ZLV-Präsidentin Lilo Lätzsch: "Irreführende Aussagen".
"Von Therapiewahn kann keine Rede sein", Tages Anzeiger, 10.11. von Simone Schmid
Herrscht an Zürcher Schulen ein
Therapiewahn? «Nein, davon kann keine Rede sein», sagt Lilo Lätzsch, die Präsidentin
des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes. Die Aussage, dass jedes dritte
Kind therapiert werde, sei irreführend. «Diese Zahl basiert auf einer älteren
Umfrage, bei der auch einmalige Massnahmen, die lediglich eine Stunde dauerten,
gezählt wurden». Neuere Zahlen gebe es nicht, darum sei eine genaue
Einschätzung auch nicht möglich. Vor allem aber wehrt sich Lätzsch gegen die
Aussage, dass Lehrer allein mit Eltern eine Therapie anordnen könnten. «Bei
diesen Gesprächen ist immer auch die Schulleitung und ein Schulpsychologe
anwesend», sagt Lätzsch.
Auch die
Kantonsrätin und Bildungsexpertin Esther Guyer (Grüne) würde nicht von einem
Wahn sprechen: «Es wird zwar sehr viel therapiert. Aber die Aussage, dass
gesunde Kinder pathologisiert werden und unter den Therapien leiden, halte ich
für übertrieben». Logopädie, Ergotherapie oder Begabtenförderung: Diese
Sondermassnahmen würden nicht primär von überforderten Lehrern angeordnet,
sondern von verunsicherten Eltern gewünscht, die heute sehr hohe Ansprüche
stellten. Gerade weil aber so viele Kinder mittlerweile Förderung erhielten,
könne man nicht von einer Stigmatisierung durch eine Therapie sprechen –
Therapie sei vielmehr fast zur Normalität geworden.
Integrationsgegner
klatschen
Die Aussagen
des Kinderarztes Oskar Jenni werden vor allem von Gegnern der integrativen
Förderung begrüsst. «Ich kann seine Sicht voll unterstützen», sagt
SVP-Kantonsrätin Anita Borer. Durch den integrativen Unterricht sei es
schwieriger geworden, Kleinklassen zu bilden. Therapien würden als
Entlastungsmassnahme genutzt. «In gewissen Fällen macht das Integrieren zwar
Sinn», sagt Borer. Aber sie würde sich wünschen, dass wieder einfacher
Kleinklassen gebildet werden könnten. Ihr Fraktionskollege Rochus Burtscher ist
ebenfalls der Meinung, dass an den Schulen zu viel therapiert werde. «Das ist
ein gesellschaftliches Problem, das mit Gleichmacherei zu tun hat: Wenn ein
Kind nicht in die Norm passt, dann braucht es eine Therapie.»
Experten
sagen, dass durch die Abschaffung der Kleinklassen und die Integration von
Sonderschülern in reguläre Klassen eine neue Förderindustrie entstanden sei.
Das Angebot inspiriere Lehrer wie Eltern, vermehrt von sonderpädagogischen
Massnahmen Gebrauch zu machen. Dies hat die Bildungsdirektion erkannt und versucht,
mit mehreren Massnahmen Gegensteuer zu geben. Unter anderem werden zurzeit die
Verfahren der Schulpsychologen standardisiert, um Fehldiagnosen zu vermeiden.
«Die Psychologen an der Schule A sollen bei denselben Beobachtungen zum
gleichen Ergebnis kommen wie die Psychologen an der Schule B», sagt Lilo
Lätzsch.
Und in einem
Punkt gibt sie Oskar Jenni recht: Lehrpersonen müssten lernen, besser mit der
Heterogenität umzugehen. «Wir haben jahrelang die Erwartung geweckt, dass jeder
Schüler immer genau das lernen kann, worauf er Lust hat». Das sei jedoch nicht
umsetzbar. «In meiner Klasse gibt es nur noch drei verschiedene Lernniveaus –
nicht 25.»
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