10. November 2014

"Von Therapiewahn kann keine Rede sein"

Der Zürcher Lehrerverband widerspricht der Aussage, zu viele Schulkinder erhielten Fördermassnahmen. 




ZLV-Präsidentin Lilo Lätzsch: "Irreführende Aussagen". 

"Von Therapiewahn kann keine Rede sein", Tages Anzeiger, 10.11. von Simone Schmid



Herrscht an Zürcher Schulen ein Therapiewahn? «Nein, davon kann keine Rede sein», sagt Lilo Lätzsch, die Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes. Die Aussage, dass jedes dritte Kind therapiert werde, sei irreführend. «Diese Zahl basiert auf einer älteren Umfrage, bei der auch einmalige Massnahmen, die lediglich eine Stunde dauerten, gezählt wurden». Neuere Zahlen gebe es nicht, darum sei eine genaue Einschätzung auch nicht möglich. Vor allem aber wehrt sich Lätzsch gegen die Aussage, dass Lehrer allein mit Eltern eine Therapie anordnen könnten. «Bei diesen Gesprächen ist immer auch die Schulleitung und ein Schulpsychologe anwesend», sagt Lätzsch.
Auch die Kantonsrätin und Bildungsexpertin Esther Guyer (Grüne) würde nicht von einem Wahn sprechen: «Es wird zwar sehr viel therapiert. Aber die Aussage, dass gesunde Kinder pathologisiert werden und unter den Therapien leiden, halte ich für übertrieben». Logopädie, Ergotherapie oder Begabtenförderung: Diese Sondermassnahmen würden nicht primär von überforderten Lehrern angeordnet, sondern von verunsicherten Eltern gewünscht, die heute sehr hohe Ansprüche stellten. Gerade weil aber so viele Kinder mittlerweile Förderung erhielten, könne man nicht von einer Stigmatisierung durch eine Therapie sprechen – Therapie sei vielmehr fast zur Normalität geworden.
Integrationsgegner klatschen
Die Aussagen des Kinderarztes Oskar Jenni werden vor allem von Gegnern der integrativen Förderung begrüsst. «Ich kann seine Sicht voll unterstützen», sagt SVP-Kantonsrätin Anita Borer. Durch den integrativen Unterricht sei es schwieriger geworden, Kleinklassen zu bilden. Therapien würden als Entlastungsmassnahme genutzt. «In gewissen Fällen macht das Integrieren zwar Sinn», sagt Borer. Aber sie würde sich wünschen, dass wieder einfacher Kleinklassen gebildet werden könnten. Ihr Fraktionskollege Rochus Burtscher ist ebenfalls der Meinung, dass an den Schulen zu viel therapiert werde. «Das ist ein gesellschaftliches Problem, das mit Gleichmacherei zu tun hat: Wenn ein Kind nicht in die Norm passt, dann braucht es eine Therapie.»
Experten sagen, dass durch die Abschaffung der Kleinklassen und die Integration von Sonderschülern in reguläre Klassen eine neue Förderindustrie entstanden sei. Das Angebot inspiriere Lehrer wie Eltern, vermehrt von sonderpädagogischen Massnahmen Gebrauch zu machen. Dies hat die Bildungsdirektion erkannt und versucht, mit mehreren Massnahmen Gegensteuer zu geben. Unter anderem werden zurzeit die Ver­fahren der Schulpsychologen standardisiert, um Fehldiagnosen zu vermeiden. «Die Psychologen an der Schule A sollen bei denselben Beobachtungen zum gleichen Ergebnis kommen wie die Psychologen an der Schule B», sagt Lilo Lätzsch.
Und in einem Punkt gibt sie Oskar Jenni recht: Lehrpersonen müssten lernen, besser mit der Heterogenität umzugehen. «Wir haben jahrelang die Erwartung geweckt, dass jeder Schüler immer genau das lernen kann, worauf er Lust hat». Das sei jedoch nicht umsetzbar. «In meiner Klasse gibt es nur noch drei verschiedene Lernniveaus – nicht 25.»


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