16. Oktober 2014

Papiertiger mit Paradigmenwechsel

Erwartet wurde ein übersichtlicher Lehrplan mit verbindlichen Bildungszielen. ­Herausgekommen ist ein komplexes Programm mit über 4700 einzelnen Kompetenzen. Egal ob ­Papiertiger oder Paradigmenwechsel — für die Lehrerschaft ist der Lehrplan 21 unerspriesslich.




Versteckis spielen als Grundkompetenz des neuen Lehrplans, bild: derlehrplan21.ch


Pädagogische Verwirrung, Weltwoche, 42/2014 von Hanspeter Amstutz


Die erste Version des geplanten Jahrhundertwerks wird zurzeit überarbeitet und soll Ende dieses Monats in leicht gekürzter Form als definitiver Lehrplan 21 den Kantonen zur Verfügung gestellt werden. Die widersprüchlichen Aussagen der Erziehungsdirektoren machen es äusserst schwierig, den Stellenwert richtig einzuschätzen. Ist das Ganze eine detaillierte Steuerung der Volksschulbildung mit dem Ziel ­eines vergleich­baren Volksschulabschlusses? Oder ist das Ganze ein Papiertiger, den die Lehrpersonen ohnehin kaum zu Rate ziehen werden? Die Aussagen reichen von «nichts Neues unter der Sonne» bis hin zu «grundlegender Paradigmenwechsel für die Volksschule».
Die irritierenden Informationen passen zur Geheimniskrämerei rund um den Lehrplan. Zwar dürfte die Überarbeitung einzelne Verbesserungen bringen, aber es ist kaum damit zu rechnen, dass innerhalb des gedrängten Zeitplans die Hauptkritikpunkte zufriedenstellend bereinigt werden können.
Alles und nichts
An der Umstellung von verbindlichen Bildungszielen auf ein komplexes System mit möglichst messbaren Kompetenzzielen wird sicher festgehalten. Auch die Zahl der Kompetenzziele dürfte bei der angekündigten Kürzung um höchstens zwanzig Prozent noch ­immer nahe bei 4000 liegen. Bei den meisten kantonalen Lehrplänen sind Bildungsziele vorgegeben, die Können und Wissen etwa gleich gewichten. Beim Lehrplan 21 steht das anwendbare Können im Zentrum der Bildungsbemühungen, die Inhalte hingegen haben nur eine sekun­däre Bedeutung. Diese einseitige Kompetenzorientierung wertet das Erarbeiten elementaren Wissens stark ab und führt zu einer weitgehenden Beliebigkeit bei den Bildungsinhalten.
Verbindliche Bildungsinhalte schaffen ein Fundament des Wissens, was für den gesellschaftlichen Konsens und für jede weiterführende Bildung von Bedeutung ist. Die Austauschbarkeit des Wissens führt zur absurden Situation, dass in verschiedenen Bereichen nicht mehr klar ist, was inhaltlich eigentlich gelehrt werden soll. So ist es in einem Fach wie Geschichte oder Geografie geradezu fahrlässig, wenn man nicht mehr weiss, welche Themen zum Pflichtstoff gehören.
Es ist schwer verständlich, weshalb nicht ­eine Synthese aus den besten kantonalen Lehrplänen angestrebt wurde. Mit übersichtlich geordneten Bildungszielen verfügen diese Lehrpläne bereits über einen überzeugenden Aufbau, mit dem ein ein­facher Deutschschweizer Rahmenlehrplan entwickelt werden könnte. Stattdessen wählte man lieber das völlig unerprobte Kompetenzen­modell, das eine höchst fragwürdige Schulentwicklung in Gang setzen soll.
Die Kosten für das Experiment Lehrplan 21 lassen sich prognostisch kaum in Zahlen fassen. Sicher ist nur, dass dieser komplexe Lehrplan eine Reihe von administrativen und bildungstechnischen Massnahmen auslösen wird. Folgekosten in beträchtlicher Höhe dürften durch die verschiedenen Lernstandserhebungen, die Weiterbildung der Lehrpersonen und vor allem durch eine völlige Umgestaltung einer grossen Zahl von Lehrmitteln entstehen.
Viel Kritik gab es von allen Seiten, weil der Lehrplan mit seiner Überfülle an Zielen möglichst viel anvisiert und so kaum Zeit zur Vertiefung zentraler Lernprozesse lässt. Dazu kommt ein dogmatischer Ansatz, dass alle Schüler in jedem Bereich alles mindestens ein wenig kennenlernen sollen. Die Abstufung der Anforderungen nach Schwierigkeitsgrad und die Forderung nach mehr individualisierendem Unterricht können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Respekt vor den sehr unterschiedlichen Begabungsprofilen der Kinder weitgehend fehlt. Das Abhandeln eines breiten Bildungsprogramms scheint wichtiger zu sein als die Konzentration auf Wesentliches. Daraus resultieren überladene Lehrmittel mit komplexem Aufbau, die das Verarbeiten vollständiger Lernprozesse mit dem notwendigen Üben und situativen Anwenden des Gelernten kaum fördern. Die Lehrerschaft verlangt zu Recht, dass die Relevanz von Bildungszielen überprüft und nicht alle Schüler über einen Leisten geschlagen werden.
Ein Lehrplan mit dem Hauptzweck der Harmonisierung muss für Lehrpersonen und Schulbehörden übersichtlich und gut verständlich sein. Wenn dafür lange Einführungskurse nötig sind, stimmt etwas nicht. Ein Schweizer Rahmenlehrplan ist kein Reformprojekt zur Umgestaltung der Schule, denn dazu fehlt ein eigentlicher Auftrag. Koordination der Bildungsziele darf nicht heis­sen, dass nun in ­einem engmaschigen Netz von Kompetenzzielen die Lernprozesse ablaufen. Dies wäre fatal für die tägliche Arbeit der Lehrpersonen. Es braucht klare, definierte Stufenziele und in einzelnen Fächern allenfalls Jahresziele.
Lehrpersonen wollen wissen, welche Grundkompetenzen sie den Schülern im Hinblick auf die nachfolgende Bildungsstufe vermitteln sollen. Weder eine Überregulierung noch eine schwammige Beliebigkeit bei den Bildungszielen ist hilfreich. Bei der Lösung dieser Auf­gabe hängt viel davon ab, wieweit ein Lehrplan die Methodenfreiheit und die Freiheit der Unterrichtsgestaltung tatsächlich und nicht nur deklamatorisch respektiert.
Ein Lehrplan hat die Funktion, gemeinsame Bildungsziele für die Kantone festzulegen. Von einer damit verbundenen Umgestaltung der Volksschule im Sinne einer inneren Reform steht im vielzitierten Bildungsartikel kein Wort. Der neue Lehrplan aber erhebt den Anspruch, die Volksschule grundlegend zu verändern. Ein Lehrplan muss breit abgestützt sein, wenn das Vorhaben nicht vorzeitig scheitern soll. Die Frage, ob mit dem Lehrplan eine umfassende Volksschulreform eingeleitet werden soll, muss im Rahmen einer notwendigen Vernehmlassung zum überarbeiteten Lehrplan unmissverständlich gestellt werden.

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