Individualisierung suggeriert strahlende Kinder, Bild: individualisierter-unterricht.com
Die Einheitsschule ist pädagogische Romantik, Die Welt, 26.12.12 von Rainer Werner
Wenn die
"Bertelsmann Stiftung" eine neue Studie vorstellt, kann man darauf
wetten, dass sie die Gebrauchsanweisung, wie man die von ihr attestierten
Bildungsdefizite beheben kann, gleich mitliefert. Es läuft immer auf dieselbe
Therapie hinaus: auf individualisiertes,
selbstverantwortliches Lernen der Schüler (Link: http://www.welt.de/themen/gymnasium/) . Darunter versteht man das
Unterrichtsprinzip, bei dem jeder Schüler entsprechend seinem persönlichen
Leistungsvermögen individuell gefördert wird.
Die Individualisierung des Lernens kam auf, als die Befürworter
der Einheitsschule feststellten, dass in den extrem heterogenen Lerngruppen ein
normaler Klassenunterricht nicht mehr möglich ist. In der Gemeinschaftsschule
werden Hauptschüler und Gymnasiasten gemeinsam unterrichtet. Selbst der
pädagogische Laie kann sich ausmalen, was das für den Unterricht bedeutet.
In Deutsch kommt man bei Hauptschülern kaum über die Vermittlung
der Kulturtechnik des richtigen Schreibens hinaus. Mit den Gymnasiasten kann
der Lehrer dialektische Problemerörterungen einüben oder Gedichte analysieren.
In den Fremdsprachen umfasst der Unterschied zwischen beiden Niveaus den
Lernstoff zweier ganzer Schuljahre.
Notgedrungener
individualisierter Unterricht
Ich habe diese als Zaubermittel angepriesene Methode über zehn
Jahre lang an einer Gesamtschule angewandt – notgedrungen, nicht aus
Überzeugung. In Sozialkunde und Geschichte unterrichtete ich Schüler, die sich
hinsichtlich Intelligenz und Vorwissen extrem stark unterschieden. Da an ein
gemeinsames Unterrichtsgespräch nicht zu denken war, individualisierte ich den
Unterricht.
Ich
bildete Arbeitsgruppen, die ich nach Leistungsniveaus differenzierte. Mit den
leistungsstarken Schülern konnte ich schwierige Sachverhalte, wie etwa die
Vorzüge unterschiedlicher Demokratiemodelle, diskutieren. Mit den Schülern des
untersten Leistungsniveaus musste ich zuerst die einfachsten Voraussetzungen
klären. Was ist eine Demokratie? Was
unterscheidet sie von einer Diktatur? (Link: http://www.welt.de/108390398)
Da die Kluft zwischen den beiden Niveaus – das mittlere bleibt
hier unberücksichtigt – groß war, war an einen Austausch der Ergebnisse im
Klassengespräch nicht zu denken. Am produktivsten war das Verfahren, wenn jede
Gruppe für sich lernte und ich zwischen den Gruppentischen hin- und herpendelte.
Ich kenne bis heute keine Methode und kein Lernmaterial, das in der Lage wäre,
die Kluft zwischen den hier beschriebenen Lernniveaus zu schließen.
Die Botschaft der
Einheitsschul-Pädagogik
Keine Frage: Differenziertes Lernen ist möglich. Es entspricht
aber nicht dem Idealbild von Unterricht. Zu einem vernünftigen Lernprozess
gehört der intellektuelle Austausch aller Schüler im Gespräch.
Immerhin begriff ich die geheime Botschaft der
Einheitsschul-Pädagogik. Die Schüler sitzen aus sozialen Gründen in einer
Klasse, nicht aus pädagogischen. Das gegenseitige Befruchten unterschiedlicher
Begabungen, das immer als pädagogischen Gewinn ins Feld geführt wird, findet so
gut wie nicht statt. Das individualisierte Lernen erweist sich als isoliertes,
letztlich un-soziales Lernen.
Ich machte bei meinem ungewollten Experiment noch eine weitere
Entdeckung: Am Ende des Schuljahres stellte ich fest, dass bei den anfangs
schon guten Schülern der Lernzuwachs am größten war. Nicht dass ich ihnen mehr
Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Nein - anscheinend stellen sich aber
Lernzuwächse leichter ein, wenn ein Schüler schon über ein solides Fundament an
Wissen verfügt.
Neues Wissen wird nämlich mit vorhandenem vernetzt. Das ist auch
der Grund, weshalb Grundschullehrer berichten, dass es Erstklässlern sehr
schwer fällt, Defizite, die sie von zu Hause mitbringen, im heterogenen
Klassenverband auszugleichen. Das Professorenkind kann mit Selbstlernphasen
sehr gut umgehen, während das Kind aus der bildungsfernen Schicht der helfenden
Hand des Lehrers bedarf.
Der "Königsweg zum
pädagogischen Glück"
Die Methode des individualisierten Lernens gilt inzwischen als
der Königsweg zum pädagogischen Glück. Progressive Wissenschaftler, vom
Gleichheitsgedanken beseelte Gewerkschafter und linke Bildungspolitiker
verkünden landauf, landab, dass damit die von ihnen gewünschte
"demokratische" Schulform, die Gemeinschaftsschule, gelingen könne.
Als Lehrer habe ich solchen Glücksversprechen stets misstraut.
Allzu oft war mit Händen zu greifen, dass sie der Praxis im Klassenzimmer nicht
standhalten. So muss ich auch Wasser in den Wein der Selbstlern-Idyllik gießen.
Zum Glück kann ich mich auf belastbare Daten stützen. Der neuseeländische
Forscher John Hattie untersuchte 2009 durch Auswertung zahlreicher
Einzelstudien die Einflussfaktoren, die optimale Schülerleistungen verbürgen.
Dabei kam er zu dem Resultat, dass Schüler dann am besten
lernen, wenn die Lehrkraft eine aktive Rolle spielt. Hattie plädiert für
"lehrerbezogene Maßnahmen" statt für strukturbezogene Reformen. Die
modische Individualisierung kommt in seiner Liste der wirkmächtigen Lehrformen
nicht vor. Hatties Einsichten decken sich mit den Erfahrungen der
Entwicklungspsychologie, die bei Heranwachsenden ein großes Bedürfnis nach
Anleitung und Erklärung feststellt.
Hohe Standards, aber mit
falschen Methoden
Leider
haben sich auch die Schulinspektionen der Bildungsbehörden das Dogma der
Binnendifferenzierung zu Eigen gemacht. Selbst Gymnasien mit hervorragenden
Ergebnissen beim Abitur oder bei Wettbewerben werden herabgestuft, wenn sie dem
Credo nicht huldigen:Guter Unterricht muss "binnendifferenziert" sein (Link: http://www.welt.de/108863165) , muss "entdeckendes Lernen"
beinhalten.
Der Schulleiter eines Berliner Gymnasiums merkte zum
vorbildlichen Inspektionsbericht seiner Schule sarkastisch an, die Schule erreiche
hohe Standards, aber leider mit den falschen Methoden. Hier streifen
dogmatische Festlegungen das Absurde.
Jeder halbwegs wache Referendar erkennt schon nach wenigen
Wochen eigenständigen Unterrichts, dass es die allein selig machende Methode
gar nicht gibt, weil die wirksamste Methode von der jeweiligen Lerngruppe, vom
angestrebten Ziel und von der Persönlichkeit des Lehrers abhängt. Inzwischen
pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass das Pisa-Siegerland Finnland seine
hervorragenden Ergebnisse vor allem dem virtuos betriebenen Frontalunterricht
verdankt. Wer hätte das gedacht?
Der
Autor unterrichtete bis zu seiner Pensionierung am John-Lennon-Gymnasium in
Berlin-Mitte. Er schrieb das Buch "Auf den Lehrer kommt es an"
Die Leitsätze für Lernbegleiter (Coach) beim „individualisierenden Unterricht“ („selbstreguliertes/selbst organisiertes Lernen“) in den „altersgemischten“ AdL- Gemeinschaftsschulen sind dem Konstruktivismus entlehnt und stehen im krassen Widerspruch zum Menschenrecht auf Bildung: Bringe mir nichts bei. Erkläre mir nicht. Erziehe mich nicht. Motiviere mich nicht.
AntwortenLöschenDie Leitsätze für Lehrer beim bewährten Klassenunterricht entsprechen dem Recht auf Bildung gemäss Art. 28 der UN-Menschenrechtscharta: Bringe mir bei, wie man lernt. Erkläre mir das Um und Auf in der Welt. Erziehe mich zu einem guten Mitmenschen. Motiviere mich, mein Leben sinnvoll zu gestalten.
Mit dem „individualisierenden Unterricht“ und dem „selbstorganisierten Lernen“ wird der bis anhin vorbildliche Wirtschaftsstandort Schweiz zu Grabe getragen, der viele Schweizer Weltmeister bei internationalen Berufswettkämpfen hervorgebracht hat.