6. November 2014

Wie retten wir unsere Lehrer?

Rund ein Drittel der Schweizer Lehrer ist Burnout-gefährdet. Die Ursachen sind vor allem hausgemacht. Bildungsakademiker machen den Praktikern das Leben schwer. Warum be
findet sich die Schule in Schieflage? Wie retten wir unsere Lehrer?




Weniger Geschwurbel, mehr Klartext.

Gängelung von oben, Weltwoche, 6.11. von Philipp Gut und Peter Keller


Ein Berufsstand am seelischen Abgrund: Jeder dritte Lehrer in der Schweiz fühlt sich aus­gelaugt und steht vor dem Burnout. Eine neue Nationalfondsstudie kommt zu alarmierenden Resultaten. Rund zwanzig Prozent der ­befragten Pädagogen geben an, «ständig überfordert» zu sein. Nur schon auf der Oberstufe seien mehr als 10 000 Lehrer akut gefährdet, heisst es im Bericht. Die Betroffenen kommen auch in der Freizeit nicht mehr zur Ruhe und klagen, müde, schwach und krankheitsanfällig zu sein.
Selbst wenn der Befund Burnout heutzu­tage etwas gar schnell bei der Hand ist: Diese Studie muss zu denken geben, die Aussagen der Lehrer sind ernst zu nehmen. Offenbar ­leidet hier ein Berufsstand kollektiv an seiner Arbeitssituation. Wenn aber die Schule krankt, wird früher oder später auch der Werk- und ­Innovationsplatz Schweiz leiden.
Die Weltwoche hat Gespräche mit verschiedenen Volksschullehrern auf der Unter- und Oberstufe geführt. Deutlich wird: Als belastend werden immer wieder dieselben Faktoren bezeichnet. Die Überforderung hat System. Und sie ist zu grossen Teilen hausgemacht. Sie liesse sich also – wir kommen darauf zurück – weitgehend auch vermeiden.
1 — Gewachsene Ansprüche An die Lehrer werden heute wesentlich mehr Erwartungen gestellt als früher. Ein Betroffener spricht von «Heilserwartungen» der Gesellschaft. Will heissen: Die Schule ist zur Reparaturwerk­stätte für politisch-gesellschaftliche Fehlentwicklungen und elterliches Erziehungsversagen geworden. Schüler in grosser Zahl, die nicht oder nur radebrechend Deutsch sprechen, oder Kinder, die sich nicht zu benehmen wissen – die Lehrer müssen damit fertig werden und die Defizite ausbügeln. Sie sollen nicht nur unterrichten, sondern auch erziehen und integrieren.
Hinzu kommen, mindestens so wichtig, überzogene und in der Praxis kaum umsetz­bare pädagogische Ansprüche. In der Aus­bildung wird der Grundsatz vermittelt, aus ­jedem Kind lasse sich fast alles machen. Die Folge sind breitangelegte, vielfältige Förderprogramme. Ein Heer an Sonderpädagogen, schulischen Sozialarbeitern, Logopäden, Deutschnachhilfelehrern besucht den Unterricht oder nimmt einzelne Schüler zwecks Sonderförderung heraus – eine Quelle stän­diger Unruhe.
Besonders im Schwange – und besonders aufwendig für die Lehrer – ist das sogenannte Individualisieren. Also die Idee, jedem Kind gerecht zu werden und es gezielt zu fördern. Das klingt bestechend; dass die Kinder verschieden sind, ist klar. Auch den Eltern lässt sich das Konzept des Individualisierens gut verkaufen. Für die Lehrer bedeutet das allerdings, konsequent umgesetzt, einen kaum mehr zu leistenden Mehraufwand – in Vor­bereitung, Durchführung, Nachbearbeitung. Soll man beim Lernen der Französisch­vokabeln 24 verschiedene Tempi anschlagen? ­Sollen die einen bis tausend rechnen, die andern bis zehn?
An seine natürlichen Grenzen stösst der massgeschneiderte Unterricht spätestens beim Übertritt in die Oberstufe. Da werden verbindliche Fähigkeiten und klar definiertes Wissen verlangt. Messbar, für alle. «Aus ­Tannenholz kann man kein Mahagonimöbel zimmern», sagt der ehemalige Sekundarschullehrer und Zürcher Bildungsrat Hans­peter Amstutz – und bringt damit die überzogenen Erwartungen an das Allheilmittel des individualisierenden Unterrichts auf den Punkt. Wenn Lehrer reihenweise unter den Anforderungen dieser À-la-carte-Schule zusammenbrechen, ist niemandem gedient – ­zuletzt den Schülern.
2 — Fehlendes Handwerk oder: Wer kann noch eine Klasse führen? Neue Unterrichtsformen wie das erwähnte Individualisieren, Gruppen- und Projektunterricht, selbständiges Lernen bedeuten für die Lehrer mehr Vorarbeit. Damit einher geht eine Neudefinition des Lehrberufs, die wiederum dazu führt, dass Lehrer mit ihren Klassen nicht mehr zurechtkommen. Es herrsche heute ein «diffuses ­Lehrerbild», sagt ein Praktiker, der regel­mässig Studenten von pädagogischen Hochschulen (PH) betreut. Der Lehrer sei kein Lehrer mehr, sondern – so werde es schon in der Ausbildung vermittelt – ein «Moderator» oder «Coach».
Um den autonomen Lehrer zu diskreditieren – lange machte die relative Freiheit den Lehrerjob attraktiv –, spricht man neuerdings abwertend vom «Einzelkämpfer». Das Team ist heute alles, der Einzelne steht unter Verdacht. Doch die Teamarbeit hat ihren Preis: Der Koordinationsaufwand steigt erheblich. Und die Abwertung der Klassenlehrfunktion schon in der Ausbildung führt dazu, dass viele Junglehrer gar nicht mehr wissen, wie man ­eine Klasse führt. «Es fehlt oft am handwerk­lichen Können», sagt ein erfahrener Praktikumslehrer. Eine Untersuchung im Kanton Zürich kam kürzlich zum selben Befund: Die ungenügende Vorbereitung auf die Klassenlehrfunktion wurde dort als grösster Schwachpunkt der Lehrerbildung identifiziert.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ­eine vielzitierte Studie von John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Melbourne. Hattie wertete alle verfügbaren Daten zum Schulerfolg in der englischsprachigen Welt aus. Sein Befund: Entscheidend für den Lernerfolg ist der Lehrer und nicht die Ausstattung oder die Lernmethode oder das Geld, das in die Bildung gesteckt wird. Es kommt darauf an, dass der ­Lehrer eine Persönlichkeit ist und dass er weiss, was er will. Ein erfolgreicher Lehrer dürfe kein blosser Lernbegleiter sein, kein moderierender Architekt von Lernlandschaften. Er müsse vielmehr als Regisseur auftreten, der die einzelnen Schüler überblickt und die Klasse im Griff hat. Das leuchtet ein – doch die jüngsten Entwicklungen laufen, wie geschildert, in die entgegengesetzte Richtung.
Zu beobachten ist eine Art Verantwortungsdiffusion: Kein Lehrer ist mehr allein zuständig, man verzettelt sich in verschiedenen Klassen oder gar Schulhäusern und Orten. So werde es schwierig, «Lernbeziehungen» aufzubauen, sagt eine Sekundarlehrerin.
3 — Die Integration schwieriger Schüler in die Regelklassen «Integrieren statt Sepa­rieren»: So lautet ein Hauptprinzip der internationalen Erziehungswissenschaft. Auch in der Schweiz: Sonderschulen und Kleinklassen wurden geschlossen, behinderte, aber auch verhaltensauffällige Schüler in die Regel­klassen aufgenommen. Wenn ein Kind eine leichte Leseschwäche hat, stört das den Unterricht natürlich nicht. Das Problem seien vor ­allem die Schüler mit charakterlichen Defiziten, sagen die befragten Lehrer übereinstimmend. Ein, zwei unverbesserliche Störenfriede reichten, damit die Klasse aus dem Gleichgewicht ge­rate. Das gilt umso mehr in einem Umfeld, in dem schon die Situation mit den normalen Schülern viele Lehrer vor Schwierigkeiten stellt.
Ein Tabuthema ist zudem die schwierige ­Integration von Schülern mit Migrationshintergrund – oder generell der anspruchsvolle Unterricht in Klassen mit sehr hohen Ausländeranteilen. Angesprochene Lehrpersonen getrauen sich kaum, das Problem beim Namen zu nennen, was aber nichts an der problematischen Situation ändert.
4 — Das Rotationsprinzip Für Unruhe ­sorgen indes nicht nur schwierige Schüler, sondern auch die Lehrer selber. Das hat zwei Ursachen. Immer mehr, vor allem weibliche Lehrkräfte, die längst das Gros des Personals stellen, arbeiten Teilzeit. Manche in Mini­pensen von wenigen Wochenstunden. Eine seriöse Übergabe von einer Lehrerin zu an­deren braucht Zeit: Wie weit ist die Klasse ­gekommen? Wo hat Hans ein spezielles ­Problem? Ist Heidi immer noch krank? Der Koordinationsaufwand steigt beträchtlich. Man schreibt sich E-Mails, telefoniert, organisiert, sitzt zusammen – jede Woche stundenlang. «Ein ­ungeheurer Zeitverlust», klagt ein Lehrer. Eine andere Lehrperson mit Vollpensum schildert, wie die Stundenpläne an ihrer Schule zustande kämen. «Da kommt Lehrerin F. und erklärt, sie könne nur am Freitag unterrichten, da dann das Grosi ihre beiden Kinder hüte. Am Ende wird der ganze Stundenplan um die Bedürfnisse dieser Teilzeitlehrer herum gebaut, und wir können ­sehen, wo wir bleiben.»
Zugleich bleiben immer weniger junge Lehrpersonen im Schuldienst. Jede zweite quittiert ihn nach fünf Jahren. Das führt zu ­einem Verlust an pädagogischem und didaktischem Know-how. Man stelle sich vor, jeder zweite Arzt gäbe seinen Job nach fünf Jahren auf. Wertvolles Erfahrungswissen geht verloren. Für die übrigen Lehrer steigt derweil die Last. «Die verbleibenden müssen viel mehr Einführungsarbeit leisten und laufend Unterstützung für die neuen bieten», sagt eine ­erfahrene Lehrerin.
5 — In den Klauen des bürokratischen Ungeheuers Mehr Papier, mehr Protokolle, mehr Berichte, mehr Vorschriften, mehr Sitzungen, mehr Elterngespräche, mehr verordnete Weiterbildungen – für viele Lehrer ist die Schule zum Bürokratiemonster geworden. Dieser Zusatzaufwand sei mindestens so belastend wie die teils schwierige Situation im Klassen­zimmer. Ein Beispiel sind die überdetaillierten Sprachzeugnisse: In manchen Kantonen werden vier Teilzensuren pro Sprache vergeben. Das macht, bei drei Sprachen, zwölf Ru­briken. Die Folge: mehr Tests, mehr Beurtei­lungen, mehr Arbeit. Bei fraglichem Nutzen. Deutsch mündlich und schriftlich: Reicht das nicht auch? Ein langjähriger Lehrer spricht von einem «Steuerungswahn».
In diesem Zusammenhang taucht eine Figur immer wieder auf: der Schulleiter. Sein Auftrag bestünde darin, die Lehrpersonen in ihrer täglichen Arbeit zu entlasten. Allerdings wird er oft genau andersrum erlebt. «Ich habe schon alles gesehen», berichtet eine Lehrerin. «Mein jetziger Schulleiter ist uns eine grosse Stütze. An der letzten Schule war es umgekehrt und ein wichtiger Grund, warum mir die Stelle verleidet ist.» Manche Schulleiter herrschten wie kleine Fürsten über ihre Reiche. Nicht selten würden gescheiterte Lehrerexistenzen diesen Karriereschritt ansteuern. «Einer meiner Kollegen hat die Schulleiterausbildung absolviert», erzählt ein Ostschweizer Primarlehrer. Als er zurückkam, sei er ihm wie «abgerichtet» vorgekommen. Nun werde die ländlich gele­gene Schule, die ­eigentlich bestens funktioniert habe, komplett umgebaut nach dem integrativen ­Schul­modell. Zur Unzufriedenheit aller. Viele Lehrer hätten sich inzwischen in eine Art ­innere Emigration zurückgezogen. Der ideale Nährboden für ein Burnout.
6 — Von oben verordneter Reformzwang Der Tanker Schule driftet in die falsche Richtung – und es wird weiter Vollgas gegeben. Der anstehende Lehrplan 21 (LP 21) mit seinen 4753 Kompetenzen ist die nächste grosse Reform, die über die Schulen hereinbrechen soll. Statt sich auf das Wesentliche zu besinnen, zerstört der LP 21 endgültig bewährte Strukturen: Klassenjahrgänge sind nicht mehr vor­gesehen, dafür wird die Volksschule in drei «Lernzyklen» unterteilt. Eine Lehrerin beschreibt, was das heisst: «Schon jetzt müssen wir in langen Teamsitzungen mühsam Jahresziele ausarbeiten, statt dass wir uns unserer ­eigentlichen Arbeit widmen können: den ­Unterricht vor- und nachzubereiten.» Die heutigen Lehrpläne seien zu schwammig formuliert. «Es liegen nicht einmal Stufenziele vor.» Mit den Lernzyklen des LP 21 wird diese Situation noch verschlimmert.
Wie retten wir die Lehrer?
Vor kurzem wurde im Kanton Zürich ein Schulversuch gestartet mit dem Namen ­«Starke Lernbeziehungen». Man hat fest­gestellt, dass zu viele Lehrpersonen in einer ­Klasse tätig sind. Kinder können so kaum mehr eine emotionale Beziehung zu ihrer Lehrperson aufbauen, die aber wesentlich ­wäre für den Lernprozess. Ironie der Geschichte: Die Ausrichtung auf Fachlehrer statt auf ­eine Klassenlehrperson, die praktisch alle ­Fächer in der Primarschule noch selber unterrichten konnte, kommt von den pädagogischen Hochschulen selber. Nun soll mit einem Schulversuch der Schulversuch von gestern korrigiert werden und das bewährte Klassenlehrermodell von vorgestern wieder hergestellt werden. Reformitis macht nicht nur krank – sie ist krank.
Entmachtung und bessere Kontrolle der ­pädagogischen Hochschulen: Die Ausbildung der Primarlehrer wurde unnötig akademisiert, um internationalen Ausbildungskonzepten nachzueifern. Heute müssen ange­hende Lehrer «wissenschaftliche» Arbeiten vorlegen. Dabei sollte der Fokus der Ausbildung ganz anders ausgerichtet sein: auf die Persönlichkeit des Lehrers, auf die Heraus­bildung seiner Führungsqualitäten, auf eine praxisnahe Didaktik. Dazu kommt, dass die pädagogischen Hochschulen Brutstätten von Bildungsreformen sind und die Schulen und Schulbehörden vor vollendete Tatsachen stellen. Ein Beispiel dafür ist die Kompetenz­orientierung des Unterrichts, die wie ein ­Dogma verkündet wird. Wie kommen solche tiefgreifenden Weichenstellungen zustande? Wer kontrolliert die pädagogischen Hochschulen? Hier muss die Politik aktiv werden.
Wirkliche Entlastung: Kleinere Klassen ­wirken sich spürbar auf den Unterricht aus. Lernziele lassen sich einfacher erreichen wie auch eine bessere Disziplin der Schüler. Dafür müssten im Gegenzug weniger Mittel für ­sonderpädagogische Massnahmen und Therapeuten ausgegeben werden.
Anreize für Klassenlehrer und Vollzeit­pensen: Wer Verantwortung als Klassenlehrer übernimmt oder zu hundert Prozent Schule gibt, soll das auch finanziell spüren. Mini-Pensen sollen dafür deutlich schlechter entschädigt werden.
Weniger schwurbeln: Etwas mehr Klartext würde der Schule guttun. Zu oft wird um den heissen Brei herumgeredet. Ein freches Kind ist nicht «verhaltensauffällig», sondern frech. ­Dazu kommt das akademische Gebrabbel der Hochschulen. Ein Beispiel aus dem neuen Lehrplan 21: «Unterrichtsmethoden und Organisa­tionsformen ermöglichen der Lehrperson, auf die heterogenen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lernenden und die Zusammen­setzung der Klasse bzw. der Lerngruppe einzugehen. Sie variieren passend zu den Unterrichtszielen die Inszenierungsmuster, die Lehr- und Lernformen und den Unterrichtsverlauf. Variable Unterrichtsarrangements machen eine Differenzierung vor allem über die Sozialform und das Ausmass an Fremd- bzw. Selbststeuerung möglich.» Und das soll eine praxistaugliche Anleitung für den Unterricht sein?

Mehr Selbstbestimmung: Lehrer müssen wieder ihre Autonomie zurückgewinnen, ­wieder zu pädagogischen Unternehmen werden. Dazu gehört weniger Methodenzwang und Gängelung von oben. Denn am Ende müssen Lehrer, Kinder und Eltern ausbügeln, was der Reformdrang von Bildungstechnokraten in der Schule anrichtet. Mehr Freiheit, weniger Burnout.

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