Wie Frühfranzösisch zur Schicksalsfrage wurde, NZZ, 25.12. von Andrea Kucera
Wer hätte Anfang Jahr gedacht, dass 2014 der
Fremdsprachenunterricht die Grundfesten der Willensnation Schweiz erschüttern
würde? Wir starten nach einer turbulenten zweiten Jahreshälfte mit der
Herausforderung ins Jahr 2015, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die
erste Fremdsprache in der Schule zwingend eine Landessprache sein muss. Was
sich harmlos anhört, ist längst zum Politikum geworden.
Und das kam so: Richtig an Fahrt gewann der Sprachenstreit, als das
Thurgauer Parlament am 13. August eine Motion annahm , welche forderte, dass Französisch
nicht mehr in der Primarschule, sondern erst in der Oberstufe unterrichtet
wird. Diese Absichtserklärung – das letzte Wort obliegt dem Volk – kam in der
französischen Schweiz, aber auch bei vielen Deutschschweizer Politikern
schlecht an. «Steht nun der Sprachenfrieden auf dem Spiel? », fragte
das Westschweizer Fernsehen. Auf einmal wurden sämtliche Bundesräte zu ihrer
Meinung zum Fremdsprachenunterricht befragt, und die Sozialdemokraten
verschickten flugs ein Communiqué mit dem Titel: «Sprachenstreit: SP schaut nicht weiter zu.» Das Thema
hatte definitiv Bundesbern erreicht.
Der Aufruhr kam indes nicht aus dem Nichts. Bereits am 7. Januar meinte
der Zürcher Literaturwissenschafter Ernst Baschera in einem Beitrag für
diese Zeitung warnend, der Zusammenhalt sei gefährdet, weil einzelne
Kantone östlich der Reuss dazu tendierten, dem Französischunterricht in der
Primarschule den Garaus zu machen. Baschera sprach in diesem Zusammenhang von
einem Reussgraben, der sich neben dem Röstigraben auftue: Östlich der Reuss
heisse es zunehmend «only English», während westlich davon den Landessprachen
der Vorzug gegeben werde. Konkret ging es damals um die Kantone Luzern und
Nidwalden: Dort forderten eine Volksinitiative beziehungsweise
ein Postulat die Abschaffung des Fachs Frühfranzösisch
zugunsten von Englisch. Die Schüler seien mit zwei Fremdsprachen überfordert,
lautete das Argument, und Englisch sei nun einmal wichtiger als Französisch –
zumindest auf globaler Ebene.
Baschera hielt nicht viel davon, dass am
Primat der Landessprachen im Fremdsprachenunterricht gerüttelt wird. Noch sei
unklar, wie die Erziehungsdirektorenkonferenz und der Lehrerverband auf diese
Provokation reagieren würden, schrieb er. Und fragte: «Wird letztlich der Bund
aus staatspolitischen Gründen eingreifen müssen?»
Alain Bersets Drohfinger
Die Frage nach einem Machtwort aus Bundesbern stellt sich ein Jahr
später noch immer. Sie wird 2015 beantwortet. Einen ersten
Pflock in dieser Hinsicht schlug Bundesrat Alain Berset bereits
am 10. März in der Fragestunde im Nationalrat ein: Jedes Schulkind in der
Schweiz habe schon in der Primarschule eine zweite Landessprache zu lernen,
mahnte er. Sollten sich die Kantone darüber nicht einig werden, werde sich der
Bund darum kümmern. – Die rote Linie war gezogen.
Berset zeigte damals auch die Stossrichtung auf, über die er als
Innenminister und damit Hüter der Sprachenvielfalt gewillt war, Einfluss auf
die schulische Debatte zu nehmen: das Sprachengesetz . Unter anderem dient dieses dazu, den
inneren Zusammenhalt des Landes zu festigen und die Mehrsprachigkeit zu
fördern. Zur konkreten Frage des Sprachunterrichts heisst es im Artikel 15 des
Gesetzes, Bund und Kantone sorgten dafür, dass die Schülerinnen und Schüler am
Ende der obligatorischen Schulzeit über Kompetenzen in mindestens einer zweiten
Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügten. Berset ging nun einen
Schritt weiter, indem er betonte, dass der Bundesrat unter Artikel 15 verstehe,
dass der Unterricht der zweiten Landessprache bereits in der Primarschule zu beginnen habe . Er stellte
damit auch unmissverständlich klar, was er von den Bestrebungen in Luzern und
Nidwalden hielt. Diese Haltung bekräftigte der
Innenminister im Juni im Ständerat.
Bei den Befürworten der Abschaffung von Frühfranzösisch, welche oft aus
den Reihen der SVP stammen, kam die Drohkulisse aus Bundesbern schlecht an. Vor
allem in der föderalistisch geprägten Zentralschweiz hielt man wenig vom
«Zentralisierungsschub» in Sachen Fremdsprachenunterricht. Im Gespräch mit der
NZZ störte sich
der Nidwaldner SVP-Nationalrat Peter Keller daran , dass eine
«eigentlich pädagogische Frage zu einer nationalen Überlebensfrage umgebogen»
werde. In der Westschweiz wurden Bersets klare Worte hingegen bis ins
bürgerliche Lager hinein begrüsst. In diesem Landesteil hatten einzelne
Politiker bereits 2004 gefordert, dass die Regelung des Sprachenunterrichts zur
Bundeskompetenz erklärt
werden solle . Damals hatten sich die Kantone innerhalb der
Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) im Hinblick auf die Harmonisierung der
Lehrpläne auf einen
Kompromiss geeinigt : Landesweit sollte ab der 3. Klasse eine
erste und ab der 5. Klasse eine zweite Fremdsprache unterrichtet werden. Man
hielt dabei fest, dass eine dieser Sprachen eine Landessprache sein müsse,
legte sich aber nicht auf die Reihenfolge fest.
Englisch für alle?
Dieser Kompromiss begann indes bald einmal zu wackeln. Zu den Abweichlern
gesellte sich Anfang 2014 der Kanton Schaffhausen hinzu. Dessen Parlamentforderte ebenfalls , dass in der Primarschule nur noch
eine Fremdsprache unterrichtet werden solle. Und obwohl Bundesrat Berset in der
Zwischenzeit den Warnfinger erhoben hatte, beschloss – wie bereits erwähnt – im
August auch das Thurgauer Parlament, den Französischunterricht in der
Primarschule abzuschaffen .
In der Westschweiz war man nun definitiv in heller Aufregung über diese
als Affront empfundene Indifferenz gegenüber dem Französischen. Die Rufe nach
einem Einschreiten des Bundes wurden lauter – mit wenigen Ausnahmen auch bei
bürgerlichen Politikern. «Steht der nationale Zusammenhalt auf dem Spiel, darf
und soll Bundesbern einschreiten», sagte etwa die FDP-Vizepräsidentin Isabelle
Moret in der NZZ .
Und als der Präsident der ETH Lausanne, Patrick Aebischer, in einem
Meinungsbeitrag schrieb ,
Englisch sei für alle Schweizer zur Priorität geworden und folglich sollten
sowohl Romands wie Deutschschweizer zuerst Englisch lernen, erntete er
harsche Kritik .
Die EDK bittet um Geduld
Der Herbst zog ins Land, und eine Lösung des Streits war noch immer in
weiter Ferne. Klartext
sprach der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer am 11.
September, indem er sich für eine Landessprache als erste Fremdsprache
aussprach. Und die Mehrheit der Bundespolitiker sprach sich für ein Eingreifen des Bundes aus, sollte
sich der Trend Richtung Abkehr vom Fach Frühfranzösisch fortsetzen. Mit
Spannung wurde auch die Sitzung der Bildungskommission des Nationalrats erwartet, die
ebenfalls angekündigt hatte, in der Frage aktiv zu werden. Einzelne Mitglieder,
unter ihnen Jean-François Steiert (sp., Freiburg) und Kathy Riklin (cvp.,
Zürich), schlugen etwa vor, den Artikel 15 im Sprachengesetz dahingehend zu
ändern, dass der Unterricht einer zweiten Landessprache in der Primarschule
zwingend würde. In der Sitzung vom 9. Oktober wurde dann aberdoch kein
Entscheid gefällt . Man wolle der EDK und damit den Kantonen
noch etwas Zeit geben, selbst einen Kompromiss zu finden, sagte
Kommissionspräsident Matthias Aebischer (sp., Bern).
Bei der EDK wurde diese Haltung mit Befriedigung aufgenommen. «Die Kantone
sind handlungsfähig» , sagte der Generalsekretär der EDK, Hans
Ambühl, im Gespräch mit der NZZ. Derzeit werde die Bilanz über die
Harmonisierung der obligatorischen Schule und damit auch des
Sprachenunterrichts erstellt. Die Bilanz werde Mitte 2015 vorliegen und sei
abzuwarten. «Es ist nicht nötig, jetzt über eine Intervention des Bundes laut
nachzudenken.» Die EDK fand mit ihrem Wunsch nach Zurückhaltung Gehör. Die
Schwesterkommission der Bildungskommission des Nationalrats, die
Bildungskommission des Ständerats, entschied am 7. November, den Kantonen die
nötige Zeit zu lassen und den für Mitte 2015 geplanten Bericht der EDK abzuwarten .
Schicksalsjahr 2015
Das kommende Jahr wird damit zum
Schicksalsjahr für den Sprachenstreit – und dies in mehrfacher Hinsicht: Vom
Wortlaut der mit Spannung erwarteten EDK-Bilanz wird abhängen, ob sich
Bildungspolitiker oder der Bundesrat doch zu einem Eingreifen gedrängt sehen.
Vorsorglich hat die Bildungskommission des Ständerats von der Bundesverwaltung
schon einmal einen Bericht eingefordert, in dem die Handlungsmöglichkeiten des
Bundesrates ausgelotet werden, falls die Kantone keine Harmonisierung zustande
bringen sollten. Dieser Bericht soll bereits im Frühling vorliegen.
Zunächst, und damit wären wir wieder bei den «only English»-Kantonen
ennet des Reussgrabens, steht der erste Volksentscheid in Sachen
Frühfranzösisch an. Am 8. März entscheidet
das Stimmvolk von Nidwalden, ob in der Primarschule nur noch
eine Fremdsprache unterrichtet werden soll. Brisant ist der Urnengang, weil
sich das Parlament des Halbkantons gegen, die Regierung aber für die Initiative
ausgesprochen hat. Sollte das Volk der Regierung folgen und dem Fach
Frühfranzösisch einen Korb geben, ist der nächste Eklat programmiert.
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