17. November 2014

Übertherapierte Kinder aus überforderten Schulen

Die Rede ist von Therapiewahn. Oder wird nur genauer hingeschaut, was ein Kind braucht? «Man weiss heute, wie wichtig die frühen Jahre sind», sagt Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbandes für Lehrerinnen und Lehrer. Der Präsident des Westschweizer Lehrerverbandes, Georges Pasquier, kritisiert aber Übertreibungen bei der Sonderpädagogik: «Immer mehr Kindern wird ein Etikett angeklebt.» Eine leichte Schwäche werde gleich zum Handicap. Kinder würden «übermedizinalisiert und pathologisiert».


Auflösung der Kleinklassen sorgt für mehr Sonderschüler, Bild: Tages Anzeiger

Übertherapierte Kinder aus überforderten Schulen, Südostschweiz, 17.11. von Daniela Karst


Niemand weiss, wie viele Kinder in der Schweiz sonderpädagogisch betreut werden. Der Berner Kinderarzt Rolf Temperli schätzt, dass fast die Hälfte aller Kinder betroffen sind. «Wenn die Norm dem Durchschnitt gleichgesetzt wird, so ist immer die Hälfte unterdurchschnittlich.» Vor 40 Jahren seien nur schwer auffällige Kinder therapiert worden. Der Leiter der Abteilung Sonderpädagogisches des Volksschulamtes des Kantons Zürich, Urs Meier, hält Temperlis Schätzung für zu hoch. Meier geht davon aus, dass etwa ein Fünftel aller Zürcher Kinder der Volksschule sonderpädagogisch betreut wird. Dazu kommen 3,6 Prozent Sonderschüler und Sonderschülerinnen. Das sind jene Kinder, die über eine lange Zeit hinweg besonders stark gefördert werden müssen wie zum Beispiel behinderte oder stark verhaltensauffällige Kinder. Allein für die Sonderschulung wurden 2011 gemäss Bundesamt für Statistik schweizweit 1,9 Milliarden Franken ausgegeben.
Schwierige Integration
Wie stark die Sonderpädagogik zugenommen hat, lässt sich ableiten, weil es Zahlen zu den Sonderschülern gibt. Deren Anzahl hat in den Kantonen Bern wie Zürich zugenommen. In Zürich stieg die Zahl der Sonderschüler in 15 Jahren um fast 120 Prozent. Gründe gibt es viele. Hauptgrund ist, dass in den Nullerjahren wie in der ganzen Schweiz viele Kleinklassen aufgelöst wurden. Rund zwei Drittel dieser Kinder fand in der Regelschule Platz, der andere Drittel aber wurde zu Sonderschülern hochgestuft. «Diese ehemaligen ‘Kleinklässeler’ haben danach mehr Unterstützungsmassnahmen erhalten, als sie vermutlich gebraucht hätten», sagt Meier.
Diagnose Erledigungsblockade
Doch es gibt weitere Gründe für die Zunahme: So gebe es immer mehr komplexe Fälle, «die das System an seine Grenzen bringen», erklärt der Vorsteher des Berner Volksschulamts, Erwin Sommer. Zudem würden Unterstützungsangebote heute eher angenommen als früher. Auch sei die «Sensibilität gegenüber Abweichungen von der Norm» gestiegen und die Diagnostik verfeinert worden. Einige Diagnosen schiessen aber übers Ziel hinaus: «Inzwischen gibt es gar die Erledigungsblockade», sagt Kinderarzt Temperli. «Das Vertrauen schwindet, dass die Kinder schon ihren Weg gehen, manche schneller, manche langsamer.» Eine Therapie stigmatisiere zweifellos. «Andererseits kann eine Diagnose eine Erklärung für ein Defizit liefern und die Therapie helfen, mehr so wie die andern zu sein.» Eltern wie Lehrer wollten für die Kinder das Beste. «Aber was das Beste ist, weiss man nicht genau.» Das sei das Dilemma.
Peter Wüthrich, in Bern verantwortlich für die «Strategie Sonderschulung 2010-15», hinterfragt die Rolle der Schule: «Ist die Schule nur noch Zulieferer für die Wirtschaft, oder darf sie ein Eigenleben haben? Und dürfen die Kinder noch Kinder sein?» Die Direktorin der Stiftung Schweizer Zentrum für Heilpädagogik, Beatrice Kronenberg, erklärt, die Anforderungen an die Schule seien gestiegen. Deren Hauptaufgabe – Wissen vermitteln – gehe unter. Auch die Anforderungen an die Kinder seien gestiegen. Dass Sechsjährige selbstständig lernen müssten, überfordere die Schwächeren.


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