Arme Sprache, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.1. von Heike Schmoll
Jeder kennt die
traumatischen Szenen des Schreibenlernens: ein m mit zwei Bögen, von denen der
letzte mit schöner Regelmäßigkeit entgleitet. Generationen von Grundschülern
haben ihre Erfahrungen mit Bögen und Häkchen gemacht. Davon hat sich nicht nur
Hamburg verabschiedet. In immer mehr Grundschulen wird die Druckschrift nicht
nur als erste, sondern als einzige Schrift gelernt, obwohl die
Kultusministerkonferenz daran festhält, dass am Ende der vierten Klasse eine
flüssige, lesbare Handschrift geschrieben werden soll.
Propagiert wurde die
Neuerung vom einflussreichen Grundschulverband, der weniger eine
Interessenvertretung ist als eine Lobbygruppe mit kommerziellen Absichten.
Nicht zufällig vertreibt der Verband, der für das von ihm selbst beklagte
Schreibchaos in Deutschlands sechzehn Ländern erst gesorgt hat, das zugehörige
Lernmaterial. Der Arbeitskreis Grundschule, aus dem der Grundschulverband
hervorging, hat der Lateinischen Ausgangsschrift, die 1941 von den
Nationalsozialisten im Westen eingeführt worden war, in den siebziger Jahren
eine vereinfachte Ausgangsschrift hinzugefügt. Der erwartete Durchbruch blieb
aus, weil sie etabliert worden war, ohne vorher auf ihre Lerneffekte zu achten.
Vier
unterschiedliche Schriften
So ist es auch mit der
jetzt vom Grundschulverband propagierten Grundschrift, einer Druckschrift mit
wenigen Verbindungen zwischen den einzelnen Buchstaben. Es gibt bisher keine
oder nur unzureichende Erkenntnisse darüber, mit welcher Schrift Kinder besser
Schreiben und Lesen lernen. Überzeugt hat der Verband Lehrer und Eltern sowie
Politik und viele zeitgeistanfällige Erziehungswissenschaftler mit demselben
fadenscheinigen Argument, mit dem auch die Rechtschreibreform
Grundschüler in
Deutschland lernen vier unterschiedliche Schriften. Denn in den ostdeutschen
Ländern wird häufig weiter die Schrift gelehrt, die 1968 von der DDR eingeführt
wurde. Im Westen beginnen viele Grundschulen mit Druckschrift, um dann in der
zweiten und dritten Klasse mit der Schreibschrift fortzufahren. Doch es gibt
nicht einmal ländereinheitliche Regelungen, jede Schule, jede Schulkonferenz,
ja, jeder Grundschullehrer entscheidet ganz nach Gusto.
Aufsehen erregt jetzt der
Beschluss Finnlands, nur noch Druckbuchstaben zu lernen - und das Tippen auf
Tastaturen. Wer Schreibschrift unterrichten will, kann das weiter tun, aber
wichtiger ist es den Finnen, Virtuosität auf iPad und Computer zu entwickeln.
Selbst die Schweiz verabschiedet gerade die Schnürlischrift, wie dort die
Schreibschrift genannt wird. Die Begründungen lauten überall ähnlich: Das sei
eine Erleichterung.
Die
Kultusminister drücken sich
Spätestens seit den
siebziger Jahren hätte es die Gelegenheit gegeben, zu untersuchen, ob das
wirklich stimmt und welche Schriftart sich wie auf das Lernen auswirkt. Aber
darauf wurde verzichtet. Der Deutsche Lehrerverband versucht jetzt wenigstens
in einer Umfrage herauszufinden, wo Grundschullehrer und Lehrer weiterführender
Schulen die Schwierigkeiten mit dem Schreibchaos sehen und wie mögliche Lösungen
aussehen könnten. CDU und FDP haben in Nordrhein-Westfalen eine Anhörung zum
Schreibunterricht in der Grundschule im Landtag beantragt, weil der Bericht des
dortigen Kultusministeriums zur Schreibfertigkeit einfach zu dürftig
ausgefallen war. Nicht nur dort drückt sich das Kultusministerium um
Erkenntnisse über Schreibfertigkeit oder gar orthographische Fähigkeiten ihrer
Schüler. Darin zeigt sich eine erschreckende Geringschätzung von Sprache. Die
äußert sich auch darin, dass in der Grundschule das Schreiben nach Aussprache
gelernt wird, dass der obligatorische Wortschatz für Grundschüler gekürzt wurde
und dass ausgerechnet beim Deutschunterricht gespart werden soll.
Dass die Schreibschrift
nicht nur ein Relikt aus den Tagen handgeschriebener Briefe und Tagebücher ist,
offenbart sich in französischen und amerikanischen Studien. Sie belegen, dass
Kinder, die flüssig mit der Hand schreiben, andere und mehr Hirnareale
aktivieren als beim Tippen einzelner Buchstaben. In Kanada und den Vereinigten
Staaten haben Studien gezeigt, dass Schüler mit einer Verbundschrift sich Texte
besser merken und ihren Sinn besser erfassen können. Stutzig macht auch, dass
Studenten, die mit der Hand mitschreiben, erwiesenermaßen besser lernen, als
wenn sie ihre Notizen in den Computer tippen.
Offenbar gibt es auch
Indizien dafür, dass Kinder beim Erlernen einer verbundenen Handschrift
leichter Lesen lernen. Denn das Schreiben mit der Hand ist gerade in der
Anfangsphase des Lernens ein Prozess, bei dem nicht einzelne Buchstaben isoliert
verschriftet werden, sondern sprachliche Einheiten, die Silben und Morphemen
entsprechen. Gute Schreiber rhythmisieren entlang von Silben, während schwache
Schreiber keinen Rhythmus finden und nur den einzelnen Buchstaben sehen.
Verbundene Schriften machen sprachliche Einheiten besser lernbar. Es wäre Sache
der Kultusminister, das deutsche Erkenntnisdefizit zu beheben und eine
einheitliche Ausgangsschrift zu beschließen. Sonst werden weiterhin
einflussreiche Lobbyisten ihre Propaganda in die Schulen tragen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen