10. November 2014

"Ich kritisiere nicht die Therapien, sondern das System dahinter"

Der Kinderarzt Oskar Jenni kritisiert den Therapiewahn an Zürcher Schulen. Standardisierte Abklärungen und eine bessere Ausbildung der Lehrer könnten ihn eindämmen. 




Oskar Jenni, Leiter der Entwicklungspädiatrie am Zürcher Kinderspital, beklagt die Gleichmacherei in der Schule, Bild: Reto Oeschger

"Die Gefahr von Stigmatisierungen der Kinder ist gross", Tages Anzeiger, 10.11. von Ev Manz


Die Millionen, die für Förderung an unseren Schulen ausgegeben werden, müssten hinterfragt ­werden. Dies haben Sie jüngst auf einem Podium gesagt. Eine ketzerische Aussage für einen Arzt. 
Ich habe mir tatsächlich lange überlegt, ob ich mich zu schulpolitischen Belangen überhaupt äussern soll. Aber ich fühle mich dazu berechtigt, denn Gesundheits- und Bildungsfachleute müssen eng zusammenarbeiten. Wir Ärzte sind Teil des Systems und verordnen Therapien und Medikamente. Deshalb darf ich Fördermassnahmen auch hinterfragen.
Was stört Sie?
Lassen Sie mich ausholen. Fünf bis zehn Prozent der Kinder sind schwerwiegend von einer Entwicklungsstörung betroffen, Kinder mit Autismus oder einer ­körperlichen Behinderung zum Beispiel. Dass diese Kinder Therapien und Fördermassnahmen brauchen, ist unbestritten. Mit meiner Aussage habe ich die niederschwellige Förderung wie beispielsweise Stützunterricht, Psychomotorik und Lerntherapien angesprochen. Jedes dritte Kind erhält im Laufe seiner Schulzeit eine oder mehrere solcher Massnahmen. Es kann nicht sein, dass so viele Kinder nicht den Normerwartungen entsprechen.
Das ist ein Frontalangriff auf die Therapien.
Ich kritisiere nicht die Therapien, sondern das System dahinter. Fällt ein Kind auf, entscheiden Fach- und Lehrpersonen sowie Eltern im Gespräch über eine Massnahme. Und danach sind alle froh, weil gehandelt wird. Die Gefahr von Fehleinschätzungen und Stigmatisie­rungen der Kinder ist dabei gross.
Machen es sich die Lehrpersonen zu einfach?
Die Lehrpersonen stehen seit der Einführung des neuen Volksschulgesetzes vor sehr grossen Herausforderungen. Mit der integrativen Förderung nehmen alle Schüler am Regelunterricht teil. Damit hat die Heterogenität in der Klasse zugenommen, was für die Lehrpersonen spürbar und oft zur Belastung geworden ist. Indem sie bestimmte Aufgaben an Spezialisten delegieren, suchen sie einen Ausweg aus dem System. Das ist der Mechanismus und nicht ein Ver­sagen der Lehrer.
Warum ist es falsch, wenn eine Fachkraft ein Kind zusätzlich fördert?
Dadurch arbeiten noch mehr verschiedene Personen mit dem Kind als üblich. Kinder brauchen aber für ihre Ent­wicklung und den Lernerfolg möglichst wenige, aber konstante Bezugspersonen. Die Bildungsdirektion hat diese Problematik erkannt und den Schulversuch «Fokus starke Lernbeziehungen» gestartet.
Sprich, mit weniger Lehrpersonen im Schulzimmer bräuchte es weniger Therapien?
Nein, so kann man es nicht sagen. Es braucht wegen der grossen Hetero­genität in den Klassen mehr als eine Lehrperson im Klassenzimmer, aber weniger Spezialisten. Therapien und spezifische Förderung sollten denjenigen ­Kindern vorbehalten sein, die diese wirklich brauchen. Dazu sind aber standardisierte Verfahren der Zuweisung ­nötig, weil sonst im Giesskannenprinzip therapiert wird.
Was braucht es denn, um das System schlank zu halten?
Der Schlüssel sind die Lehrpersonen. Sie sollten sich als Entwicklungsspezialisten und Lernbegleiter der Kinder verstehen und sich nicht nur um Didaktik, Methodik und Fachwissen kümmern. Sie müssen wissen, wie sie mit einem Kind mit Lerndefizit, Leseschwäche oder Schüchternheit umgehen und was sie einem begabten Kind bieten können, damit es sich nicht langweilt. Dazu braucht es aber grundlegende Reformen in der Ausbildung der Lehrer.
Sie plädieren dafür, dass das Umfeld seine Erwartungen anpasst. Was meinen Sie damit?
Tatsache ist, dass Kinder sehr unterschiedlich sind. Diese Variabilität kann sich erschwerend auf den Unterricht auswirken. Doch wir müssen akzeptieren, dass jeder von uns unterschiedliche Begabungen und Schwächen hat. Das macht aus evolutionsbiologischer Sicht auch Sinn: Je diversifizierter eine Ge­sellschaft, desto flexibler ist sie. Wir ­müssen uns also der Variabilität an­passen. Der Mechanismus in der Bildung 
ist aber ­genau umgekehrt. Man propagiert zwar den individuellen Unterricht, setzt aber gleichzeitig kollektive Lernziele, Lehrpläne und Leistungsstandards fest. Das ist ein krasser Widerspruch. Als Folge davon gibt es eine zunehmende Pathologisierung der Kinder. Mit Massnahmen, Therapien und Diagnosen versucht man, die Variabilität zu eliminieren.
Warum geht das nicht?
Die Vielfalt zwischen Kindern lässt sich nicht mit Massnahmen ausgleichen. Wir müssen vielmehr die Förderung eines Kindes an seinen Entwicklungsstand, das heisst an sein «Entwicklungsalter», anpassen und nicht an sein Lebensalter. Wir konnten in einer kürzlich publizierten neurowissenschaftlichen Studie zeigen, dass Lernen besonders dann effizient ist, wenn das Gehirn des Kindes unabhängig von seinem Alter dafür reif ist. In der Praxis heisst das: Mit altersdurchmischten Klassen könnten Kinder möglicherweise besser an das Optimum ihrer Leistungsfähigkeit herangeführt werden.
Als Eltern gerät man ab dem Schul­eintritt des Kindes unweigerlich unter diesen Leistungsdruck. Man möchte ja, dass der Nachwuchs seine Potenziale entfalten kann.
Es ist paradox, dass ein Konsens unter Fachleuten besteht, dass kleine Kinder nur lernen, wenn sie aus eigener Initiative heraus dazu bereit sind, während mit dem Schuleintritt fixe Lernziele für alle gelten sollen. Das führt bei Eltern unmittelbar zu einem Leistungsdruck, weil der gesellschaftliche Anspruch lautet, dass sie für eine perfekt gelingende Erziehung und Entwicklung ihrer Kinder verantwortlich sind. Dabei ist es ganz wichtig, dass Eltern die Eigenschaften und das Potenzial ihres Kindes ­akzeptieren und ihre Erwartungen daran anpassen. Diese Haltung von uns Erwachsenen ist für die Entwicklung ­eines Kindes ganz wesentlich.
Einfacher gesagt als getan. 
Das weiss ich aus eigener Erfahrung als Vater, aber man kann sich dem nicht entziehen. Eltern wünschen sich, dass ihr Kind all seine Fähigkeiten entwickeln kann und einen Platz in unserer Ge­sellschaft findet. Dafür kämpfen sie, und das ist berechtigt. Sie sind dann sehr verletzt, wenn ihr Kind daran scheitert. Die Situation in unserer Gesellschaft hat sich für die Familien in den letzten 40 Jahren fundamental verändert.
Warum denn?
Das hat viele Gründe: Die veränderte Stellung der Frau in unserer Gesellschaft, andere Familienkonstellationen, der Strukturwandel in der Wirtschaft, das Leistungsdenken, das Defizite nicht akzeptiert und so weiter. All das spiegelt sich auch auf der Bildungsebene. Aber zum Wohl des Kindes dürfen wir nicht alles akzeptieren. Wir müssen darauf achtgeben, was das Kind für seine bestmögliche Entwicklung braucht. Bildungspolitik darf nicht primär von Konzepten und gesellschaftspolitischen Erwartungen geleitet werden. So müssen auch die Lehrpersonen an der Front ­gehört und gestärkt werden.
Das heisst, dass es nicht billiger wird, oder?
Bildung kostet. Aber unzureichende oder gar falsche Bildung ist noch viel teurer.


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