Jenni: "Es kann nicht sein, dass so viele Kinder nicht den Normerwartungen entsprechen".
"Therapiewahn" an Zürcher Schulen, Tages Anzeiger, 10.11. von Ev Manz und Simone Schmid
Praktisch alle Eltern von
schulpflichtigen Kindern stehen irgendwann vor der Frage: Therapie, ja oder
nein? Das Angebot ist gross: Logopädie, Ergotherapie, Psychomotorik oder
Begabtenförderung. Tatsache ist, dass gut 30 Prozent aller Schulkinder im
Kanton während ihrer Schulkarriere irgendwann mit sogenannten
niederschwelligen sonderpädagogischen Massnahmen unterstützt werden – dies,
obwohl nur zwischen 5 und 10 Prozent aller Kinder von einer schwerwiegenden
Entwicklungsstörung betroffen sind.
Für Oskar
Jenni, Kinderarzt und Nachfolger von Remo Largo als Leiter der Abteilung
Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, gleicht dieses Vorgehen einem
«Therapieren nach dem Giesskannenprinzip»: «Es kann nicht sein, dass so viele
Kinder nicht den Normerwartungen entsprechen», sagt er. Schuld an diesem
Mechanismus ist aus seiner Sicht die zunehmende Heterogenität in den Klassen.
Sie belastet die Lehrpersonen und führt dazu, dass sie auffällige Schülerinnen
und Schüler viel schneller abklären und die Förderung an Spezialisten
delegieren.
Seit Klein-
und Sonderklassen de facto abgeschafft wurden und alle Kinder in derselben
Klasse gefördert werden, gibt es viel mehr Fördermassnahmen. 2005 haben in
der Stadt Zürich 388 Kinder eine Psychomotoriktherapie besucht, letztes Jahr
war es ein Drittel mehr. Gesicherte Zahlen aus dem Kanton gibt es nicht.
Kinder
bräuchten konstante Bezugspersonen
Jenni
kritisiert, dass der Kontakt mit zu vielen Spezialisten für die Entwicklung
eines Kindes kontraproduktiv sei. Kinder bräuchten für einen Lernerfolg
konstante Bezugspersonen. Mit dem Projekt «Fokus starke Lernbeziehungen» mache
der Kanton bereits einen Schritt in die richtige Richtung. Hätten Lehrpersonen
überdies aus der Ausbildung ein breiteres Wissen über Entwicklungskonzepte
von Kindern, könnten sie mit einem Kind, das ein Lerndefizit hat, besser
umgehen und müssten es keinem Spezialisten zuführen. «Wenn die integrative
Förderung schon propagiert wird, müssen auch die Lehrer entsprechend
ausgebildet sein», sagt Jenni. Würden auch die Abklärungen für niederschwellige
Massnahmen standardisiert, könnte man das Geld für die Förderung derjenigen
Kinder ausgeben, die diese tatsächlich brauchten.
Der Zürcher
Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV) wehrt sich gegen den Vorwurf, dass an den
Schulen Therapiewahn herrsche. Die Abklärungen würden bereits jetzt
professionell von einem Team durchgeführt. «Optimierungsbedarf sehe ich aber
bei der Standardisierung der Diagnosen», sagt Lilo Lätzsch, Präsidentin des
ZLV. Die Abklärungsstrukturen müssten gewährleisten, dass Schulpsychologen von
unterschiedlichen Schulen bei den gleichen Beobachtungen zum selben Ergebnis
kämen.
In der Volksschule gibt es nur zwei eigentliche Therapien (Logopädie und Psychomotorik). Es gibt keinen "Therapiewahn", wie die einzig verfügbaren Zahlen der Stadt Zürich zeigen: Die angebliche „Zunahme“ der Kinder in den Therapien (Logopädie und Psychomotorik) zwischen 2005/06 und heute entspricht ziemlich genau den Kindern, die bei privaten Therapeuten waren und bisher von der Invalidenversicherung (IV) bezahlt wurden. Nachdem die IV ihre Zahlungen an diese Therapiekinder aufgrund des Nationalen Finanzausgleichs (NFA) einstellte, mussten diese Kinder 2009/10 von der Volksschule übernommen werden. Insgesamt hat es keine Zunahme der Therapien im Verhältnis zur Schülerzahl gegeben.
AntwortenLöschenDie massive Zunahme bei der Förderung ist auf die sogenannte Integration und die Abschaffung der Klein- und Sonderklassen zurückzuführen.