17. November 2014

Forneck über "Selbstorganisiertes Lernen"

Herr Forneck, selbstorganisiertes Lernen klingt innovativ. Doch was ist eigentlich neu daran? Hausaufgaben, Referate und schriftliche Arbeiten müssen Schüler schliesslich auch selber machen.
Das ist richtig. Doch man muss sich bewusst sein, dass es sich bei diesem Unterrichtskonzept um einen Versuch handelt, auf Problemlagen zu reagieren, die schon länger existieren.
Welches sind diese Problemlagen?
Wir haben es mit dem Verlust von gemeinsamem Wissen und Werten zu tun. In den fünfziger Jahren war allen klar, wie man sich zu benehmen und was man anzustreben hatte. Bürgerliche Werte wurden damals auch von anderen Schichten akzeptiert. Diesen Kanon gibt es nicht mehr. Migrationsströme haben zudem dazu geführt, dass Schüler keinen kulturellen Hintergrund mehr haben, auf den sich alle berufen können.
"Schüler sind doch nicht wegen des Freiraums motiviert", NZZ, 17.11. von Robin Schwarzenbach

Dann geht es darum, dieser Heterogenität der Gesellschaft gerecht zu werden?
Die Schule hat die Aufgabe, dieses Ungleichgewicht zumindest zum Teil zu kompensieren, ja.
Kann sie das?
Sie ist die einzige Institution, die dafür infrage kommt. Das Schulwesen muss angemessen eingehen auf diese Prozesse der Individualisierung und ihnen Raum geben im Unterricht. Gleichzeitig muss sie aber auch Wissen und sogenannte Kompetenzen vermitteln - wobei die endlose Debatte über Kompetenzen ein Hinweis darauf ist, dass es unserer Gesellschaft nicht mehr gelingt, Inhalte, die die Schule vermitteln soll, gemeinsam festzulegen.
Wie erklären Sie sich die Grabenkämpfe, die alternative Lernformen ausgelöst haben?
Reformpädagogische Ansätze lösen immer eine Gegenbewegung aus. Das war in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren nicht anders, als Werkstatt-, Quartals- und Wochenplanunterricht aufkamen. Das waren ähnliche Konzepte, da sie die Schüler ebenfalls als Individuen begriffen. Die Ablehnung dürfte damit zu tun haben, dass sich viele Lehrer überfordert fühlen.
Ein bekanntes Problem. Was wäre dagegen zu unternehmen?
Wer Reformen will, muss sorgfältig damit umgehen. Innovationen in der Schule brauchen Ressourcen. Dem entgegen steht eine ungute Tendenz im Bildungswesen, dass Neuerungen zwar eingeführt werden, die dazu notwendigen Investitionen aber fehlen. Die Reformgeschichte an unseren Schulen ist auch eine Geschichte von Reformen, die auf halber Strecke stecken bleiben.
Von Lehrern ist nicht zuletzt die Sorge zu vernehmen, dass bei dieser Reform das Fachwissen und die Persönlichkeit der Lehrpersonen marginalisiert zu werden drohten. Woher rühren diese Ängste?
Ich denke, es handelt sich um eine Reaktion, die auf einer konkreten Erfahrung gründet: Die Vorstellung, dass Schüler lernen, wenn sie sich selbst überlassen werden, ist falsch; und jede Kritik, die auf dieses Missverständnis abzielt, hat recht. «Selbstorganisiertes Lernen» ist ein unglücklicher Begriff. Denn im Grunde geht es nicht darum, dass Schüler ihre Arbeit selbst organisieren, sondern um eine veränderte Form der Steuerung des Unterrichts durch die Lehrer.
Das Fachwissen der Lehrpersonen steht also nicht infrage?
Nein. Dieses Wissen ist eine zentrale Voraussetzung für einen guten Unterricht. Doch es ist nicht mehr in erster Linie für einen Lehrervortrag gefragt. Vielmehr gilt es, die einzelnen Schüler kraft dieser Kenntnisse gezielt zu unterstützen. Fachwissen, Fachdidaktik und diagnostisches Handwerk sollte man nicht gegeneinander ausspielen.
Fest steht, dass neue Lernformen verunsichern. Generieren pädagogische Hochschulen, die diese Konzepte vermitteln, damit eine direkte Nachfrage für ihre eigenen Weiterbildungsangebote?
Nein. Mit Modethemen kann man zwar Geld verdienen in der Weiterbildung. Doch die öffentlichen Anbieter orientieren sich an elementaren Bildungsfragen und nicht an plakativen Formeln.
Selbstorganisiertes Lernen nimmt für sich in Anspruch, überfachliche Kompetenzen zu stärken, zum Beispiel die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren. Was ist davon zu halten?
Ich kann den Automatismus, der dieser These zugrunde liegt, nicht nachvollziehen. Motivation kommt von guten Lernerfahrungen und nicht von «Selbstorganisation». Schüler sind doch nicht wegen des Freiraums motiviert, der ihnen in einigen Schulen zugestanden wird. Und warum ein gut gemachter Lehrervortrag weniger motivieren soll, leuchtet mir nicht ein.
Sie plädieren für Frontalunterricht?
Nein. Ich bin gegen Vereinfachungen, gegen allgemeingültige Rezepte. Dafür ist Schule viel zu komplex. Jedes Schulhaus, jede Klasse, jeder Jahrgang, jeder Tag ist anders. Ob klassisch oder nicht: Um die mühsame Arbeit an Qualität, Disziplin und Klima im Unterricht kommen die Lehrer nicht herum.
Wenn Sie als Vater entscheiden könnten zwischen einer Schule mit und einer ohne alternative Lernformen. Welches Modell würden Sie wählen?

Ich würde mich mit den Lehrern unterhalten, um abschätzen zu können, wo mein Kind eher gefördert wird, und zwar unabhängig von der Lernform.

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