Die Rede ist von
Therapiewahn. Oder wird nur genauer hingeschaut, was ein Kind braucht? «Man
weiss heute, wie wichtig die frühen Jahre sind», sagt Franziska Peterhans,
Zentralsekretärin des Dachverbandes für Lehrerinnen und Lehrer. Der Präsident
des Westschweizer Lehrerverbandes, Georges Pasquier, kritisiert aber
Übertreibungen bei der Sonderpädagogik: «Immer mehr Kindern wird ein Etikett
angeklebt.» Eine leichte Schwäche werde gleich zum Handicap. Kinder würden
«übermedizinalisiert und pathologisiert».
Auflösung der Kleinklassen sorgt für mehr Sonderschüler, Bild: Tages Anzeiger
Übertherapierte Kinder aus überforderten Schulen, Südostschweiz, 17.11. von Daniela Karst
Niemand
weiss, wie viele Kinder in der Schweiz sonderpädagogisch betreut werden. Der
Berner Kinderarzt Rolf Temperli schätzt, dass fast die Hälfte aller Kinder
betroffen sind. «Wenn die Norm dem Durchschnitt gleichgesetzt wird, so ist
immer die Hälfte unterdurchschnittlich.» Vor 40 Jahren seien nur schwer
auffällige Kinder therapiert worden. Der Leiter der Abteilung
Sonderpädagogisches des Volksschulamtes des Kantons Zürich, Urs Meier, hält
Temperlis Schätzung für zu hoch. Meier geht davon aus, dass etwa ein Fünftel
aller Zürcher Kinder der Volksschule sonderpädagogisch betreut wird. Dazu
kommen 3,6 Prozent Sonderschüler und Sonderschülerinnen. Das sind jene Kinder,
die über eine lange Zeit hinweg besonders stark gefördert werden müssen wie zum
Beispiel behinderte oder stark verhaltensauffällige Kinder. Allein für die
Sonderschulung wurden 2011 gemäss Bundesamt für Statistik schweizweit 1,9
Milliarden Franken ausgegeben.
Schwierige
Integration
Wie
stark die Sonderpädagogik zugenommen hat, lässt sich ableiten, weil es Zahlen
zu den Sonderschülern gibt. Deren Anzahl hat in den Kantonen Bern wie Zürich
zugenommen. In Zürich stieg die Zahl der Sonderschüler in 15 Jahren um fast 120
Prozent. Gründe gibt es viele. Hauptgrund ist, dass in den Nullerjahren wie in
der ganzen Schweiz viele Kleinklassen aufgelöst wurden. Rund zwei Drittel
dieser Kinder fand in der Regelschule Platz, der andere Drittel aber wurde zu
Sonderschülern hochgestuft. «Diese ehemaligen ‘Kleinklässeler’ haben danach
mehr Unterstützungsmassnahmen erhalten, als sie vermutlich gebraucht hätten»,
sagt Meier.
Diagnose
Erledigungsblockade
Doch
es gibt weitere Gründe für die Zunahme: So gebe es immer mehr komplexe Fälle,
«die das System an seine Grenzen bringen», erklärt der Vorsteher des Berner
Volksschulamts, Erwin Sommer. Zudem würden Unterstützungsangebote heute eher
angenommen als früher. Auch sei die «Sensibilität gegenüber Abweichungen von
der Norm» gestiegen und die Diagnostik verfeinert worden. Einige Diagnosen
schiessen aber übers Ziel hinaus: «Inzwischen gibt es gar die
Erledigungsblockade», sagt Kinderarzt Temperli. «Das Vertrauen schwindet, dass
die Kinder schon ihren Weg gehen, manche schneller, manche langsamer.» Eine
Therapie stigmatisiere zweifellos. «Andererseits kann eine Diagnose eine
Erklärung für ein Defizit liefern und die Therapie helfen, mehr so wie die
andern zu sein.» Eltern wie Lehrer wollten für die Kinder das Beste. «Aber was
das Beste ist, weiss man nicht genau.» Das sei das Dilemma.
Peter
Wüthrich, in Bern verantwortlich für die «Strategie Sonderschulung 2010-15»,
hinterfragt die Rolle der Schule: «Ist die Schule nur noch Zulieferer für die
Wirtschaft, oder darf sie ein Eigenleben haben? Und dürfen die Kinder noch
Kinder sein?» Die Direktorin der Stiftung Schweizer Zentrum für Heilpädagogik,
Beatrice Kronenberg, erklärt, die Anforderungen an die Schule seien gestiegen.
Deren Hauptaufgabe – Wissen vermitteln – gehe unter. Auch die Anforderungen an
die Kinder seien gestiegen. Dass Sechsjährige selbstständig lernen müssten,
überfordere die Schwächeren.
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