Angst-Thema Inklusion, NZZ, 15.12. von Jenni Roth
Manchmal muss es ein weisses Tischtuch sein, und
plötzlich ist die Mathe-Aufgabe ganz leicht. Zumindest für Dominik, zehn Jahre,
Schüler mit Asperger-Syndrom an einem Gymnasium in einem Ort in Sachsen-Anhalt.
Nachdem der Knabe wochenlang in den Schulstunden scheinbar grundlos
herumgekaspert und die anderen gestört hatte, kamen Klassenlehrerin und
Beratungslehrer auf die Idee mit dem Tuch. Es funktionierte. Dominik hörte auf
zu brüllen und löste alle Aufgaben ohne Fehler.
Der Tischtuchfall ist ein gelungenes Beispiel von
Inklusion, ein ebenso aktuelles wie umstrittenes Thema. Kürzlich sorgte der
Fall des elfjährigen Henri aus dem württembergischen Walldorf für Schlagzeilen:
Die Eltern wollten den Jugendlichen mit dem Langdon-Down-Syndrom aufs Gymnasium
schicken, doch die Schule verweigerte die Aufnahme. Auch eine Realschule lehnte
ab. Der Fall erregte die Gemüter: Wo beginnt Inklusion - und wo sind ihre
Grenzen?
Rigoroser Egalitarismus
«Inklusion ist ein Angst-Thema», sagt Gunnar Melow,
Sonderpädagoge an einer Schule für Hörbehinderte in Halle und erfahren in
Sachen Inklusion: 18 Stunden pro Woche unterrichtet und berät er an normalen
Schulen und unterstützt dort im gemeinsamen Unterricht behinderte Kinder. Er
beobachtet, dass das Thema emotional aufgeladen ist - nicht nur unter Lehrern.
Dabei geht es um die ganz grossen Fragen: Ist unsere Schulkultur noch
zeitgemäss? Leben wir in einer Elitekultur, wie steht es um unsere Toleranz?
Wem nützt Inklusion, wem eine «Ausgrenzung»?
Schon die Definition von Inklusion ist nicht
einfach. Dass sie meist nur in Verbindung mit Behinderten gedacht wird, hat
fast schon Tradition. Genauso geht es aber um Migranten- oder
Flüchtlingskinder, um Kinder aus Problemhaushalten - oder um Hochbegabte. Der
Grundgedanke dazu klingt gut: Alle Kinder gehen gemeinsam in eine Klasse,
profitieren von den Stärken der anderen und lernen somit nicht nur Schulstoff,
sondern auch Verständnis und Toleranz.
«Inklusion ist weltfremd und behindertenfeindlich.
Sie lähmt den Schulbetrieb und macht die Behinderten zu Objekten von Spott und
Mobbing», sagt der Berliner Wirtschaftsphilosoph Gerd Habermann. Die derzeitige
Ideologie eines rigorosen Egalitarismus ist laut Habermann der einzige Grund
für die Inklusionsanstrengungen: Alle Wertunterschiede sollen abgeschafft
werden.
Dabei ist eines klar: Es geht nicht um Wollen oder
Nichtwollen. In Deutschland gilt seit 2009 die Uno-Behindertenrechtskonvention,
die besagt, dass Behinderte einen gleichberechtigten Zugang zu einem inklusiven
hochwertigen Schulsystem haben. «Inklusion ist eine Aufgabe aller Schularten»,
sagt Ute Erdsiek-Rave, ehemalige Bildungsministerin Schleswig-Holsteins und
Vorsitzende des Expertenkreises zur inklusiven Bildung der deutschen
Unesco-Kommission: «In einem inklusiven System wird nicht das einzelne Kind
geprüft, ob es in eine Schule passt, sondern die Schule stellt sich auf
Vielfalt und Heterogenität ein.» Tatsächlich haben viele Länder ihre
Schulgesetze geändert, der Unterricht in den Regelschulen wird angepasst. In
Berlin besuchen 58 Prozent der Förderbedürftigen eine Regelschule.
Doch noch ist die deutsche Realität weit von den
Vorgaben entfernt: Nur 5,5 Prozent der Schüler mit Förderbedarf besuchen ein
reguläres Gymnasium, 4,3 Prozent eine Realschule. Liegt der Inklusionsanteil im
Kindergarten noch bei 67 Prozent, schrumpft er laut einer Bertelsmann-Studie in
der Grundschule auf 39 Prozent. «Wir sind mit Belgien das europäische
Schlusslicht bei der Inklusion», sagt Erdsiek-Rave. «Drei Viertel der
Förderschüler haben nicht einmal den Hauptschulabschluss.»
Auch das beste Gesetz nützt also ohne die nötigen
Rahmenbedingungen nicht viel. Gerade erst hat eine Gruppe Berliner
Grundschulleiter in einem Brandbrief an die Bildungssenatorin vor einem
Scheitern der Inklusion gewarnt. Denn während in Berlin die Zahl der
förderbedürftigen Kinder steigt, sind die Mittel für Inklusion seit Jahren
gleich geblieben. Rund 5000 Schüler bekommen nicht die Förderung, die ihnen
zusteht. Aber Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif. Die zuständige
Unesco-Kommission hat ausgerechnet, dass bundesweit 550 Millionen Euro pro Jahr
investiert werden müssen, um den Rechtsanspruch der Uno-Konvention zu
gewährleisten. Langfristig erwartet die Kommission aber Einsparungen, weil
Sonderschulen verschwinden.
«Man darf aber Inklusion nicht zum Geldsparmodell
machen», sagt Sonderpädagoge Melow. Viele Eltern und Sonderpädagogen hätten den
Eindruck, dass unter dem Deckmantel der Inklusion vor allem gespart werden soll
- denn Förderschulen sind teuer. Melows Vorschlag: Würde etwa ein behindertes
Kind in der Finanzplanung vierfach gezählt, würde die Klassengrösse schrumpfen.
Davon würden alle Kinder profitieren - und die Eltern der Nichtbehinderten
würden alles dafür tun, ihr Kind in diese Klasse zu schicken.
Aber auch alles Geld der Welt würde nicht die
Ängste abschaffen, die die Inklusion bremsen: Eltern haben ebenso grosse
Bedenken wie Lehrer, Schulleiter oder Politiker. Als Lehrer an einer
Sonderschule glaubt Gunnar Melow aber, dass förderbedürftige Kinder nur im
inklusiven System höhere Bildungsabschlüsse erreichen. Schulleiter wiederum
sähen die Heterogenisierung zwar oft als Chance, scheuten aber einen erhöhten
Planungsaufwand.
Um Inklusion zu befördern, nimmt der Berliner Senat
zusätzliches Geld in die Hand, um die Lehrer weiterzubilden. «Die Ausbildung
muss sich auf Heterogenität einstellen», sagt Erdsiek-Rave. Das gilt auch für
Sonderschullehrer, die um ihre Daseinsberechtigung fürchten. Und
Wirtschaftsphilosoph Habermann gibt zu bedenken: «Separierung findet durch
spezielle Förderung auch an Regelschulen statt.»
Cui bono?
Oft sind es Eltern behinderter Kinder, die für den
Erhalt von Förderschulen kämpfen, weil sie mangelnde Förderung fürchten. Die
Eltern der «normalen» Klassenkameraden wiederum fürchten einen Leistungsabfall.
«Dabei gibt es ja längst in allen Klassen verschiedene Niveaus - auch wenn die
Kinder gleich alt sind», sagt Mario Dobe, Projektleiter Inklusion in der
Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft: «Unterricht für
heterogene Gruppen ist möglich, man muss nur die Techniken kennen.»
Aber ist es überhaupt im Interesse des Kindes, in
eine Regelschule zu gehen, wo es über kurz oder lang eine Enttäuschung erfährt?
Einschlägige Studien belegen, dass Kinder mit Förderbedarf an einer Regelschule
höhere Leistungen aufweisen als in Förderschulen und dass in heterogenen
Klassen alle Kinder voneinander lernen, Empathie und Toleranz entwickeln.
Weiterführende Schulen sollten keine reinen Lehranstalten sein, es gehe ebenso
um die Vermittlung sozialer Kompetenzen, glauben die Befürworter. «In der
Schule sollen die Kinder nicht lernen, mit Behinderten umzugehen», sagt dagegen
Habermann. «Hier sollen sie den Schulstoff lernen, um hinterher einen Job zu
bekommen und so mit ihren Steuermitteln Förderprogramme für Behinderte zu
finanzieren.»
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