26. Dezember 2014

Schicksalsjahr 2015

Sollen Schweizer Schulkinder als erste Sprache eine Landessprache lernen müssen? Oui, finden die Romands. English first, sagen immer mehr Deutschschweizer. 2014 wurde gestritten, 2015 wird geschlichtet - hoffentlich.
Wie Frühfranzösisch zur Schicksalsfrage wurde, NZZ, 25.12. von Andrea Kucera


Wer hätte Anfang Jahr gedacht, dass 2014 der Fremdsprachenunterricht die Grundfesten der Willensnation Schweiz erschüttern würde? Wir starten nach einer turbulenten zweiten Jahreshälfte mit der Herausforderung ins Jahr 2015, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die erste Fremdsprache in der Schule zwingend eine Landessprache sein muss. Was sich harmlos anhört, ist längst zum Politikum geworden.
Und das kam so: Richtig an Fahrt gewann der Sprachenstreit, als das Thurgauer Parlament am 13. August eine Motion annahm , welche forderte, dass Französisch nicht mehr in der Primarschule, sondern erst in der Oberstufe unterrichtet wird. Diese Absichtserklärung – das letzte Wort obliegt dem Volk – kam in der französischen Schweiz, aber auch bei vielen Deutschschweizer Politikern schlecht an. «Steht nun der Sprachenfrieden auf dem Spiel? », fragte das Westschweizer Fernsehen. Auf einmal wurden sämtliche Bundesräte zu ihrer Meinung zum Fremdsprachenunterricht befragt, und die Sozialdemokraten verschickten flugs ein Communiqué mit dem Titel: «Sprachenstreit: SP schaut nicht weiter zu.» Das Thema hatte definitiv Bundesbern erreicht.

Der Aufruhr kam indes nicht aus dem Nichts. Bereits am 7. Januar meinte der Zürcher Literaturwissenschafter Ernst Baschera in einem Beitrag für diese Zeitung warnend, der Zusammenhalt sei gefährdet, weil einzelne Kantone östlich der Reuss dazu tendierten, dem Französischunterricht in der Primarschule den Garaus zu machen. Baschera sprach in diesem Zusammenhang von einem Reussgraben, der sich neben dem Röstigraben auftue: Östlich der Reuss heisse es zunehmend «only English», während westlich davon den Landessprachen der Vorzug gegeben werde. Konkret ging es damals um die Kantone Luzern und Nidwalden: Dort forderten eine Volksinitiative beziehungsweise ein Postulat die Abschaffung des Fachs Frühfranzösisch zugunsten von Englisch. Die Schüler seien mit zwei Fremdsprachen überfordert, lautete das Argument, und Englisch sei nun einmal wichtiger als Französisch – zumindest auf globaler Ebene.
Baschera hielt nicht viel davon, dass am Primat der Landessprachen im Fremdsprachenunterricht gerüttelt wird. Noch sei unklar, wie die Erziehungsdirektorenkonferenz und der Lehrerverband auf diese Provokation reagieren würden, schrieb er. Und fragte: «Wird letztlich der Bund aus staatspolitischen Gründen eingreifen müssen?»
Alain Bersets Drohfinger
Die Frage nach einem Machtwort aus Bundesbern stellt sich ein Jahr später noch immer. Sie wird 2015 beantwortet. Einen ersten Pflock in dieser Hinsicht schlug Bundesrat Alain Berset bereits am 10. März in der Fragestunde im Nationalrat ein: Jedes Schulkind in der Schweiz habe schon in der Primarschule eine zweite Landessprache zu lernen, mahnte er. Sollten sich die Kantone darüber nicht einig werden, werde sich der Bund darum kümmern. – Die rote Linie war gezogen.
Berset zeigte damals auch die Stossrichtung auf, über die er als Innenminister und damit Hüter der Sprachenvielfalt gewillt war, Einfluss auf die schulische Debatte zu nehmen: das Sprachengesetz . Unter anderem dient dieses dazu, den inneren Zusammenhalt des Landes zu festigen und die Mehrsprachigkeit zu fördern. Zur konkreten Frage des Sprachunterrichts heisst es im Artikel 15 des Gesetzes, Bund und Kantone sorgten dafür, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit über Kompetenzen in mindestens einer zweiten Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügten. Berset ging nun einen Schritt weiter, indem er betonte, dass der Bundesrat unter Artikel 15 verstehe, dass der Unterricht der zweiten Landessprache bereits in der Primarschule zu beginnen habe . Er stellte damit auch unmissverständlich klar, was er von den Bestrebungen in Luzern und Nidwalden hielt. Diese Haltung bekräftigte der Innenminister im Juni im Ständerat.
Bei den Befürworten der Abschaffung von Frühfranzösisch, welche oft aus den Reihen der SVP stammen, kam die Drohkulisse aus Bundesbern schlecht an. Vor allem in der föderalistisch geprägten Zentralschweiz hielt man wenig vom «Zentralisierungsschub» in Sachen Fremdsprachenunterricht. Im Gespräch mit der NZZ störte sich der Nidwaldner SVP-Nationalrat Peter Keller daran , dass eine «eigentlich pädagogische Frage zu einer nationalen Überlebensfrage umgebogen» werde. In der Westschweiz wurden Bersets klare Worte hingegen bis ins bürgerliche Lager hinein begrüsst. In diesem Landesteil hatten einzelne Politiker bereits 2004 gefordert, dass die Regelung des Sprachenunterrichts zur Bundeskompetenz erklärt werden solle . Damals hatten sich die Kantone innerhalb der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) im Hinblick auf die Harmonisierung der Lehrpläne auf einen Kompromiss geeinigt : Landesweit sollte ab der 3. Klasse eine erste und ab der 5. Klasse eine zweite Fremdsprache unterrichtet werden. Man hielt dabei fest, dass eine dieser Sprachen eine Landessprache sein müsse, legte sich aber nicht auf die Reihenfolge fest.

Englisch für alle?
Dieser Kompromiss begann indes bald einmal zu wackeln. Zu den Abweichlern gesellte sich Anfang 2014 der Kanton Schaffhausen hinzu. Dessen Parlamentforderte ebenfalls , dass in der Primarschule nur noch eine Fremdsprache unterrichtet werden solle. Und obwohl Bundesrat Berset in der Zwischenzeit den Warnfinger erhoben hatte, beschloss – wie bereits erwähnt – im August auch das Thurgauer Parlament, den Französischunterricht in der Primarschule abzuschaffen .
In der Westschweiz war man nun definitiv in heller Aufregung über diese als Affront empfundene Indifferenz gegenüber dem Französischen. Die Rufe nach einem Einschreiten des Bundes wurden lauter – mit wenigen Ausnahmen auch bei bürgerlichen Politikern. «Steht der nationale Zusammenhalt auf dem Spiel, darf und soll Bundesbern einschreiten», sagte etwa die FDP-Vizepräsidentin Isabelle Moret in der NZZ . Und als der Präsident der ETH Lausanne, Patrick Aebischer, in einem Meinungsbeitrag schrieb , Englisch sei für alle Schweizer zur Priorität geworden und folglich sollten sowohl Romands wie Deutschschweizer zuerst Englisch lernen, erntete er harsche Kritik .

Die EDK bittet um Geduld
Der Herbst zog ins Land, und eine Lösung des Streits war noch immer in weiter Ferne. Klartext sprach der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer am 11. September, indem er sich für eine Landessprache als erste Fremdsprache aussprach. Und die Mehrheit der Bundespolitiker sprach sich für ein Eingreifen des Bundes aus, sollte sich der Trend Richtung Abkehr vom Fach Frühfranzösisch fortsetzen. Mit Spannung wurde auch die Sitzung der Bildungskommission des Nationalrats erwartet, die ebenfalls angekündigt hatte, in der Frage aktiv zu werden. Einzelne Mitglieder, unter ihnen Jean-François Steiert (sp., Freiburg) und Kathy Riklin (cvp., Zürich), schlugen etwa vor, den Artikel 15 im Sprachengesetz dahingehend zu ändern, dass der Unterricht einer zweiten Landessprache in der Primarschule zwingend würde. In der Sitzung vom 9. Oktober wurde dann aberdoch kein Entscheid gefällt . Man wolle der EDK und damit den Kantonen noch etwas Zeit geben, selbst einen Kompromiss zu finden, sagte Kommissionspräsident Matthias Aebischer (sp., Bern).
Bei der EDK wurde diese Haltung mit Befriedigung aufgenommen. «Die Kantone sind handlungsfähig» , sagte der Generalsekretär der EDK, Hans Ambühl, im Gespräch mit der NZZ. Derzeit werde die Bilanz über die Harmonisierung der obligatorischen Schule und damit auch des Sprachenunterrichts erstellt. Die Bilanz werde Mitte 2015 vorliegen und sei abzuwarten. «Es ist nicht nötig, jetzt über eine Intervention des Bundes laut nachzudenken.» Die EDK fand mit ihrem Wunsch nach Zurückhaltung Gehör. Die Schwesterkommission der Bildungskommission des Nationalrats, die Bildungskommission des Ständerats, entschied am 7. November, den Kantonen die nötige Zeit zu lassen und den für Mitte 2015 geplanten Bericht der EDK abzuwarten .

Schicksalsjahr 2015
Das kommende Jahr wird damit zum Schicksalsjahr für den Sprachenstreit – und dies in mehrfacher Hinsicht: Vom Wortlaut der mit Spannung erwarteten EDK-Bilanz wird abhängen, ob sich Bildungspolitiker oder der Bundesrat doch zu einem Eingreifen gedrängt sehen. Vorsorglich hat die Bildungskommission des Ständerats von der Bundesverwaltung schon einmal einen Bericht eingefordert, in dem die Handlungsmöglichkeiten des Bundesrates ausgelotet werden, falls die Kantone keine Harmonisierung zustande bringen sollten. Dieser Bericht soll bereits im Frühling vorliegen.
Zunächst, und damit wären wir wieder bei den «only English»-Kantonen ennet des Reussgrabens, steht der erste Volksentscheid in Sachen Frühfranzösisch an. Am 8. März entscheidet das Stimmvolk von Nidwalden, ob in der Primarschule nur noch eine Fremdsprache unterrichtet werden soll. Brisant ist der Urnengang, weil sich das Parlament des Halbkantons gegen, die Regierung aber für die Initiative ausgesprochen hat. Sollte das Volk der Regierung folgen und dem Fach Frühfranzösisch einen Korb geben, ist der nächste Eklat programmiert.


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