13. Januar 2015

Juristenstreit um Primarfremdsprachen

Darf der Bund den Kantonen vorschreiben, dass diese zwei Fremdsprachen in der Primarschule zu unterrichten haben? Dieser Meinung ist Bernhard Ehrenzeller, Professor an der Universität St. Gallen. Nach ihm sind die verschiedenen Bestrebungen, eine Landessprache aus der Primarschule an die Sekundarstufe zu verschieben, rechtswidrig.




Ehrenzeller: Zwei Fremdsprachen an der Primarschule, Bild: www.parlament.gv.at

Bundeskompetenz ist keine Leerformel, NZZ, 13.1. von Bernhard Ehrenzeller



Am 21. Mai 2006 haben Volk und Stände mit überwältigendem Mehr die neue Bildungsverfassung angenommen. Ziel dieser Verfassungsrevision war es, einen koordinierten Bildungsraum Schweiz von hoher Qualität und Durchlässigkeit zu schaffen. Der Anstoss dazu kam von verschiedenen Kantonen, die den Bund auf dem Weg von Standesinitiativen aufforderten, insbesondere eine Verfassungsgrundlage für die Harmonisierung der Grundschule zu schaffen. Verschiedene parlamentarische Kreise wollten weitergehen und dem Bund eine eigentliche Grundsatzgesetzgebungskompetenz im Bildungswesen einräumen. Das hätte wohl, wie die Kantone eindringlich geltend machten, weitgehend das Ende der kantonalen Schulhoheit bedeutet. Den parlamentarischen Bildungskommissionen gelang es, den Interessenausgleich zwischen dem vorgebrachten Bundesinteresse an einer einheitlichen Grundsatzregelung im Bildungswesen und dem Interesse der Kantone an einer gesamtschweizerischen Harmonisierungslösung im Grundschulwesen zu finden: ein Kompromiss, der nun in Art. 61a ff. der Bundesverfassung (BV) verankert ist.
Grundsätzlich sind weiterhin die Kantone für das Schulwesen zuständig. Gleichzeitig verpflichtet die Bundesverfassung jedoch die Kantone, bestimmte Eckwerte des Schulwesens, die für das Schulsystem von Bedeutung sind, gesamtschweizerisch zu harmonisieren - so z. B. in Bezug auf die Schulpflicht, die Anerkennung von Abschlüssen oder die Dauer, Ziele und Übergänge der Bildungsstufen. Gelingt ihnen das nicht, sieht Art. 62 Abs. 4 BV vor, dass der Bund die notwendigen Vorschriften erlassen muss. Diese Bundeskompetenz ist demnach eine subsidiäre; sie kommt nur und nur so weit zum Tragen, als die Kantone ihrer Harmonisierungspflicht nicht oder nicht mehr nachkommen. Ob eine solche Notwendigkeit des Bundeshandelns gegeben ist, wird gegenwärtig in Bezug auf den Fremdsprachenunterricht an der Primarschule in den parlamentarischen Bildungskommissionen diskutiert.
Vor kurzem hat an dieser Stelle Bernhard Waldmann die Meinung vertreten, dass dem Bund die Kompetenz fehlen würde, wollte er den Unterricht in einer zweiten Landessprache auf Primarschulstufe vorschreiben (NZZ 26. 11. 14). Dies trifft meines Erachtens nicht zu. Unbestritten ist, dass es an sich Sache der Kantone ist, den Fremdsprachenunterricht an der Grundschule zu regeln. In Bezug auf den Fremdsprachenunterricht haben diese denn auch eine gesamtschweizerische Harmonisierungslösung verabschiedet - bereits mit dem Strategiebeschluss der schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) von 2004 wie auch mit Art. 4 des Harmos-Konkordates. Danach werden auf Primarschulstufe in der 3. bzw. in der 5. Klasse Englisch und eine zweite Landessprache unterrichtet, wobei die Einstiegssprache regional koordiniert wird. Am Ende der obligatorischen Schulzeit sollen in beiden Fremdsprachen gleichwertige Kompetenzen vorhanden sein.
Was kann der Bund tun, wenn einzelne Kantone «entharmonisieren» und in der Fremdsprachenfrage wieder den Alleingang beschreiten? Kann er sich auf die subsidiäre Bundeskompetenz von Art. 62 Abs. 4 BV stützen? Indirekt haben die eidgenössischen Räte diese Frage bei der Schaffung des Sprachengesetzes bereits eingehend diskutiert. Dabei hat sich die Meinung durchgesetzt, dass der Bund - entgegen dem ersten Nationalratsbeschluss - nicht zuständig ist, den Kantonen vorzugeben, dass die erste Fremdsprache eine Landessprache sein muss. Der Bund soll nicht eine eigene Sprachenregelung anstelle der Harmonisierungslösung der Kantone erlassen. Deshalb hat er sich in Art. 15 Abs. 3 des Sprachengesetzes darauf beschränkt, die Lösung der Kantone bundesrechtlich zu verankern. Damit hat der Bundesgesetzgeber die Kantone an ihre eigene Harmonisierungslösung, also an das Zweifremdsprachenkonzept auf Primarschulstufe, gebunden. Die parlamentarischen Voten zeigen unzweideutig, dass der hart errungene Kompromiss im Sprachengesetz nur deshalb möglich war, weil die Räte von der glaubwürdigen Umsetzung der Sprachenstrategie der Kantone ausgegangen sind.


Weichen nun Kantone von dieser gesamtschweizerischen Harmonisierungslösung ab, so bedeutet dies nicht, dass der Bund ermächtigt ist, den Fremdsprachenunterricht anstelle der Kantone zu regeln, also Anzahl und Reihenfolge der Fremdsprachen, Schuljahr, Stundenzahl und Kompetenzniveaus oder die Lehrpläne zu bestimmen. Doch wenn die Bundesverfassung den Bund als zuständig erklärt, die Ziele und Übergänge der Bildungsstufen festzulegen, so kann dies kaum anderes bedeuten, als dass ihm - im Fall des Misslingens der gesamtschweizerischen Harmonisierung - das Recht zusteht, die Ziele des Unterrichts auf den einzelnen Bildungsstufen vorzugeben. Darunter ist mehr zu verstehen als Strukturvorgaben mit nur allgemeinen, fachbereichsunabhängigen Zielumschreibungen pro Bildungsstufe. So hält der Kommissionsbericht zur Bildungsverfassung fest, dass der Bund mit Art. 62 Abs. 4 BV das Recht erhält, «notfalls selbständig den Hochschulzugang», also die inhaltlichen Anforderungen an den Maturitätsabschluss, zu regeln. Wieso bei diesem Verständnis der Bildungsverfassung dem Bund die Kompetenz fehlen sollte, bundesrechtlich zumindest vorzugeben, dass auf Primarschulstufe eine zweite Landessprache unterrichtet werden muss, ist schwer begründbar. Ihm diese Zuständigkeit abzustreiten hiesse, die subsidiäre Bundeskompetenz im Bildungsbereich zur Leerformel verkommen zu lassen.

2 Kommentare:

  1. Gemäss Art. 61a der Bundesverfassung haben Bund und Kantone eine hohe Qualität des Bildungsraumes Schweiz zu gewährleisten. Die hohe Qualität der Bildung bildet die einzige Resource der Schweizer Wirtschaft, damit sie sich auf dem Weltmarkt weiterhin behaupten kann. Deshalb hat das Qualitätsziel auch den absoluten Vorrang. Harmonisierungsbestrebungen haben die Tendenz eine Einigung auf einem allgemein tieferen Niveau anzustreben, weil es einfacher durchgesetzt werden kann, als das allgemeine Niveau zu heben. Es ist aufgrund der pädagogischen Praxis unbestritten, dass der Fremdsprachenunterricht auf der Sekundarstufe eine höhere Qualität ermöglicht, als derjenige auf der Primarstufe. Auf der Sekundarstufe ist er effizienter, wirksamer und deshalb auch kostengünstiger. Pädagogische Ziele haben dazu geführt, dass der Fremdsprachenunterricht früher auf die Sekundarstufe beschränkt war. Den Fremdsprachenunterricht auf die Unterstufe zu verlegen, nur um eine Harmonisierung auf tieferem Niveau zu erreichen, würde dem Qualitätsziel der Bundesverfassung widersprechen und unserer Wirtschaft, Gesellschaft und notabene unseren betroffenen Kindern einen Bärendienst erweisen.

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  2. Ein bemerkenswerter Kommentar, der eine neue Argumentationsschiene öffnet! Vielen Dank!

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