Schüleraustausch sollte obligatorisch werden, NZZ, 13.1. von Christophe Büchi
Jede Medaille hat zwei Seiten: Es könnte sein, dass das, was in den
letzten Monaten unter dem Titel «Schweizer Sprachenstreit» lief, auch positive
Folgen hat. Denn da offenbar eine Einigung in der Frage, welche Sprachen in der
Primarschule gelehrt werden sollten, schwer erreicht werden kann, sind in den
letzten Wochen auch in Bundesbern immer mehr Stimmen laut geworden, die den
Austausch von Schülern und Schülerinnen, Lehrlingen und nicht zuletzt auch des
Lehrpersonals massiv fördern und den Bund in die Pflicht nehmen wollen.
«Endlich», möchte man sagen. Denn es ist in der Tat höchste Zeit, dass in
diesem Bereich, über den viel gesprochen wird, der aber nach wie vor weitgehend
vom guten Willen von Einzelpersonen und einigen Stiftungen abhängt, etwas
Kühnes geschieht.
«Sprachenstreit», 2. Runde
Seit Monaten, ja seit Jahren und Jahrzehnten wird in der Schweiz über
die Frage debattiert, welche «Fremdsprachen» in der obligatorischen Schulzeit
gelehrt werden sollten. In den 1990er Jahren bildeten sich zwei Lager heraus:
ein Lager mit dem Kanton Zürich an der Spitze, das mit dem Englischen anfangen
will, und eine Gruppe von Kantonen, die nach wie vor am Primat der
Landessprachen festhalten wollen. Da man sich nicht einigen konnte, schlossen
die Kantone im Rahmen der EDK (Eidgenössische Konferenz der kantonalen
Erziehungsdirektoren) einen Kompromiss: Die Kantone sollten frei sein, die
Reihenfolge festzulegen, aber am Ende der obligatorischen Schulzeit sollte etwa
das gleiche Niveau in beiden Fremdsprachen erreicht werden. Zudem wurde
festgelegt, dass die erste Fremdsprache spätestens ab dem 3. Schuljahr und die
zweite ab dem 5. Schuljahr gelehrt werden sollte. Die Folge war eine
Zweiteilung des Landes. Während die welschen Kantone, das Tessin, Graubünden
und die Kantone der westlichen Deutschschweiz weiterhin mit einer zweiten
Landessprache beginnen, fangen die Kantone der Ostschweiz und der
Zentralschweiz sowie Zürich und Aargau mit Englisch an.
Damit könnte die Schweiz wohl leben, das Problem ist nur, dass in
mehreren «English first»-Kantonen massiv gegen den Französischunterricht auf
Primarstufe mobilgemacht wird. Nun wurden Volksinitiativen unter dem Titel
«Zwei Fremdsprachen sind zu viel» zwar in allen Kantonen, wo sie zur Abstimmung
gelangten (Schaffhausen, Thurgau, Zug, Zürich), abgelehnt. Aber in den letzten
Monaten zeigte es sich, dass die Front damit nur vorübergehend beruhigt war. Im
Thurgau beschloss das Kantonsparlament, den Französischunterricht auf die
Sekundarschule zu verschieben, in Nidwalden wird demnächst abgestimmt. Und eine
Reihe von anderen Kantonen könnte folgen.
Von Anhängern der Landessprachen wurden diese Kantone hart verurteilt.
Die nationale Kohäsion sei in Gefahr. Auch Bundesrat Alain Berset hat sich
eingeschaltet und angekündigt, dass der Bund einschreiten und kraft seiner
subsidiären Kompetenz in Bildungsfragen den Primat der Landessprachen
festschreiben könnte. Allerdings wird die Frage, ob er die rechtliche Kompetenz
dazu hat, unter Juristen kontrovers diskutiert. Wie auch immer: Eine Lösung des
Problems ist nicht in Sicht, zumindest nicht in naher Zukunft. Ohnehin wäre es
besser, man liesse den Kantonen noch Zeit, um eine einvernehmliche Lösung
auszuarbeiten, statt nach einer Intervention des Bundes zu rufen, bei der es
Sieger und Verlierer gäbe.
Das Grunddilemma in dieser Problematik besteht darin, dass auf zwei sehr
unterschiedlichen Ebenen diskutiert wird. Die Verteidiger der Landessprachen
argumentieren in erster Linie staatspolitisch: Sie weisen darauf hin, dass es
für ein offiziell viersprachiges Land gut sei, wenn möglichst viele Bürger und
Bürgerinnen möglichst viele Landessprachen sprächen. Und dass ein Zurückstufen
des Französischunterrichts für die stärkste der Minderheiten, die Romands, eine
bittere Pille wäre, kann ja schwerlich bezweifelt werden.
Die Gegner und Skeptiker bringen vor allem pädagogische Argumente ins
Spiel. Sie argumentieren, dass zwei Fremdsprachen in der Primarschule vor allem
die lernschwächeren Schüler übermässig belasteten. Auch das Argument, die Schule
sei ohnehin schon zu sprachenlastig, wird immer wieder in die Debatte geworfen.
Und schliesslich wird vorgebracht, es sei nicht entscheidend, wann mit einer
Fremdsprache begonnen werde, sondern wie intensiv der Unterricht sei. Mithin
sei es besser, mit Französisch später zu beginnen, dann aber recht, als früher,
aber nur tröpfchenweise. In diesem Punkt bekommen die Skeptiker aus
Wissenschaftskreisen mehr und mehr Sukkurs, nachdem lange Zeit das Axiom «je
früher anfangen, desto besser» vorherrschend gewesen ist. Überhaupt ist
fairerweise zu sagen, dass beide Lager sehr ernstzunehmende Argumente
vorbringen können. Es wäre deshalb auch nicht gut, die Diskussion mit einem
politischen Entscheid abzuwürgen.
Wie auch immer der «Sprachenstreit» ausgeht: Die nationale Kohäsion
hängt nicht vom Fremdsprachenunterricht in der Primarschule ab, darüber sollte
Einigkeit herrschen. Es wäre eine masslose Überforderung der Schule, wenn man
ihr neben allem anderen auch noch die Pflicht aufbürden wollte, für das gute
Einvernehmen zwischen den Sprachengruppen zu sorgen. Kohäsion ist definitiv
kein Schulfach.
Die Bildungsbehörden in den Kantonen Thurgau und Nidwalden versichern ja
auch, dass sie keineswegs die Notwendigkeit der Landessprachen infrage stellen
wollten und dass ihnen der Austausch zwischen den Landesteilen ein Anliegen
sei. Sie seien deshalb fest entschlossen, besonders auch den Schüleraustausch
zu fördern. Es gibt keinen Grund, diese Versicherungen als Lippenbekenntnisse
abzutun.
Das Erfreuliche ist aber, dass nun auch auf bundespolitischer Ebene der
Schüleraustausch endlich zu einem Thema wird und die Forderung im Raum steht,
dass neben den Kantonen auch der Bund massiv in den Austausch investieren
sollte. Natürlich ist es nicht so, dass bisher nichts geschehen wäre. Es gibt
viele interessante Austausch-Experimente. Aber diese sind bis jetzt weitgehend
der Initiative der Lehrpersonen und Schuldirektoren anheimgestellt, für die
dies meistens eine Zusatzbelastung darstellt. Mehr Unterstützung, auch
finanzielle, ist gefragt. Wenn man weiss, dass die ch-Stiftung in Solothurn,
die im Namen der Kantone den Austausch koordiniert, vom Bund jährlich gerade
etwas mehr als eine Million Franken bekommt, will man zwar nicht gerade das
zweifelhafte Wort «Peanuts» in den Mund nehmen, aber von einer grossen Kelle
kann wirklich nicht gesprochen werden. Zum Glück gibt es eine Reihe von
privaten Stiftungen wie die Oertli-Stiftung, die kräftig mitrudern. Aber bei
allem Respekt vor Subsidiaritätsprinzip und Milizsystem: Mehr staatliche Hilfe
wäre vonnöten.
Obligatorium nicht tabu
Damit aber der Schüleraustausch mehr als eine Minderheitenveranstaltung
wird, müsste ernsthaft die Frage eines Obligatoriums gestellt werden. Es ist
nicht abwegig zu verlangen, dass jeder Schweizer Schüler und jede Schweizer
Schülerin im Verlauf der obligatorischen Schulzeit eine Zeit in einem
anderssprachigen Gebiet verbringt und dafür finanziell unterstützt wird. Dass
dies mit einigem organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden wäre,
liegt auf der Hand. Aber letztlich gilt auch hier: «Für nüd git's nüd.» Der
Bund hat Geld auch schon dümmer ausgegeben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen