findet sich die Schule in Schieflage? Wie retten wir unsere Lehrer?
Weniger Geschwurbel, mehr Klartext.
Gängelung von oben, Weltwoche, 6.11. von Philipp Gut und Peter Keller
Ein Berufsstand am seelischen Abgrund: Jeder dritte Lehrer in der
Schweiz fühlt sich ausgelaugt und steht vor dem Burnout. Eine neue
Nationalfondsstudie kommt zu alarmierenden Resultaten. Rund zwanzig Prozent der
befragten Pädagogen geben an, «ständig überfordert» zu sein. Nur schon auf der
Oberstufe seien mehr als 10 000 Lehrer akut gefährdet, heisst es im Bericht.
Die Betroffenen kommen auch in der Freizeit nicht mehr zur Ruhe und klagen,
müde, schwach und krankheitsanfällig zu sein.
Selbst wenn der Befund Burnout heutzutage etwas gar schnell bei der
Hand ist: Diese Studie muss zu denken geben, die Aussagen der Lehrer sind ernst
zu nehmen. Offenbar leidet hier ein Berufsstand kollektiv an seiner
Arbeitssituation. Wenn aber die Schule krankt, wird früher oder später auch der
Werk- und Innovationsplatz Schweiz leiden.
Die Weltwoche hat Gespräche mit verschiedenen
Volksschullehrern auf der Unter- und Oberstufe geführt. Deutlich wird: Als
belastend werden immer wieder dieselben Faktoren bezeichnet. Die Überforderung
hat System. Und sie ist zu grossen Teilen hausgemacht. Sie liesse sich also –
wir kommen darauf zurück – weitgehend auch vermeiden.
1 — Gewachsene Ansprüche An die
Lehrer werden heute wesentlich mehr Erwartungen gestellt als früher. Ein
Betroffener spricht von «Heilserwartungen» der Gesellschaft. Will heissen: Die
Schule ist zur Reparaturwerkstätte für politisch-gesellschaftliche
Fehlentwicklungen und elterliches Erziehungsversagen geworden. Schüler in
grosser Zahl, die nicht oder nur radebrechend Deutsch sprechen, oder Kinder,
die sich nicht zu benehmen wissen – die Lehrer müssen damit fertig werden und
die Defizite ausbügeln. Sie sollen nicht nur unterrichten, sondern auch
erziehen und integrieren.
Hinzu kommen, mindestens so wichtig, überzogene und in der Praxis kaum
umsetzbare pädagogische Ansprüche. In der Ausbildung wird der Grundsatz
vermittelt, aus jedem Kind lasse sich fast alles machen. Die Folge sind
breitangelegte, vielfältige Förderprogramme. Ein Heer an Sonderpädagogen,
schulischen Sozialarbeitern, Logopäden, Deutschnachhilfelehrern besucht den
Unterricht oder nimmt einzelne Schüler zwecks Sonderförderung heraus – eine
Quelle ständiger Unruhe.
Besonders im Schwange – und besonders aufwendig für die Lehrer – ist das
sogenannte Individualisieren. Also die Idee, jedem Kind gerecht zu werden und
es gezielt zu fördern. Das klingt bestechend; dass die Kinder verschieden sind,
ist klar. Auch den Eltern lässt sich das Konzept des Individualisierens gut
verkaufen. Für die Lehrer bedeutet das allerdings, konsequent umgesetzt, einen
kaum mehr zu leistenden Mehraufwand – in Vorbereitung, Durchführung,
Nachbearbeitung. Soll man beim Lernen der Französischvokabeln 24 verschiedene
Tempi anschlagen? Sollen die einen bis tausend rechnen, die andern bis zehn?
An seine natürlichen Grenzen stösst der massgeschneiderte Unterricht
spätestens beim Übertritt in die Oberstufe. Da werden verbindliche Fähigkeiten
und klar definiertes Wissen verlangt. Messbar, für alle. «Aus Tannenholz kann
man kein Mahagonimöbel zimmern», sagt der ehemalige Sekundarschullehrer und
Zürcher Bildungsrat Hanspeter Amstutz – und bringt damit die überzogenen
Erwartungen an das Allheilmittel des individualisierenden Unterrichts auf den
Punkt. Wenn Lehrer reihenweise unter den Anforderungen dieser À-la-carte-Schule
zusammenbrechen, ist niemandem gedient – zuletzt den Schülern.
2 — Fehlendes Handwerk oder: Wer kann noch eine Klasse führen? Neue Unterrichtsformen wie das erwähnte Individualisieren,
Gruppen- und Projektunterricht, selbständiges Lernen bedeuten für die Lehrer
mehr Vorarbeit. Damit einher geht eine Neudefinition des Lehrberufs, die
wiederum dazu führt, dass Lehrer mit ihren Klassen nicht mehr zurechtkommen. Es
herrsche heute ein «diffuses Lehrerbild», sagt ein Praktiker, der regelmässig
Studenten von pädagogischen Hochschulen (PH) betreut. Der Lehrer sei kein
Lehrer mehr, sondern – so werde es schon in der Ausbildung vermittelt – ein
«Moderator» oder «Coach».
Um den autonomen Lehrer zu diskreditieren – lange machte die relative
Freiheit den Lehrerjob attraktiv –, spricht man neuerdings abwertend vom
«Einzelkämpfer». Das Team ist heute alles, der Einzelne steht unter Verdacht.
Doch die Teamarbeit hat ihren Preis: Der Koordinationsaufwand steigt erheblich.
Und die Abwertung der Klassenlehrfunktion schon in der Ausbildung führt dazu,
dass viele Junglehrer gar nicht mehr wissen, wie man eine Klasse führt. «Es
fehlt oft am handwerklichen Können», sagt ein erfahrener Praktikumslehrer.
Eine Untersuchung im Kanton Zürich kam kürzlich zum selben Befund: Die
ungenügende Vorbereitung auf die Klassenlehrfunktion wurde dort als grösster
Schwachpunkt der Lehrerbildung identifiziert.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine vielzitierte Studie von
John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität
Melbourne. Hattie wertete alle verfügbaren Daten zum Schulerfolg in der
englischsprachigen Welt aus. Sein Befund: Entscheidend für den Lernerfolg ist
der Lehrer und nicht die Ausstattung oder die Lernmethode oder das Geld, das in
die Bildung gesteckt wird. Es kommt darauf an, dass der Lehrer eine Persönlichkeit
ist und dass er weiss, was er will. Ein erfolgreicher Lehrer dürfe kein blosser
Lernbegleiter sein, kein moderierender Architekt von Lernlandschaften. Er müsse
vielmehr als Regisseur auftreten, der die einzelnen Schüler überblickt und die Klasse
im Griff hat. Das leuchtet ein – doch die jüngsten Entwicklungen laufen, wie
geschildert, in die entgegengesetzte Richtung.
Zu beobachten ist eine Art Verantwortungsdiffusion: Kein Lehrer ist mehr
allein zuständig, man verzettelt sich in verschiedenen Klassen oder gar
Schulhäusern und Orten. So werde es schwierig, «Lernbeziehungen» aufzubauen,
sagt eine Sekundarlehrerin.
3 — Die Integration schwieriger Schüler in die Regelklassen «Integrieren statt Separieren»: So lautet ein Hauptprinzip der
internationalen Erziehungswissenschaft. Auch in der Schweiz: Sonderschulen und
Kleinklassen wurden geschlossen, behinderte, aber auch verhaltensauffällige
Schüler in die Regelklassen aufgenommen. Wenn ein Kind eine leichte
Leseschwäche hat, stört das den Unterricht natürlich nicht. Das Problem seien
vor allem die Schüler mit charakterlichen Defiziten, sagen die befragten
Lehrer übereinstimmend. Ein, zwei unverbesserliche Störenfriede reichten, damit
die Klasse aus dem Gleichgewicht gerate. Das gilt umso mehr in einem Umfeld,
in dem schon die Situation mit den normalen Schülern viele Lehrer vor
Schwierigkeiten stellt.
Ein Tabuthema ist zudem die schwierige Integration von Schülern mit
Migrationshintergrund – oder generell der anspruchsvolle Unterricht in Klassen
mit sehr hohen Ausländeranteilen. Angesprochene Lehrpersonen getrauen sich
kaum, das Problem beim Namen zu nennen, was aber nichts an der problematischen
Situation ändert.
4 — Das Rotationsprinzip Für
Unruhe sorgen indes nicht nur schwierige Schüler, sondern auch die Lehrer
selber. Das hat zwei Ursachen. Immer mehr, vor allem weibliche Lehrkräfte, die
längst das Gros des Personals stellen, arbeiten Teilzeit. Manche in Minipensen
von wenigen Wochenstunden. Eine seriöse Übergabe von einer Lehrerin zu anderen
braucht Zeit: Wie weit ist die Klasse gekommen? Wo hat Hans ein spezielles Problem?
Ist Heidi immer noch krank? Der Koordinationsaufwand steigt beträchtlich. Man
schreibt sich E-Mails, telefoniert, organisiert, sitzt zusammen – jede Woche
stundenlang. «Ein ungeheurer Zeitverlust», klagt ein Lehrer. Eine andere
Lehrperson mit Vollpensum schildert, wie die Stundenpläne an ihrer Schule
zustande kämen. «Da kommt Lehrerin F. und erklärt, sie könne nur am Freitag
unterrichten, da dann das Grosi ihre beiden Kinder hüte. Am Ende wird der ganze
Stundenplan um die Bedürfnisse dieser Teilzeitlehrer herum gebaut, und wir
können sehen, wo wir bleiben.»
Zugleich bleiben immer weniger junge Lehrpersonen im Schuldienst. Jede
zweite quittiert ihn nach fünf Jahren. Das führt zu einem Verlust an
pädagogischem und didaktischem Know-how. Man stelle sich vor, jeder zweite Arzt
gäbe seinen Job nach fünf Jahren auf. Wertvolles Erfahrungswissen geht
verloren. Für die übrigen Lehrer steigt derweil die Last. «Die verbleibenden müssen
viel mehr Einführungsarbeit leisten und laufend Unterstützung für die neuen
bieten», sagt eine erfahrene Lehrerin.
5 — In den Klauen des bürokratischen Ungeheuers Mehr Papier, mehr Protokolle, mehr Berichte, mehr Vorschriften,
mehr Sitzungen, mehr Elterngespräche, mehr verordnete Weiterbildungen – für
viele Lehrer ist die Schule zum Bürokratiemonster geworden. Dieser
Zusatzaufwand sei mindestens so belastend wie die teils schwierige Situation im
Klassenzimmer. Ein Beispiel sind die überdetaillierten Sprachzeugnisse: In
manchen Kantonen werden vier Teilzensuren pro Sprache vergeben. Das macht, bei
drei Sprachen, zwölf Rubriken. Die Folge: mehr Tests, mehr Beurteilungen,
mehr Arbeit. Bei fraglichem Nutzen. Deutsch mündlich und schriftlich: Reicht
das nicht auch? Ein langjähriger Lehrer spricht von einem «Steuerungswahn».
In diesem Zusammenhang taucht eine Figur immer wieder auf: der
Schulleiter. Sein Auftrag bestünde darin, die Lehrpersonen in ihrer täglichen
Arbeit zu entlasten. Allerdings wird er oft genau andersrum erlebt. «Ich habe
schon alles gesehen», berichtet eine Lehrerin. «Mein jetziger Schulleiter ist
uns eine grosse Stütze. An der letzten Schule war es umgekehrt und ein
wichtiger Grund, warum mir die Stelle verleidet ist.» Manche Schulleiter
herrschten wie kleine Fürsten über ihre Reiche. Nicht selten würden
gescheiterte Lehrerexistenzen diesen Karriereschritt ansteuern. «Einer meiner
Kollegen hat die Schulleiterausbildung absolviert», erzählt ein Ostschweizer
Primarlehrer. Als er zurückkam, sei er ihm wie «abgerichtet» vorgekommen. Nun
werde die ländlich gelegene Schule, die eigentlich bestens funktioniert habe,
komplett umgebaut nach dem integrativen Schulmodell. Zur Unzufriedenheit
aller. Viele Lehrer hätten sich inzwischen in eine Art innere Emigration
zurückgezogen. Der ideale Nährboden für ein Burnout.
6 — Von oben verordneter Reformzwang Der Tanker Schule driftet in die falsche Richtung – und es wird
weiter Vollgas gegeben. Der anstehende Lehrplan 21 (LP 21) mit seinen 4753
Kompetenzen ist die nächste grosse Reform, die über die Schulen hereinbrechen
soll. Statt sich auf das Wesentliche zu besinnen, zerstört der LP 21 endgültig
bewährte Strukturen: Klassenjahrgänge sind nicht mehr vorgesehen, dafür wird
die Volksschule in drei «Lernzyklen» unterteilt. Eine Lehrerin beschreibt, was
das heisst: «Schon jetzt müssen wir in langen Teamsitzungen mühsam Jahresziele
ausarbeiten, statt dass wir uns unserer eigentlichen Arbeit widmen können: den
Unterricht vor- und nachzubereiten.» Die heutigen Lehrpläne seien zu schwammig
formuliert. «Es liegen nicht einmal Stufenziele vor.» Mit den Lernzyklen des LP
21 wird diese Situation noch verschlimmert.
Wie retten wir die Lehrer?
Vor kurzem wurde im Kanton Zürich ein Schulversuch gestartet mit dem Namen
«Starke Lernbeziehungen». Man hat festgestellt, dass zu viele Lehrpersonen in
einer Klasse tätig sind. Kinder können so kaum mehr eine emotionale Beziehung
zu ihrer Lehrperson aufbauen, die aber wesentlich wäre für den Lernprozess.
Ironie der Geschichte: Die Ausrichtung auf Fachlehrer statt auf eine
Klassenlehrperson, die praktisch alle Fächer in der Primarschule noch selber
unterrichten konnte, kommt von den pädagogischen Hochschulen selber. Nun soll
mit einem Schulversuch der Schulversuch von gestern korrigiert werden und das
bewährte Klassenlehrermodell von vorgestern wieder hergestellt werden.
Reformitis macht nicht nur krank – sie ist krank.
Entmachtung und bessere Kontrolle der pädagogischen Hochschulen: Die
Ausbildung der Primarlehrer wurde unnötig akademisiert, um internationalen
Ausbildungskonzepten nachzueifern. Heute müssen angehende Lehrer
«wissenschaftliche» Arbeiten vorlegen. Dabei sollte der Fokus der Ausbildung
ganz anders ausgerichtet sein: auf die Persönlichkeit des Lehrers, auf die
Herausbildung seiner Führungsqualitäten, auf eine praxisnahe Didaktik. Dazu
kommt, dass die pädagogischen Hochschulen Brutstätten von Bildungsreformen sind
und die Schulen und Schulbehörden vor vollendete Tatsachen stellen. Ein
Beispiel dafür ist die Kompetenzorientierung des Unterrichts, die wie ein Dogma
verkündet wird. Wie kommen solche tiefgreifenden Weichenstellungen zustande?
Wer kontrolliert die pädagogischen Hochschulen? Hier muss die Politik aktiv
werden.
Wirkliche Entlastung: Kleinere Klassen wirken sich spürbar auf den
Unterricht aus. Lernziele lassen sich einfacher erreichen wie auch eine bessere
Disziplin der Schüler. Dafür müssten im Gegenzug weniger Mittel für sonderpädagogische
Massnahmen und Therapeuten ausgegeben werden.
Anreize für Klassenlehrer und Vollzeitpensen: Wer Verantwortung als
Klassenlehrer übernimmt oder zu hundert Prozent Schule gibt, soll das auch
finanziell spüren. Mini-Pensen sollen dafür deutlich schlechter entschädigt
werden.
Weniger schwurbeln: Etwas mehr Klartext würde der Schule guttun. Zu oft
wird um den heissen Brei herumgeredet. Ein freches Kind ist nicht
«verhaltensauffällig», sondern frech. Dazu kommt das akademische Gebrabbel der
Hochschulen. Ein Beispiel aus dem neuen Lehrplan 21: «Unterrichtsmethoden und
Organisationsformen ermöglichen der Lehrperson, auf die heterogenen
Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lernenden und die Zusammensetzung der
Klasse bzw. der Lerngruppe einzugehen. Sie variieren passend zu den
Unterrichtszielen die Inszenierungsmuster, die Lehr- und Lernformen und den
Unterrichtsverlauf. Variable Unterrichtsarrangements machen eine
Differenzierung vor allem über die Sozialform und das Ausmass an Fremd- bzw.
Selbststeuerung möglich.» Und das soll eine praxistaugliche Anleitung für den Unterricht
sein?
Mehr Selbstbestimmung: Lehrer müssen wieder ihre Autonomie
zurückgewinnen, wieder zu pädagogischen Unternehmen werden. Dazu gehört
weniger Methodenzwang und Gängelung von oben. Denn am Ende müssen Lehrer,
Kinder und Eltern ausbügeln, was der Reformdrang von Bildungstechnokraten in
der Schule anrichtet. Mehr Freiheit, weniger Burnout.
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