15. Dezember 2014

Umstrittene Integration

Behinderte Kinder sollen ihre Schulzeit möglichst in Regelschulen absolvieren. Aber diese Art der Inklusion ist umstritten - pädagogisch, politisch, ökonomisch und philosophisch.
Angst-Thema Inklusion, NZZ, 15.12. von Jenni Roth


Manchmal muss es ein weisses Tischtuch sein, und plötzlich ist die Mathe-Aufgabe ganz leicht. Zumindest für Dominik, zehn Jahre, Schüler mit Asperger-Syndrom an einem Gymnasium in einem Ort in Sachsen-Anhalt. Nachdem der Knabe wochenlang in den Schulstunden scheinbar grundlos herumgekaspert und die anderen gestört hatte, kamen Klassenlehrerin und Beratungslehrer auf die Idee mit dem Tuch. Es funktionierte. Dominik hörte auf zu brüllen und löste alle Aufgaben ohne Fehler.
Der Tischtuchfall ist ein gelungenes Beispiel von Inklusion, ein ebenso aktuelles wie umstrittenes Thema. Kürzlich sorgte der Fall des elfjährigen Henri aus dem württembergischen Walldorf für Schlagzeilen: Die Eltern wollten den Jugendlichen mit dem Langdon-Down-Syndrom aufs Gymnasium schicken, doch die Schule verweigerte die Aufnahme. Auch eine Realschule lehnte ab. Der Fall erregte die Gemüter: Wo beginnt Inklusion - und wo sind ihre Grenzen?
Rigoroser Egalitarismus
«Inklusion ist ein Angst-Thema», sagt Gunnar Melow, Sonderpädagoge an einer Schule für Hörbehinderte in Halle und erfahren in Sachen Inklusion: 18 Stunden pro Woche unterrichtet und berät er an normalen Schulen und unterstützt dort im gemeinsamen Unterricht behinderte Kinder. Er beobachtet, dass das Thema emotional aufgeladen ist - nicht nur unter Lehrern. Dabei geht es um die ganz grossen Fragen: Ist unsere Schulkultur noch zeitgemäss? Leben wir in einer Elitekultur, wie steht es um unsere Toleranz? Wem nützt Inklusion, wem eine «Ausgrenzung»?
Schon die Definition von Inklusion ist nicht einfach. Dass sie meist nur in Verbindung mit Behinderten gedacht wird, hat fast schon Tradition. Genauso geht es aber um Migranten- oder Flüchtlingskinder, um Kinder aus Problemhaushalten - oder um Hochbegabte. Der Grundgedanke dazu klingt gut: Alle Kinder gehen gemeinsam in eine Klasse, profitieren von den Stärken der anderen und lernen somit nicht nur Schulstoff, sondern auch Verständnis und Toleranz.
«Inklusion ist weltfremd und behindertenfeindlich. Sie lähmt den Schulbetrieb und macht die Behinderten zu Objekten von Spott und Mobbing», sagt der Berliner Wirtschaftsphilosoph Gerd Habermann. Die derzeitige Ideologie eines rigorosen Egalitarismus ist laut Habermann der einzige Grund für die Inklusionsanstrengungen: Alle Wertunterschiede sollen abgeschafft werden.
Dabei ist eines klar: Es geht nicht um Wollen oder Nichtwollen. In Deutschland gilt seit 2009 die Uno-Behindertenrechtskonvention, die besagt, dass Behinderte einen gleichberechtigten Zugang zu einem inklusiven hochwertigen Schulsystem haben. «Inklusion ist eine Aufgabe aller Schularten», sagt Ute Erdsiek-Rave, ehemalige Bildungsministerin Schleswig-Holsteins und Vorsitzende des Expertenkreises zur inklusiven Bildung der deutschen Unesco-Kommission: «In einem inklusiven System wird nicht das einzelne Kind geprüft, ob es in eine Schule passt, sondern die Schule stellt sich auf Vielfalt und Heterogenität ein.» Tatsächlich haben viele Länder ihre Schulgesetze geändert, der Unterricht in den Regelschulen wird angepasst. In Berlin besuchen 58 Prozent der Förderbedürftigen eine Regelschule.
Doch noch ist die deutsche Realität weit von den Vorgaben entfernt: Nur 5,5 Prozent der Schüler mit Förderbedarf besuchen ein reguläres Gymnasium, 4,3 Prozent eine Realschule. Liegt der Inklusionsanteil im Kindergarten noch bei 67 Prozent, schrumpft er laut einer Bertelsmann-Studie in der Grundschule auf 39 Prozent. «Wir sind mit Belgien das europäische Schlusslicht bei der Inklusion», sagt Erdsiek-Rave. «Drei Viertel der Förderschüler haben nicht einmal den Hauptschulabschluss.»
Auch das beste Gesetz nützt also ohne die nötigen Rahmenbedingungen nicht viel. Gerade erst hat eine Gruppe Berliner Grundschulleiter in einem Brandbrief an die Bildungssenatorin vor einem Scheitern der Inklusion gewarnt. Denn während in Berlin die Zahl der förderbedürftigen Kinder steigt, sind die Mittel für Inklusion seit Jahren gleich geblieben. Rund 5000 Schüler bekommen nicht die Förderung, die ihnen zusteht. Aber Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif. Die zuständige Unesco-Kommission hat ausgerechnet, dass bundesweit 550 Millionen Euro pro Jahr investiert werden müssen, um den Rechtsanspruch der Uno-Konvention zu gewährleisten. Langfristig erwartet die Kommission aber Einsparungen, weil Sonderschulen verschwinden.
«Man darf aber Inklusion nicht zum Geldsparmodell machen», sagt Sonderpädagoge Melow. Viele Eltern und Sonderpädagogen hätten den Eindruck, dass unter dem Deckmantel der Inklusion vor allem gespart werden soll - denn Förderschulen sind teuer. Melows Vorschlag: Würde etwa ein behindertes Kind in der Finanzplanung vierfach gezählt, würde die Klassengrösse schrumpfen. Davon würden alle Kinder profitieren - und die Eltern der Nichtbehinderten würden alles dafür tun, ihr Kind in diese Klasse zu schicken.
Aber auch alles Geld der Welt würde nicht die Ängste abschaffen, die die Inklusion bremsen: Eltern haben ebenso grosse Bedenken wie Lehrer, Schulleiter oder Politiker. Als Lehrer an einer Sonderschule glaubt Gunnar Melow aber, dass förderbedürftige Kinder nur im inklusiven System höhere Bildungsabschlüsse erreichen. Schulleiter wiederum sähen die Heterogenisierung zwar oft als Chance, scheuten aber einen erhöhten Planungsaufwand.
Um Inklusion zu befördern, nimmt der Berliner Senat zusätzliches Geld in die Hand, um die Lehrer weiterzubilden. «Die Ausbildung muss sich auf Heterogenität einstellen», sagt Erdsiek-Rave. Das gilt auch für Sonderschullehrer, die um ihre Daseinsberechtigung fürchten. Und Wirtschaftsphilosoph Habermann gibt zu bedenken: «Separierung findet durch spezielle Förderung auch an Regelschulen statt.»
Cui bono?
Oft sind es Eltern behinderter Kinder, die für den Erhalt von Förderschulen kämpfen, weil sie mangelnde Förderung fürchten. Die Eltern der «normalen» Klassenkameraden wiederum fürchten einen Leistungsabfall. «Dabei gibt es ja längst in allen Klassen verschiedene Niveaus - auch wenn die Kinder gleich alt sind», sagt Mario Dobe, Projektleiter Inklusion in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft: «Unterricht für heterogene Gruppen ist möglich, man muss nur die Techniken kennen.»

Aber ist es überhaupt im Interesse des Kindes, in eine Regelschule zu gehen, wo es über kurz oder lang eine Enttäuschung erfährt? Einschlägige Studien belegen, dass Kinder mit Förderbedarf an einer Regelschule höhere Leistungen aufweisen als in Förderschulen und dass in heterogenen Klassen alle Kinder voneinander lernen, Empathie und Toleranz entwickeln. Weiterführende Schulen sollten keine reinen Lehranstalten sein, es gehe ebenso um die Vermittlung sozialer Kompetenzen, glauben die Befürworter. «In der Schule sollen die Kinder nicht lernen, mit Behinderten umzugehen», sagt dagegen Habermann. «Hier sollen sie den Schulstoff lernen, um hinterher einen Job zu bekommen und so mit ihren Steuermitteln Förderprogramme für Behinderte zu finanzieren.»

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