23. Dezember 2014

Die Chimäre des individualisierten Unterrichs

Der folgende Text von Rainer Werner ist schon zwei Jahre alt. Dennoch habe ich mich für eine Veröffentlichung entschieden, weil es in unserem Land noch immer nicht zu einer Debatte gekommen ist über Sinn und Unsinn dieser Unterrichtsform. Sehe ich zu schwarz, wenn ich behaupte, dass in der Regel Individualisierung und selbstorganisiertes Lernen als fortschrittlich angesehen wird? Der Autor stellt sich auf den Standpunkt, dass zu einem vernünftigen Lernprozess der intellektuelle Austausch aller Schüler gehört. Und ein guter Lehrer.



Individualisierung suggeriert strahlende Kinder, Bild: individualisierter-unterricht.com

Die Einheitsschule ist pädagogische Romantik, Die Welt, 26.12.12 von Rainer Werner



Wenn die "Bertelsmann Stiftung" eine neue Studie vorstellt, kann man darauf wetten, dass sie die Gebrauchsanweisung, wie man die von ihr attestierten Bildungsdefizite beheben kann, gleich mitliefert. Es läuft immer auf dieselbe Therapie hinaus: auf individualisiertes, selbstverantwortliches Lernen der Schüler (Link: http://www.welt.de/themen/gymnasium/) . Darunter versteht man das Unterrichtsprinzip, bei dem jeder Schüler entsprechend seinem persönlichen Leistungsvermögen individuell gefördert wird.
Die Individualisierung des Lernens kam auf, als die Befürworter der Einheitsschule feststellten, dass in den extrem heterogenen Lerngruppen ein normaler Klassenunterricht nicht mehr möglich ist. In der Gemeinschaftsschule werden Hauptschüler und Gymnasiasten gemeinsam unterrichtet. Selbst der pädagogische Laie kann sich ausmalen, was das für den Unterricht bedeutet.
In Deutsch kommt man bei Hauptschülern kaum über die Vermittlung der Kulturtechnik des richtigen Schreibens hinaus. Mit den Gymnasiasten kann der Lehrer dialektische Problemerörterungen einüben oder Gedichte analysieren. In den Fremdsprachen umfasst der Unterschied zwischen beiden Niveaus den Lernstoff zweier ganzer Schuljahre.

Notgedrungener individualisierter Unterricht

Ich habe diese als Zaubermittel angepriesene Methode über zehn Jahre lang an einer Gesamtschule angewandt – notgedrungen, nicht aus Überzeugung. In Sozialkunde und Geschichte unterrichtete ich Schüler, die sich hinsichtlich Intelligenz und Vorwissen extrem stark unterschieden. Da an ein gemeinsames Unterrichtsgespräch nicht zu denken war, individualisierte ich den Unterricht.
Ich bildete Arbeitsgruppen, die ich nach Leistungsniveaus differenzierte. Mit den leistungsstarken Schülern konnte ich schwierige Sachverhalte, wie etwa die Vorzüge unterschiedlicher Demokratiemodelle, diskutieren. Mit den Schülern des untersten Leistungsniveaus musste ich zuerst die einfachsten Voraussetzungen klären. Was ist eine Demokratie? Was unterscheidet sie von einer Diktatur? (Link: http://www.welt.de/108390398)
Da die Kluft zwischen den beiden Niveaus – das mittlere bleibt hier unberücksichtigt – groß war, war an einen Austausch der Ergebnisse im Klassengespräch nicht zu denken. Am produktivsten war das Verfahren, wenn jede Gruppe für sich lernte und ich zwischen den Gruppentischen hin- und herpendelte. Ich kenne bis heute keine Methode und kein Lernmaterial, das in der Lage wäre, die Kluft zwischen den hier beschriebenen Lernniveaus zu schließen.

Die Botschaft der Einheitsschul-Pädagogik

Keine Frage: Differenziertes Lernen ist möglich. Es entspricht aber nicht dem Idealbild von Unterricht. Zu einem vernünftigen Lernprozess gehört der intellektuelle Austausch aller Schüler im Gespräch.
Immerhin begriff ich die geheime Botschaft der Einheitsschul-Pädagogik. Die Schüler sitzen aus sozialen Gründen in einer Klasse, nicht aus pädagogischen. Das gegenseitige Befruchten unterschiedlicher Begabungen, das immer als pädagogischen Gewinn ins Feld geführt wird, findet so gut wie nicht statt. Das individualisierte Lernen erweist sich als isoliertes, letztlich un-soziales Lernen.
Ich machte bei meinem ungewollten Experiment noch eine weitere Entdeckung: Am Ende des Schuljahres stellte ich fest, dass bei den anfangs schon guten Schülern der Lernzuwachs am größten war. Nicht dass ich ihnen mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Nein - anscheinend stellen sich aber Lernzuwächse leichter ein, wenn ein Schüler schon über ein solides Fundament an Wissen verfügt.
Neues Wissen wird nämlich mit vorhandenem vernetzt. Das ist auch der Grund, weshalb Grundschullehrer berichten, dass es Erstklässlern sehr schwer fällt, Defizite, die sie von zu Hause mitbringen, im heterogenen Klassenverband auszugleichen. Das Professorenkind kann mit Selbstlernphasen sehr gut umgehen, während das Kind aus der bildungsfernen Schicht der helfenden Hand des Lehrers bedarf.

Der "Königsweg zum pädagogischen Glück"

Die Methode des individualisierten Lernens gilt inzwischen als der Königsweg zum pädagogischen Glück. Progressive Wissenschaftler, vom Gleichheitsgedanken beseelte Gewerkschafter und linke Bildungspolitiker verkünden landauf, landab, dass damit die von ihnen gewünschte "demokratische" Schulform, die Gemeinschaftsschule, gelingen könne.
Als Lehrer habe ich solchen Glücksversprechen stets misstraut. Allzu oft war mit Händen zu greifen, dass sie der Praxis im Klassenzimmer nicht standhalten. So muss ich auch Wasser in den Wein der Selbstlern-Idyllik gießen. Zum Glück kann ich mich auf belastbare Daten stützen. Der neuseeländische Forscher John Hattie untersuchte 2009 durch Auswertung zahlreicher Einzelstudien die Einflussfaktoren, die optimale Schülerleistungen verbürgen.
Dabei kam er zu dem Resultat, dass Schüler dann am besten lernen, wenn die Lehrkraft eine aktive Rolle spielt. Hattie plädiert für "lehrerbezogene Maßnahmen" statt für strukturbezogene Reformen. Die modische Individualisierung kommt in seiner Liste der wirkmächtigen Lehrformen nicht vor. Hatties Einsichten decken sich mit den Erfahrungen der Entwicklungspsychologie, die bei Heranwachsenden ein großes Bedürfnis nach Anleitung und Erklärung feststellt.

Hohe Standards, aber mit falschen Methoden

Leider haben sich auch die Schulinspektionen der Bildungsbehörden das Dogma der Binnendifferenzierung zu Eigen gemacht. Selbst Gymnasien mit hervorragenden Ergebnissen beim Abitur oder bei Wettbewerben werden herabgestuft, wenn sie dem Credo nicht huldigen:Guter Unterricht muss "binnendifferenziert" sein (Link: http://www.welt.de/108863165) , muss "entdeckendes Lernen" beinhalten.
Der Schulleiter eines Berliner Gymnasiums merkte zum vorbildlichen Inspektionsbericht seiner Schule sarkastisch an, die Schule erreiche hohe Standards, aber leider mit den falschen Methoden. Hier streifen dogmatische Festlegungen das Absurde.
Jeder halbwegs wache Referendar erkennt schon nach wenigen Wochen eigenständigen Unterrichts, dass es die allein selig machende Methode gar nicht gibt, weil die wirksamste Methode von der jeweiligen Lerngruppe, vom angestrebten Ziel und von der Persönlichkeit des Lehrers abhängt. Inzwischen pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass das Pisa-Siegerland Finnland seine hervorragenden Ergebnisse vor allem dem virtuos betriebenen Frontalunterricht verdankt. Wer hätte das gedacht?
Der Autor unterrichtete bis zu seiner Pensionierung am John-Lennon-Gymnasium in Berlin-Mitte. Er schrieb das Buch "Auf den Lehrer kommt es an"


1 Kommentar:

  1. Die Leitsätze für Lernbegleiter (Coach) beim „individualisierenden Unterricht“ („selbstreguliertes/selbst organisiertes Lernen“) in den „altersgemischten“ AdL- Gemeinschaftsschulen sind dem Konstruktivismus entlehnt und stehen im krassen Widerspruch zum Menschenrecht auf Bildung: Bringe mir nichts bei. Erkläre mir nicht. Erziehe mich nicht. Motiviere mich nicht.

    Die Leitsätze für Lehrer beim bewährten Klassenunterricht entsprechen dem Recht auf Bildung gemäss Art. 28 der UN-Menschenrechtscharta: Bringe mir bei, wie man lernt. Erkläre mir das Um und Auf in der Welt. Erziehe mich zu einem guten Mitmenschen. Motiviere mich, mein Leben sinnvoll zu gestalten.

    Mit dem „individualisierenden Unterricht“ und dem „selbstorganisierten Lernen“ wird der bis anhin vorbildliche Wirtschaftsstandort Schweiz zu Grabe getragen, der viele Schweizer Weltmeister bei internationalen Berufswettkämpfen hervorgebracht hat.

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