Quelle: Volksschulamt Zürich
Wie Sonderschüler produziert werden, Tages Anzeiger, 27.11. von Marius Huber
Am
Anfang war der Schock. Die Zahl der Sonderschüler im Kanton Zürich stieg so
rasant, als grassiere ein Fieber unter den Kindern. Waren es zur
Jahrtausendwende noch 2300 gewesen, bevölkerten zuletzt fast 5000 Mädchen und
Buben die Zürcher Schulbänke, die angeblich schwer verhaltensauffällig oder
behindert waren.
Die Bildungspolitiker im Kantonsrat standen vor einem
Rätsel. Und sie sorgten sich um die Finanzen, denn die Kosten waren ähnlich
stark gestiegen, auf zuletzt 380 Millionen Franken pro Jahr. Das Volksschulamt
kündete an, der Sache auf den Grund zu gehen. Man werde die Situation mit jenen
Gemeinden, die auffällig viele Sonderschüler haben, analysieren und
Gegenmassnahmen erarbeiten.
Arme
wie reiche Gemeinden betroffen
Das war vor zwei Jahren.
Seither hat sich der Nebel gelichtet. Die erste Erkenntnis der Untersuchung des
Volksschulamts: 75 Zürcher Schulgemeinden – also über ein Drittel – haben eine
Sonderschülerquote von mehr als 3,5 Prozent. Zum Teil liegt die Quote fast
doppelt so hoch. Dabei ist dieser Grenzwert, den das Volksschulamt definiert
hat, noch nicht einmal besonders streng. Vor fünf Jahren lag die kantonale
Durchschnittsquote noch bei 2,5 Prozent.
Die zweite Erkenntnis:
Es gibt kein einfaches Erklärungsmuster, weshalb die Zahl der Sonderschüler
hier ins Kraut schiesst und dort nicht. Vor allem besteht wider Erwarten kein
starker Zusammenhang mit der sozialen Zusammensetzung einer Gemeinde. Wo viele
Ausländer und viele Sozialhilfeempfänger leben, hat es nicht automatisch mehr
Sonderschüler. Die umgekehrte These funktioniert genauso wenig: Auch in
finanzstarken Gemeinden, wo die Eltern mehr Wert auf eine intensive Betreuung
ihrer Kinder legen, liegen die Quoten weit auseinander.
Das sind die
Quotentreiber
Die Gemeinden sind im
Kanton Zürich selbst dafür verantwortlich, Kinder der Sonderschulung
zuzuweisen. Es gibt mehrere Quotentreiber, die alle für sich geltend machen
könnten. Urs Meier, stellvertretender Chef des Volksschulamts, erwähnt zum
Beispiel die gesellschaftliche Tendenz, Unterstützungsangebote intensiver zu
nutzen. Oder die Tatsache, dass niederschwellige Fördermassnahmen im Kanton
Zürich limitiert sind, während das Angebot in der Sonderschule kaum begrenzt
ist. Das hat dazu geführt, dass Kinder in Grenzfällen eher mit
sonderschulischen Massnahmen bedacht werden. Und dann sei auch die Hemmschwelle
bei Lehrkräften und Eltern gesunken, seit es möglich sei, Sonderschüler in die
Regelklasse zu integrieren. Die Zahl der integrierten Sonderschüler ist innert
weniger Jahre von 500 auf über 2000 gestiegen.
Diese Quotentreiber
wirken aber von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich stark und in manchen fast
gar nicht. Ein wichtiger Grund ist laut Meier, dass die Abklärungsverfahren
variieren. Das gleiche Kind wird am einen Ort zum Sonderschüler erklärt und am
anderen nicht. Dieses Manko sollte bald behoben sein: Das Volksschulamt führt
derzeit einheitliche Verfahren ein.
Ein anderer Grund für
die Unterschiede sind die verschiedenen Kulturen, die in den Schulhäusern
herrschen. Entscheidend ist die Frage, wie ausgeprägt der Wille ist, möglichst
viele Kinder in der Regelklasse zu behalten – insbesondere seitens der
Schulleitung. Wo die Lehrkräfte kaum Hilfe von Heilpädagogen in Anspruch
nehmen, um sich über Problemfälle auszutauschen und Lösungen zu suchen, steigt
die Quote tendenziell. Wer Probleme aussitzt, verschärft sie und produziert am
Ende Sonderschüler.
Die
Kehrseite des Integrationserfolgs
Es
gibt aber auch anders gelagerte Fälle. Die Gemeinde Wald im Zürcher Oberland
etwa war laut Schulpflegepräsident Fredi Murbach eine der ersten, die stark auf
Integration in die Regelklasse setzte. «Wir wollten, dass Walder Kinder in Wald
zur Schule gehen können, und wir hatten
Erfolg damit.» Dennoch geriet die Gemeinde nun mit einer Quote von 3,6 Prozent
in den Fokus des Volksschulamts.
Überrascht hat dies
Murbach nicht. Die Schulpflege habe selbst gemerkt, dass sie immer mehr Anträge
auf Sonderschulmassnahmen behandeln musste. Murbach sagt, dies sei die
Kehrseite der Medaille: Weil die Lehrerinnen und Lehrer aufgrund der besonderen
Kultur in Wald ein Augenmerk darauf hatten, mögliche Sonderschüler individuell
zu fördern, gerieten auch mehr Fälle zur Abklärung. «Das ist keine
Fehlentwicklung – aber unter dem Gesichtspunkt der Finanzen sieht es natürlich
anders aus.»
Etwa die Hälfte jener 75
Zürcher Gemeinden, die mit ihrer Quote über dem Grenzwert lagen, hat auf die
Warnung des Volksschulamts reagiert. Sie haben eingewilligt, zusammen mit den
kantonalen Fachleuten Gegenmassnahmen zu ergreifen.
So
packt die Gemeinde Wald das Problem an
In Wald unternimmt man
laut Murbach einen Effort im vorschulischen Bereich, um Probleme möglichst früh
zu erkennen. So sind künftig zum Schulbegrüssungstag auch die Eltern von
3-Jährigen eingeladen, zusammen mit den Vertretern von Krippen, Tagesfamilien
und Spielgruppen. Dort sagt man ihnen etwa, wie wichtig es für die Entwicklung
der Kinder ist, dass sie draussen mit anderen spielen statt nur drinnen vor dem
Computer.
Eine andere Massnahme:
Die Schule stellt interne Fachteams auf, die den Lehrern in schwierigen
Situationen helfen. Sie sollen bunt zusammengewürfelte Klassen führen können,
ohne Problemfälle zu Sonderschülern machen zu müssen. Zudem sollen die
Regelklassen gestärkt werden mit eingespielten Lehrertandems statt einer Vielzahl
verschiedener Sonderpädagogen.
Eine dritte Massnahme:
Die Deutschkurse für Migranten drehen sich in Wald neuerdings um Schulthemen,
damit die Eltern frühzeitig lernen, was zum Beispiel ein Zeugnis für eine
Bedeutung hat.
Fallpauschalen
wie im Spital?
Solche Massnahmen haben
laut Urs Meier vom Volksschulamt dazu geführt, dass die Zahl der Sonderschüler
nun erstmals seit Jahren wieder leicht sinkt. Insbesondere, was die teureren
separierten Lösungen angeht. Damit der Trend anhält, sind beim Volksschulamt
weitere Neuheiten in Arbeit. Zum Beispiel eine Planung der Sonderschulplätze,
damit der Bedarf das Angebot steuert und nicht umgekehrt. Eine andere Idee ist,
den Sonderschulen eine Pauschale zu bezahlen für jedes Kind, ähnlich wie den
Spitälern. Das soll verhindern, dass die Fallkosten in den Himmel schiessen.
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