Liste für Liste, Blatt für Blatt. Bild: Annick Ramp
Lerne zu lernen! NZZ, 17.11. von Robin Schwarzenbach
Ein Montagmorgen im «Lernatelier» der
Sekundarschule Pratteln: Der Raum ist grösser als die übrigen Klassenzimmer und
bietet Platz für bis zu drei Klassen. Die Schüler haben einen eigenen
Arbeitsplatz, den sie zwar schmücken dürfen, der vorne, links und rechts aber
mit einem Sichtschutz versehen ist - damit sich jeder konzentrieren kann.
Francesco Rizzo beschäftigt sich gegen Ende dieser Doppelstunde mit Deutsch und
Mathematik. Der Zwölfjährige arbeitet eine Liste mit Pluralformen durch; dann
widmet er sich einem Papier, das Aufgaben mit verschiedenen Längenmassen bereithält.
Wenn er fertig ist, macht er auf seinen Kann-Listen einen Haken («Ich kann
Nomen verlängern, um die richtige Schreibweise herauszufinden», «Ich kann
Längenmasse verwandeln»).
Klassenzimmer unter Druck
Was Francesco sich konkret vornimmt und wie er seine
Zeit einteilt im «Lernatelier», muss er selber entscheiden. Lehrer sind zwar
ebenfalls anwesend in dem Raum. Doch sie halten sich zurück. Anweisungen an
alle sind keine zu vernehmen. Überhaupt ist es auffallend still. Abgesehen von
gelegentlichem Flüstern halten sich die Schüler an die Regel, die absolute Ruhe
verlangt.
Selbstorganisiertes Lernen nennt sich das Konzept,
von dem hier die Rede sein soll und das in der Schweizer Bildungslandschaft
mitunter für hitzige Debatten sorgt. Schulen, die sich diesem Ansatz komplett
verschrieben haben, werden besonders kritisiert - nicht zuletzt von Lehrern,
die mit solchen Modellen gar nichts anfangen können. «Die sozialromantische
Vorstellung à la <Meine Schüler - meine Klasse> führt bei uns ins Leere»,
sagt Gregory Turkawka, Schulleiter der Sekundarschule Niederhasli im Kanton
Zürich. In Niederhasli gibt es keine Klassenstrukturen mehr. Als
Wissensvermittler treten die Lehrer nurmehr in vergleichsweise kurzen,
klassenübergreifenden Inputlektionen in Erscheinung. Den grossen Rest der Zeit
verbringen die Schüler in einer Umgebung, die mit dem «Lernatelier» in Pratteln
vergleichbar sein dürfte.
Der Unterschied: Klassischen Unterricht gibt es in
der Baselbieter Sekundarschule nach wie vor. Mathematik, Deutsch, Geschichte,
Geografie und Fremdsprachen werden weiterhin in Klassenverbänden unterrichtet.
Danach müssen die Schüler den Stoff aufbereiten, indem sie sich in Eigenregie
an ihre Zielvorgaben machen. Der Fachunterricht in diesen Disziplinen beläuft
sich auf ein Drittel. Ein weiteres Drittel der Wochenstunden arbeiten die
Schüler für sich. Hinzu kommen Lektionen in den Fächern Biologie, Chemie und
Physik, die im «Lernatelier» sehr selten bearbeitet werden.
Der Vergleich der beiden Schulen zeigt:
Selbstorganisiertes Lernen kann verschieden interpretiert werden. Die
Sekundarschule Pratteln, die das Modell im vergangenen Jahr eingeführt hat, hat
sich unter anderem auch in Niederhasli kundig gemacht. Am Ende indes
entschieden sich die Baselbieter für eine weniger radikale Variante. Beraten
wurden beide Schulen von einer privaten Einrichtung aus Deutschland, die ihre
Vorstellungen von selbstorganisiertem Lernen als Marke verkauft und sich damit
offenbar finanzieren kann auf dem Weiterbildungsmarkt.
Wer hat, dem wird gegeben
Worum geht es? Das pädagogische Konzept geht davon
aus, dass Eigenständigkeit im herkömmlichen Unterricht im Klassenzimmer zu kurz
kommt. Darüber hinaus machen sich Sekundarschulen schon seit längerem Gedanken,
was Unternehmen von künftigen Mitarbeitern erwarten. Disziplin, Motivation und
Verantwortungsbewusstsein sind laut einer Studie von Economiesuisse besonders
gefragt. Und genau in diesen Kategorien schneiden Schulabgänger schlecht ab.
Diese unbefriedigende Situation hat dazu
beigetragen, dass sich manche Schulen hinterfragen und zum Teil neue Wege
gehen. Schüler sollen lernen, eigenständig zu handeln. Francesco Rizzo zum
Beispiel muss selber wissen, wie er seine Aufgaben angeht im «Lernatelier» in
Pratteln. Denn dort fungieren die Lehrer nurmehr als Coach: Bei inhaltlichen
Problemen stehen sie zwar zur Verfügung, doch dabei geben sie vor allem Tipps,
wie die Jugendlichen selber weiterkommen könnten - sofern sie überhaupt gefragt
werden. Francesco jedenfalls findet das «Lernatelier» gut. Seine Motivation
stimmt. Er sagt, er mache lieber alles in der Schule fertig. Denn dann habe er
mehr Freizeit. Und: «In der Primarschule haben mich die Schwächeren eher
gestört.»
Es scheint einleuchtend, dass gute Schüler von
solchen Unterrichtsmodellen profitieren. Die weniger guten hingegen dürften
mehr Mühe haben. Auch das zeigt sich beim Augenschein in Pratteln, als sich ein
Schüler einer Zweier-Gruppe anschliesst, die draussen auf dem Gang das
Französisch-Lehrbuch aufgeschlagen hat. Statt wie vorgesehen an den Unterlagen
orientiert sich der Knabe direkt an den Lösungen seiner beiden Kollegen - und
übernimmt auch deren Fehler.
Die Problematik ist bekannt. Es gebe Schüler, denen
man täglich unter die Arme greifen müsse, und solche, die das gar nicht nötig
hätten, sagt Gregory Turkawka von der Sekundarschule Niederhasli. Für den
Schulleiter ist das jedoch keine Schwäche, sondern vielmehr eine Stärke des
Konzepts. Denn: Da die Mehrheit der Schüler selbständig arbeiten kann, haben
die Lehrer umso mehr Zeit, denjenigen zur Seite zu stehen, die auf
Unterstützung angewiesen sind.
Lehrer als Team
Die Voraussetzungen für eine enge Betreuung der
Schwächsten hält Turkawka für besonders günstig. Schliesslich würden die Lehrer
von der Kleinarbeit, die Klassenführung mit sich bringe, ebenfalls entlastet -
eine Einschätzung, die umstritten ist (siehe Interview). Konrad Saameli,
Deutsch- und Mathematiklehrer in Pratteln, sagt: «Noch neigen wir dazu, alles
kontrollieren zu wollen.»
Die Vorteile auf der organisatorischen Ebene
scheinen klarer. Im <Lernatelier> in Pratteln werden meist mehrere
Klassen von mehreren Lehrpersonen beaufsichtigt. Das macht den Betrieb
flexibel. Fällt ein Lehrer aus, kann die Schulstunde trotzdem in der gewohnten
Form stattfinden. Fixe Zuständigkeiten gibt es nicht. Die Lehrer verstehen sich
als Team - was allerdings die Bereitschaft voraussetzt, auch hier ein Stück
weit loszulassen und sich offen zu zeigen für neue Ideen. So kann es sein, dass
pädagogische Fragen diskutiert werden, die früher nicht zur Sprache kamen, da
jeder Lehrer für sich und hinter verschlossenen Türen unterrichtete.
Doch was ist, wenn Lehrer, pardon, wenn Coachs in
Fächern weiterhelfen sollen, die sie gar nicht unterrichten? Was ist, wenn sich
Coach und Schüler über Dinge unterhalten, von denen die ganze Klasse
profitieren würde? Selbstorganisiertes Lernen soll auch zur Reflexion anregen.
Doch was ist, wenn solche Gespräche gar nicht stattfinden, da die meisten
Jugendlichen nicht in der Lage sind, die entsprechenden Fragen zu stellen? All
das wäre zu diskutieren. Der Trend indes scheint klar. Die Universität Zürich
etwa hat ein Forschungsprojekt zum Thema lanciert. Es interessieren vor allem
Schulen, die personalisierte Lernformen bereits praktizieren - und andere
Schulen inspirieren sollen.
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