5. Januar 2015

Freie Schulwahl zwischen öffentlichen Schulen

Walter Herzog, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bern tritt Ende Januar in den Ruhestand. Zuvor äussert er sich noch einmal zu Schule und Bildung. Er postuliert eine freie Schulwahl zwischen öffentlichen Schulen, damit das Angebot einer Tagesschule geschaffen werden kann.



Herzog will vermehrt Ausstellungen und Konzerte besuchen und wieder mehr Musik machen, Bild: Adrian Moser


"Die freie Schulwahl ist eine Art Tabu", Bund, 5.1. von Mireille Guggenbühler





Seit 23 Jahren sind Sie Professor für Erziehungswissenschaft. Wie hat sich die Schule verändert in dieser Zeit?
Auf der institutionellen Ebene hat sich sehr viel verändert. Mitte Neunzigerjahre trat zum Beispiel das neue Maturitätsanerkennungsreglement für die Gymnasien in Kraft, dann kam die Berufsmaturität, und in diesem Zusammenhang wurden die Fachhochschulen eingerichtet. Auch das Berufsbildungsgesetz 2004 ist etwas ganz Wichtiges, das viel auslöste, etwa die Umwandlung der Diplom- in die Fachmittelschulen. Damit wurde ein dritter Maturitätstyp eingeführt, die Fachmatur. Auf der anderen Seite sind es vor allem die Heterogenität der Schüler, die Integration und die frühen Fremdsprachen sowie neue Unterrichtsformen, welche die Schule veränderten. Vieles davon wird bezeichnenderweise kontroverser diskutiert als die institutionellen Änderungen. Das zeigt, dass man den Kern der Schule nicht beliebig reformieren kann.
Was war die einschneidendste Veränderung für die Schulen?
Das ist die Bildungsexpansion. Anfang der 90er-Jahre lag die gymnasiale Maturitätsquote bei 13 Prozent, heute liegt sie bei rund 20 Prozent. Mit den Berufs- und Fachmaturitätsabschlüssen liegt sie noch höher, nämlich fast bei 36 Prozent.
Also nahe an den europäischen Maturitätsquoten?
Nicht ganz. Trotzdem: Wir haben es praktisch mit einer Verdreifachung der Quote innerhalb von 25 Jahren zu tun. Wenn man die Rechnung weiterführt, sieht man, dass sich die Verhältnisse an den Hochschulen ähnlich veränderten. In den Neunzigerjahren hatten wir 86'000 Studierende an Universitäten, heute 230'000 an Universitäten, Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen. Das ist praktisch wiederum eine Verdreifachung. Ich betone dies deshalb, weil wir ja aktuell eine Diskussion führen um die Frage, ob wir nicht zu wenig Gymnasiasten und Hochschulabgänger haben. Die Diskussion wird den Fakten nicht immer gerecht.
Das heisst, wir haben genügend Hochschulabgänger?
Wenn ich die Daten der tertiären Ausbildung insgesamt betrachte, also auch noch die höhere Berufsbildung dazunehme, finde ich dies durchaus.
Sie machen sich also für die Berufslehre stark?
Auf jeden Fall.
Damit liegen Sie ganz auf der Linie von Ex-SP-Nationalrat und Bildungspolitiker Rudolf Strahm.
Nur teilweise. Er ist mir in dieser Frage manchmal etwas zu extrem. Ich finde es falsch, wenn man die beruflichen und schulischen Bildungswege gegeneinander ausspielt.
Welchen Zweck hat die Volksschule eigentlich: abrufbares Wissen zu vermitteln oder die Kinder zu bilden?
Ich möchte Wissen und Bildung nicht als Gegensatz verstehen. Der Unterschied ist vielleicht der: Wissen kann man sich oberflächlich aneignen, Bildung betrifft immer die eigene Person. Wer sich bildet, setzt sich mit Ungewohntem auseinander, Bildung fordert auf zum Nachdenken und schafft dadurch Identität. Der deutsche Philosoph Georg Friedrich Hegel sprach von der Umkehrung des Bewusstseins. Das finde ich treffend. Ich finde schon, dass es zur Kernaufgabe der Schule gehört, die Kinder zu bilden.
Bildet die Volksschule denn überhaupt noch?
Das ist eine wichtige Frage, die nicht nur die Volksschule, sondern auch das Gymnasium betrifft. Die Stundenpläne sind zum Teil ziemlich überladen, sodass wenig Zeit bleibt für anderes als Wissensvermittlung. Grundsätzlich hätte die Schule aber die Chance, die Schüler auch zu bilden. Auswendiglernen ist nicht die Idee von Bildung.
Auswendiglernen gehört aber immer noch an vielen Schulen zum Standardlernprogramm.
Das ist aktuell auch ein Problem der Hochschulen mit dem Bologna-System. Dabei wird ja sehr genau vorgegeben, was man wissen und können muss. Das finde ich schon etwas problematisch. Auf der Stufe der Volksschule hat man eher noch die Möglichkeit, über das reine Auswendiglernen hinauszugehen. Die Lehrerausbildung ist diesbezüglich sehr wichtig. Dabei wird vermittelt, was ein guter Unterricht ist, der auch zu bilden vermag.
Und was macht guten Unterricht und eine gute Lehrperson aus?
Das Fachwissen der Lehrperson und ihre Fähigkeit, das Wissen verständlich zu vermitteln, sind sicher zentral. Daneben ist die Klassenführung ein wichtiger Punkt. Ein Lehrer, der mit der sozialen Dynamik in einer Klasse nicht zurechtkommt, ist für den Beruf nicht geeignet. Dann gibt es eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen, die einen guten Lehrer ausmachen und von Schülern in entsprechenden Studien oft genannt werden: So ist Geduld sehr wichtig; ein ungeduldiger Lehrer ist etwas sehr Mühsames. Toleranz ist auch wichtig. Humor wird oft genannt, denn mit Humor kann man schwierige Situationen entspannen. Und dann stellt auch die Gerechtigkeit ein wichtiges Merkmal eines guten Lehrers dar. Insbesondere was Noten­gebung und Beurteilung anbelangt.
Gibt es denn eine gerechte Noten­gebung?
Da stellt sich die Frage, was ist gerecht? Das eine ist, dass man Gleiches gleich behandelt. Auf der anderen Seite gibt es Studien, die zeigen, dass Lehrer dazu neigen, einen mässig begabten Schüler besser zu bewerten, wenn er sich in einer Situation speziell angestrengt hat. Ich finde das durchaus auch gerecht.
Die Notengebung ist beim Lehrplan 21 umstritten. Kann man Kompetenzen beurteilen?
Das ist eine schwierige Frage. Man wird die Notengebung kaum aufheben können.
Warum nicht?
Die Schule hat die Aufgabe, die Leistungen der Schüler zu beurteilen, das gehört zum Lernprozess. Man kann allenfalls über die Art der Beurteilung diskutieren, aber kaum über die Folgen daraus, etwa die Selektion. Das Problem jener Schulen, die nicht selektiv sind, ist, dass die Selektion, die dann nach der Schulzeit stattfindet, umso unerbittlicher ist. Finnland zum Beispiel kennt die Selektion nicht, über 90 Prozent der Schüler kommen bis zur Matura, danach schaffen aber nur 50 Prozent den Sprung an eine Hochschule.
Wie wird denn die Schule von morgen aussehen?
Grundsätzlich nicht viel anders als heute. Ich frage mich höchstens, was uns der Lehrplan 21 mit seiner Kompetenzorientierung bringen wird.
Sie sind ein Kritiker dieses Lehrplans, der nun in abgespeckter Form vorliegt. Sind Sie nun zufrieden damit?
Qualitativ wurde nicht viel verändert, nur quantitativ. Noch heute ist nicht klar, was mit Kompetenzorientierung genau gemeint ist. Behauptet wird, es sei eine Verbindung von Wissen und Können, das ist aber trivial. Vieles im Leben ist eine Verbindung von Wissen und Können, und wenn man das als Zielsetzung der Schule nimmt, ist schwer zu erkennen, was daran neu sein soll.
Sie kritisieren auch, dass die Kompetenzorientierung eigentlich ein Modell aus der Wirtschaft ist und in der Schule nichts verloren hat.
Mich stört vor allem das funktionalistische Bildungsverständnis. Die Schule wird von den Bedürfnissen der Wirtschaft her gedacht. Das ist zwar nicht grundsätzlich falsch, aber es ist ein anderer Ansatz, als wenn man von Bildung für das Individuum ausgeht. Mindestens so problematisch finde ich, wenn man Denkmodelle aus der Wirtschaft übernimmt. Wenn man von Input und Output spricht, von Effektivität und Effizienz. Man unterstellt, die Schule könne wie ein Industriebetrieb funktionieren. Doch so funktioniert die Schule nicht.
Weshalb funktioniert das nicht?
Weil man es mit Kindern zu tun hat, die sich selber bilden und selber lernen müssen. Die Schule gibt nur den Anreiz, die Anregung dazu. Bei den Input-Output-Modellen besteht die Gefahr, dass man die Lehrer von A bis Z dafür verantwortlich macht, was die Schüler am Ende können. In den USA ist es schon so weit, dass man Lehrern den Lohn kürzt, wenn der sogenannte Output der Schüler nicht stimmt.
Kann man die Leistung von Lehrern wirklich nicht messen?
Man kann sicher feststellen, ob ein Lehrer gut oder schlecht ist. Aber nicht, indem man die Schülerleistungen als Massstab nimmt, sondern indem man beobachtet, wie er unterrichtet.
Sie haben sich auch mit den Tagesschulen befasst und ein Buch dazu geschrieben. Entsprechen die Tagesschulen im Kanton Bern den Möglichkeiten, die diese hätten?
Das Problem ist, dass das, was im Kanton Bern, aber auch in anderen Kantonen als Tagesschule bezeichnet wird, eigentlich ein Betreuungsangebot ist. Das ist auch im Volksschulgesetz ausdrücklich so formuliert. Es ist natürlich wichtig, dass es solche Betreuungsangebote gibt. Dabei denkt man aber von den Eltern aus. Im pädagogischen Sinn wäre eine Tagesschule eine Schule, in welcher alle Schüler ganztags da sind und nicht nur punktuell nach den Bedürfnissen der Eltern. Der Vorteil einer pädagogischen Tagesschule besteht darin, dass man die Kinder gezielter fördern kann über den Unterricht hinaus. Und zwar schwächere wie speziell begabte Kinder.
Das würde bedeuten, in einer pädagogischen Tagesschule wären alle Kinder fünf Tage ganztags da?
Genau, und das bringt man politisch nicht durch. Meine Idee wäre daher, dass man in Städten wie Bern, Thun oder Biel, in welchen es mehrere Schulen gibt, in einem beschränkten Rahmen eine freie Schulwahl einführen würde.
Das ist aber sehr revolutionär.
Ich weiss, die freie Schulwahl stellt in der Schweiz eine Art Tabu dar. Ich meine aber nicht eine freie Schulwahl mit privaten Schulen und einem Bildungsmarkt, sondern eine freie Schulwahl zwischen öffentlichen Schulen. Eine davon könnte eine pädagogische Tagesschule sein.
Sie haben eine öffentliche Stellungnahme einiger Wissenschaftler mitunterzeichnet, sie heisst «Stopp der Reformhektik». Weshalb?
Viele Schulreformen in der Schweiz sind nicht koordiniert, oft nicht wissenschaftlich begründet, finden nur punktuell statt und werden zu wenig sorgfältig evaluiert, deshalb habe ich den Aufruf unterschrieben. Ein weiterer Grund ist, dass uns zurzeit eine gesamtschweizerische Bildungsstrategie fehlt.
Es gibt den Lehrplan 21.
Ja, aber der ist erstens keine Gesamtstrategie und beschränkt sich zweitens auf die deutsche Schweiz. Unsere Überlegung war, eine Diskussion über das Bildungswesen insgesamt anzustossen mit der Stellungnahme.
Vielleicht schreiben Sie ja ein Buch zum Thema, wenn Sie Ende Januar aufhören – was sind Ihre Pläne?
Ich bin mir noch etwas unschlüssig, ob ich ein weiteres Buch schreiben will. Das ist immer etwas aufwendiger, als Fachartikel zu verfassen. Einige solche werde ich aber sicher noch schreiben, zudem habe ich noch ein Forschungsprojekt am Laufen. Danach will ich aber wieder mehr reisen, Ausstellungen und Konzerte besuchen und auch selber wieder etwas mehr Musik machen. Langweilig wirds mir vermutlich nicht.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen