10. November 2014

"Therapieren nach dem Giesskannenprinzip"

Jedes dritte Kind erhält während seiner Schulzeit eine spezielle Förderung. Oskar Jenni, der Nachfolger von Remo Largo am Zürcher Kinderspital, spricht von "Therapieren nach dem Giesskannenprinzip". 







Jenni: "Es kann nicht sein, dass so viele Kinder nicht den Normerwartungen entsprechen".



"Therapiewahn" an Zürcher Schulen, Tages Anzeiger, 10.11. von Ev Manz und Simone Schmid


Praktisch alle Eltern von schulpflichtigen Kindern stehen irgendwann vor der Frage: Therapie, ja oder nein? Das Angebot ist gross: Logopädie, Ergotherapie, Psychomotorik oder Begabtenförderung. Tatsache ist, dass gut 30 Prozent aller Schulkinder im Kanton während ­ihrer Schulkarriere irgendwann mit so­genannten niederschwelligen sonderpädagogischen Massnahmen unterstützt werden – dies, obwohl nur zwischen 5 und 10 Prozent aller Kinder von einer schwerwiegenden Entwicklungsstörung betroffen sind.
Für Oskar Jenni, Kinderarzt und Nachfolger von Remo Largo als Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, gleicht dieses Vorgehen einem «Therapieren nach dem Giesskannenprinzip»: «Es kann nicht sein, dass so viele Kinder nicht den Norm­erwartungen entsprechen», sagt er. Schuld an diesem Mechanismus ist aus seiner Sicht die zunehmende Hetero­genität in den Klassen. Sie belastet die Lehrpersonen und führt dazu, dass sie auffällige Schülerinnen und Schüler viel schneller abklären und die Förderung an Spezialisten delegieren.
Seit Klein- und Sonderklassen de facto abgeschafft wurden und alle Kinder in derselben Klasse gefördert werden, gibt es viel mehr Förder­mass­nahmen. 2005 haben in der Stadt Zürich 388 Kinder eine Psychomotoriktherapie besucht, letztes Jahr war es ein Drittel mehr. Gesicherte Zahlen aus dem Kanton gibt es nicht.

Kinder bräuchten konstante Bezugspersonen
Jenni kritisiert, dass der Kontakt mit zu vielen Spezialisten für die Entwicklung eines Kindes kontraproduktiv sei. Kinder bräuchten für einen Lernerfolg konstante Bezugspersonen. Mit dem Projekt «Fokus starke Lern­beziehungen» mache der Kanton bereits einen Schritt in die richtige Richtung. Hätten Lehrpersonen überdies aus der Aus­bildung ein breiteres Wissen über Entwicklungs­konzepte von Kindern, könnten sie mit einem Kind, das ein Lerndefizit hat, ­besser umgehen und müssten es keinem Spezialisten zuführen. «Wenn die integrative Förderung schon propagiert wird, müssen auch die Lehrer ent­sprechend ausgebildet sein», sagt Jenni. Würden auch die Abklärungen für nieder­schwellige Massnahmen standardisiert, könnte man das Geld für die Förderung derjenigen Kinder ausgeben, die diese tatsächlich brauchten.
Der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrer­verband (ZLV) wehrt sich gegen den Vorwurf, dass an den Schulen Therapiewahn herrsche. Die Abklärungen würden bereits jetzt professionell von einem Team durchgeführt. «Optimierungs­bedarf sehe ich aber bei der Standardisierung der Diagnosen», sagt Lilo Lätzsch, Präsidentin des ZLV. Die Abklärungsstrukturen müssten gewährleisten, dass Schulpsychologen von unterschiedlichen Schulen bei den gleichen Beobachtungen zum selben Ergebnis kämen. 


1 Kommentar:

  1. In der Volksschule gibt es nur zwei eigentliche Therapien (Logopädie und Psychomotorik). Es gibt keinen "Therapiewahn", wie die einzig verfügbaren Zahlen der Stadt Zürich zeigen: Die angebliche „Zunahme“ der Kinder in den Therapien (Logopädie und Psychomotorik) zwischen 2005/06 und heute entspricht ziemlich genau den Kindern, die bei privaten Therapeuten waren und bisher von der Invalidenversicherung (IV) bezahlt wurden. Nachdem die IV ihre Zahlungen an diese Therapiekinder aufgrund des Nationalen Finanzausgleichs (NFA) einstellte, mussten diese Kinder 2009/10 von der Volksschule übernommen werden. Insgesamt hat es keine Zunahme der Therapien im Verhältnis zur Schülerzahl gegeben.

    Die massive Zunahme bei der Förderung ist auf die sogenannte Integration und die Abschaffung der Klein- und Sonderklassen zurückzuführen.

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