundeskompetenz im Bildungsbereich zur
Leerformel verkommen zu lassen.
Gemäss Art. 61a der Bundesverfassung haben Bund und Kantone eine hohe Qualität des Bildungsraumes Schweiz zu gewährleisten. Die hohe Qualität der Bildung bildet die einzige Resource der Schweizer Wirtschaft, damit sie sich auf dem Weltmarkt weiterhin behaupten kann. Deshalb hat das Qualitätsziel auch den absoluten Vorrang. Harmonisierungsbestrebungen haben die Tendenz eine Einigung auf einem allgemein tieferen Niveau anzustreben, weil es einfacher durchgesetzt werden kann, als das allgemeine Niveau zu heben. Es ist aufgrund der pädagogischen Praxis unbestritten, dass der Fremdsprachenunterricht auf der Sekundarstufe eine höhere Qualität ermöglicht, als derjenige auf der Primarstufe. Auf der Sekundarstufe ist er effizienter, wirksamer und deshalb auch kostengünstiger. Pädagogische Ziele haben dazu geführt, dass der Fremdsprachenunterricht früher auf die Sekundarstufe beschränkt war. Den Fremdsprachenunterricht auf die Unterstufe zu verlegen, nur um eine Harmonisierung auf tieferem Niveau zu erreichen, würde dem Qualitätsziel der Bundesverfassung widersprechen und unserer Wirtschaft, Gesellschaft und notabene unseren betroffenen Kindern einen Bärendienst erweisen.
AntwortenLöschenEin bemerkenswerter Kommentar, der eine neue Argumentationsschiene öffnet! Vielen Dank!
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