Herr Forneck, selbstorganisiertes Lernen klingt
innovativ. Doch was ist eigentlich neu daran? Hausaufgaben, Referate und
schriftliche Arbeiten müssen Schüler schliesslich auch selber machen.
Das ist richtig. Doch man muss sich bewusst sein,
dass es sich bei diesem Unterrichtskonzept um einen Versuch handelt, auf
Problemlagen zu reagieren, die schon länger existieren.
Welches sind diese Problemlagen?
Wir haben es mit dem Verlust von gemeinsamem Wissen
und Werten zu tun. In den fünfziger Jahren war allen klar, wie man sich zu
benehmen und was man anzustreben hatte. Bürgerliche Werte wurden damals auch
von anderen Schichten akzeptiert. Diesen Kanon gibt es nicht mehr.
Migrationsströme haben zudem dazu geführt, dass Schüler keinen kulturellen
Hintergrund mehr haben, auf den sich alle berufen können.
"Schüler sind doch nicht wegen des Freiraums motiviert", NZZ, 17.11. von Robin Schwarzenbach
Dann geht es darum, dieser Heterogenität der
Gesellschaft gerecht zu werden?
Die Schule hat die Aufgabe, dieses Ungleichgewicht
zumindest zum Teil zu kompensieren, ja.
Kann sie das?
Sie ist die einzige Institution, die dafür infrage
kommt. Das Schulwesen muss angemessen eingehen auf diese Prozesse der
Individualisierung und ihnen Raum geben im Unterricht. Gleichzeitig muss sie
aber auch Wissen und sogenannte Kompetenzen vermitteln - wobei die endlose
Debatte über Kompetenzen ein Hinweis darauf ist, dass es unserer Gesellschaft
nicht mehr gelingt, Inhalte, die die Schule vermitteln soll, gemeinsam
festzulegen.
Wie erklären Sie sich die Grabenkämpfe, die
alternative Lernformen ausgelöst haben?
Reformpädagogische Ansätze lösen immer eine
Gegenbewegung aus. Das war in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren
nicht anders, als Werkstatt-, Quartals- und Wochenplanunterricht aufkamen. Das
waren ähnliche Konzepte, da sie die Schüler ebenfalls als Individuen begriffen.
Die Ablehnung dürfte damit zu tun haben, dass sich viele Lehrer überfordert
fühlen.
Ein bekanntes Problem. Was wäre dagegen zu
unternehmen?
Wer Reformen will, muss sorgfältig damit umgehen.
Innovationen in der Schule brauchen Ressourcen. Dem entgegen steht eine ungute
Tendenz im Bildungswesen, dass Neuerungen zwar eingeführt werden, die dazu
notwendigen Investitionen aber fehlen. Die Reformgeschichte an unseren Schulen
ist auch eine Geschichte von Reformen, die auf halber Strecke stecken bleiben.
Von Lehrern ist nicht zuletzt die Sorge zu
vernehmen, dass bei dieser Reform das Fachwissen und die Persönlichkeit der
Lehrpersonen marginalisiert zu werden drohten. Woher rühren diese Ängste?
Ich denke, es handelt sich um eine Reaktion, die auf
einer konkreten Erfahrung gründet: Die Vorstellung, dass Schüler lernen, wenn
sie sich selbst überlassen werden, ist falsch; und jede Kritik, die auf dieses
Missverständnis abzielt, hat recht. «Selbstorganisiertes Lernen» ist ein
unglücklicher Begriff. Denn im Grunde geht es nicht darum, dass Schüler ihre
Arbeit selbst organisieren, sondern um eine veränderte Form der Steuerung des
Unterrichts durch die Lehrer.
Das Fachwissen der Lehrpersonen steht also nicht
infrage?
Nein. Dieses Wissen ist eine zentrale Voraussetzung
für einen guten Unterricht. Doch es ist nicht mehr in erster Linie für einen
Lehrervortrag gefragt. Vielmehr gilt es, die einzelnen Schüler kraft dieser
Kenntnisse gezielt zu unterstützen. Fachwissen, Fachdidaktik und diagnostisches
Handwerk sollte man nicht gegeneinander ausspielen.
Fest steht, dass neue Lernformen verunsichern.
Generieren pädagogische Hochschulen, die diese Konzepte vermitteln, damit eine
direkte Nachfrage für ihre eigenen Weiterbildungsangebote?
Nein. Mit Modethemen kann man zwar Geld verdienen
in der Weiterbildung. Doch die öffentlichen Anbieter orientieren sich an
elementaren Bildungsfragen und nicht an plakativen Formeln.
Selbstorganisiertes Lernen nimmt für sich in
Anspruch, überfachliche Kompetenzen zu stärken, zum Beispiel die Fähigkeit,
sich selbst zu motivieren. Was ist davon zu halten?
Ich kann den Automatismus, der dieser These
zugrunde liegt, nicht nachvollziehen. Motivation kommt von guten
Lernerfahrungen und nicht von «Selbstorganisation». Schüler sind doch nicht
wegen des Freiraums motiviert, der ihnen in einigen Schulen zugestanden wird.
Und warum ein gut gemachter Lehrervortrag weniger motivieren soll, leuchtet mir
nicht ein.
Sie plädieren für Frontalunterricht?
Nein. Ich bin gegen Vereinfachungen, gegen allgemeingültige
Rezepte. Dafür ist Schule viel zu komplex. Jedes Schulhaus, jede Klasse, jeder
Jahrgang, jeder Tag ist anders. Ob klassisch oder nicht: Um die mühsame Arbeit
an Qualität, Disziplin und Klima im Unterricht kommen die Lehrer nicht herum.
Wenn Sie als Vater entscheiden könnten zwischen
einer Schule mit und einer ohne alternative Lernformen. Welches Modell würden
Sie wählen?
Ich würde mich mit den Lehrern unterhalten, um
abschätzen zu können, wo mein Kind eher gefördert wird, und zwar unabhängig von
der Lernform.
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