Jetzt hat es
mich auch erwischt. Ich habe in der 9. Klasse einen Schüler, der nicht richtig
lesen und schreiben kann. Er wird, wenn nichts Einschneidendes passiert, die
Gruppe der Illettristen im Kanton Bern verstärken. Nach Hans Joss, dem
ehemaligen Präsidenten der Vereinigung von „Lesen und Schreiben“, beträgt diese
Zahl zurzeit 70'000. Illettristen sind Menschen, die nicht richtig lesen und
schreiben können. Früher nannte man sie funktionale Analphabeten. Unser
Schulsystem entlässt pro Jahr ca. 16-20% junger Menschen, die die
Grundkompetenzen im Lesen und Schreiben nicht beherrschen.
Bern verpulvert Millionen für wirkungslosen Frühfremdsprachenunterricht, derweil wächst die Zahl der Illettristen, Bild: Radio Munot.
Die eigentliche Bildungskatastrophe interessiert niemanden, Berner Zeitung, 15.11. von Alain Pichard
Nun wird der
geneigte Leser und Steuerzahler sicher fragen, wie es denn sein kann, dass in
den rund 14'000 Lektionen, die ein durchschnittliches Kind bei uns in die
Schule geht, es Menschen gibt, welche am Schluss nicht lesen und schreiben
können.
Für Hans
Joss, einer der Linken, die mich wehmütig an die Zeit erinnern, in welcher die
SP nicht neue Bürogebäude für ihre Genossen forderte, sondern sich wirklich für
die Bedürfnisse des Kindes einsetzte, ist dies eine Bildungskatastrophe. Er hat
recht.
Es bedarf nämlich
keiner dramatischen Worte, um das Elend und die Verzweiflung dieser späteren
Erwachsenen nachvollziehen zu können, die sich durch das Leben „mogeln“, immer
in panischer Angst entdeckt zu werden.
Nur scheint
dies niemanden richtig zu interessieren. Die Erziehungsdirektoren, welche
letzte Woche stolz die dritte Version des Lehrplans 21 präsentierten, scheinen
diese Misere achselzuckend zur Kenntnis zu nehmen. Im Kanton Bern wird man in
den kommenden Jahren 60 Mio Franken für ein wirkungsloses Frühsprachenkonzept
ausgeben, während gleichzeitig ein Fünftel unserer Jugendlichen die Schule ohne
richtige Lese- und Schreibkompetenzen verlässt. Und auch die Tatsache, dass
Finnland seinen Anteil an Illettristen auf lediglich 5% veranschlagt, sorgt
nirgends für Aufsehen.
Ganz stimmt
meine Analyse natürlich nicht. Es gibt durchaus Menschen, die sich für diese
Menschen interessieren. An der 10.
Illettristen-Tagung, die kürzlich in Bern stattgefunden hat, trafen sich 80 Experten,
welche die Illettristen zu ihrem Forschungsgebiet machten.. Hauptthema diesmal:
Illettrismus in Belgien. Die belgischen Fachleute wurden eingeflogen, es gab
eine sündhaft teure Simultanübersetzung und die umwerfende Erkenntnis der
Tagungsleiterin Afra Sturm lautete: „Wenn das Kind zu wenig Unterstützung von
den Eltern hat, wird es schwierig“. Bezahlt wurde dieser Spass vom Bundesamt
für Kultur.
Lehrpersonen
waren an dieser Tagung übrigens nicht dabei. Dabei wäre es doch für dieses
präventionsfreudige Milieu interessant, darüber nachzudenken, wie man dieses
„Übel“ an der Wurzel packen und mindestens den Nachschub bremsen könnte..
Denn wenn das
teuerste Schulsystem der Welt nicht garantieren kann, dass die Jugendlichen das
wichtigste Lernziel, nämlich lesen und schreiben zu können, erreichen, dann erschüttert
dies das Fundament der Legitimation und ist ein Skandal.
Es würde mich
nicht wundern, wenn ein schlauer Anwalt mit den Geprellten unseres Schulsystems
einmal eine Sammelklage prüfen würde. Absurd? Wer hätte vor 30 Jahren gedacht,
dass sich die ehemaligen Verdingkinder heute mit dem Staat um
Entschädigungszahlungen streiten.
Spätestens in
diesem Fall müsste sich übrigens auch der Verfasser dieser Zeilen unangenehme
Fragen gefallen lassen. Wenn er weniger Kolumnen schreiben, weniger im Stadtrat
herumpolitisieren würde und sich dafür mehr um diesen Jungen gekümmert hätte,
wäre es vielleicht anders herausgekommen.
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