16. November 2014

Die reale Bildungskatastrophe

Jetzt hat es mich auch erwischt. Ich habe in der 9. Klasse einen Schüler, der nicht richtig lesen und schreiben kann. Er wird, wenn nichts Einschneidendes passiert, die Gruppe der Illettristen im Kanton Bern verstärken. Nach Hans Joss, dem ehemaligen Präsidenten der Vereinigung von „Lesen und Schreiben“, beträgt diese Zahl zurzeit 70'000. Illettristen sind Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Früher nannte man sie funktionale Analphabeten. Unser Schulsystem entlässt pro Jahr ca. 16-20% junger Menschen, die die Grundkompetenzen im Lesen und Schreiben nicht beherrschen.


Bern verpulvert Millionen für wirkungslosen Frühfremdsprachenunterricht, derweil wächst die Zahl der Illettristen, Bild: Radio Munot.

Die eigentliche Bildungskatastrophe interessiert niemanden, Berner Zeitung, 15.11. von Alain Pichard

Nun wird der geneigte Leser und Steuerzahler sicher fragen, wie es denn sein kann, dass in den rund 14'000 Lektionen, die ein durchschnittliches Kind bei uns in die Schule geht, es Menschen gibt, welche am Schluss nicht lesen und schreiben können.
Für Hans Joss, einer der Linken, die mich wehmütig an die Zeit erinnern, in welcher die SP nicht neue Bürogebäude für ihre Genossen forderte, sondern sich wirklich für die Bedürfnisse des Kindes einsetzte, ist dies eine Bildungskatastrophe. Er hat recht.
Es bedarf nämlich keiner dramatischen Worte, um das Elend und die Verzweiflung dieser späteren Erwachsenen nachvollziehen zu können, die sich durch das Leben „mogeln“, immer in panischer Angst entdeckt zu werden.
Nur scheint dies niemanden richtig zu interessieren. Die Erziehungsdirektoren, welche letzte Woche stolz die dritte Version des Lehrplans 21 präsentierten, scheinen diese Misere achselzuckend zur Kenntnis zu nehmen. Im Kanton Bern wird man in den kommenden Jahren 60 Mio Franken für ein wirkungsloses Frühsprachenkonzept ausgeben, während gleichzeitig ein Fünftel unserer Jugendlichen die Schule ohne richtige Lese- und Schreibkompetenzen verlässt. Und auch die Tatsache, dass Finnland seinen Anteil an Illettristen auf lediglich 5% veranschlagt, sorgt nirgends für Aufsehen. 
Ganz stimmt meine Analyse natürlich nicht. Es gibt durchaus Menschen, die sich für diese Menschen interessieren.  An der 10. Illettristen-Tagung, die kürzlich in Bern  stattgefunden hat, trafen sich 80 Experten, welche die Illettristen zu ihrem Forschungsgebiet machten.. Hauptthema diesmal: Illettrismus in Belgien. Die belgischen Fachleute wurden eingeflogen, es gab eine sündhaft teure Simultanübersetzung und die umwerfende Erkenntnis der Tagungsleiterin Afra Sturm lautete: „Wenn das Kind zu wenig Unterstützung von den Eltern hat, wird es schwierig“. Bezahlt wurde dieser Spass vom Bundesamt für Kultur.
Lehrpersonen waren an dieser Tagung übrigens nicht dabei. Dabei wäre es doch für dieses präventionsfreudige Milieu interessant, darüber nachzudenken, wie man dieses „Übel“ an der Wurzel packen und mindestens den Nachschub bremsen könnte..
Denn wenn das teuerste Schulsystem der Welt nicht garantieren kann, dass die Jugendlichen das wichtigste Lernziel, nämlich lesen und schreiben zu können, erreichen, dann erschüttert dies das Fundament der Legitimation und ist ein Skandal.
Es würde mich nicht wundern, wenn ein schlauer Anwalt mit den Geprellten unseres Schulsystems einmal eine Sammelklage prüfen würde. Absurd? Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass sich die ehemaligen Verdingkinder heute mit dem Staat um Entschädigungszahlungen streiten.
Spätestens in diesem Fall müsste sich übrigens auch der Verfasser dieser Zeilen unangenehme Fragen gefallen lassen. Wenn er weniger Kolumnen schreiben, weniger im Stadtrat herumpolitisieren würde und sich dafür mehr um diesen Jungen gekümmert hätte, wäre es vielleicht anders herausgekommen.

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