Erwartet wurde ein übersichtlicher Lehrplan mit
verbindlichen Bildungszielen. Herausgekommen ist ein komplexes Programm mit
über 4700 einzelnen Kompetenzen. Egal ob Papiertiger oder Paradigmenwechsel —
für die Lehrerschaft ist der Lehrplan 21 unerspriesslich.
Versteckis spielen als Grundkompetenz des neuen Lehrplans, bild: derlehrplan21.ch
Pädagogische Verwirrung, Weltwoche, 42/2014 von Hanspeter Amstutz
Die erste Version des geplanten Jahrhundertwerks
wird zurzeit überarbeitet und soll Ende dieses Monats in leicht gekürzter Form
als definitiver Lehrplan 21 den Kantonen zur Verfügung gestellt werden. Die
widersprüchlichen Aussagen der Erziehungsdirektoren machen es äusserst
schwierig, den Stellenwert richtig einzuschätzen. Ist das Ganze eine
detaillierte Steuerung der Volksschulbildung mit dem Ziel eines vergleichbaren
Volksschulabschlusses? Oder ist das Ganze ein Papiertiger, den die Lehrpersonen
ohnehin kaum zu Rate ziehen werden? Die Aussagen reichen von «nichts Neues
unter der Sonne» bis hin zu «grundlegender Paradigmenwechsel für die
Volksschule».
Die irritierenden Informationen passen zur
Geheimniskrämerei rund um den Lehrplan. Zwar dürfte die Überarbeitung einzelne
Verbesserungen bringen, aber es ist kaum damit zu rechnen, dass innerhalb des
gedrängten Zeitplans die Hauptkritikpunkte zufriedenstellend bereinigt werden
können.
Alles und nichts
An der Umstellung von verbindlichen Bildungszielen
auf ein komplexes System mit möglichst messbaren Kompetenzzielen wird sicher
festgehalten. Auch die Zahl der Kompetenzziele dürfte bei der angekündigten
Kürzung um höchstens zwanzig Prozent noch immer nahe bei 4000 liegen. Bei den
meisten kantonalen Lehrplänen sind Bildungsziele vorgegeben, die Können und
Wissen etwa gleich gewichten. Beim Lehrplan 21 steht das anwendbare Können im
Zentrum der Bildungsbemühungen, die Inhalte hingegen haben nur eine sekundäre
Bedeutung. Diese einseitige Kompetenzorientierung wertet das Erarbeiten
elementaren Wissens stark ab und führt zu einer weitgehenden Beliebigkeit bei
den Bildungsinhalten.
Verbindliche Bildungsinhalte schaffen ein Fundament
des Wissens, was für den gesellschaftlichen Konsens und für jede weiterführende
Bildung von Bedeutung ist. Die Austauschbarkeit des Wissens führt zur absurden
Situation, dass in verschiedenen Bereichen nicht mehr klar ist, was inhaltlich
eigentlich gelehrt werden soll. So ist es in einem Fach wie Geschichte oder
Geografie geradezu fahrlässig, wenn man nicht mehr weiss, welche Themen zum
Pflichtstoff gehören.
Es ist schwer verständlich, weshalb nicht eine
Synthese aus den besten kantonalen Lehrplänen angestrebt wurde. Mit
übersichtlich geordneten Bildungszielen verfügen diese Lehrpläne bereits über
einen überzeugenden Aufbau, mit dem ein einfacher Deutschschweizer
Rahmenlehrplan entwickelt werden könnte. Stattdessen wählte man lieber das
völlig unerprobte Kompetenzenmodell, das eine höchst fragwürdige
Schulentwicklung in Gang setzen soll.
Die Kosten für das Experiment Lehrplan 21 lassen
sich prognostisch kaum in Zahlen fassen. Sicher ist nur, dass dieser komplexe
Lehrplan eine Reihe von administrativen und bildungstechnischen Massnahmen
auslösen wird. Folgekosten in beträchtlicher Höhe dürften durch die
verschiedenen Lernstandserhebungen, die Weiterbildung der Lehrpersonen und vor
allem durch eine völlige Umgestaltung einer grossen Zahl von Lehrmitteln
entstehen.
Viel Kritik gab es von allen Seiten, weil der
Lehrplan mit seiner Überfülle an Zielen möglichst viel anvisiert und so kaum
Zeit zur Vertiefung zentraler Lernprozesse lässt. Dazu kommt ein dogmatischer
Ansatz, dass alle Schüler in jedem Bereich alles mindestens ein wenig
kennenlernen sollen. Die Abstufung der Anforderungen nach Schwierigkeitsgrad
und die Forderung nach mehr individualisierendem Unterricht können nicht
darüber hinwegtäuschen, dass der Respekt vor den sehr unterschiedlichen
Begabungsprofilen der Kinder weitgehend fehlt. Das Abhandeln eines breiten
Bildungsprogramms scheint wichtiger zu sein als die Konzentration auf
Wesentliches. Daraus resultieren überladene Lehrmittel mit komplexem Aufbau,
die das Verarbeiten vollständiger Lernprozesse mit dem notwendigen Üben und
situativen Anwenden des Gelernten kaum fördern. Die Lehrerschaft verlangt zu
Recht, dass die Relevanz von Bildungszielen überprüft und nicht alle Schüler
über einen Leisten geschlagen werden.
Ein Lehrplan mit dem Hauptzweck der Harmonisierung
muss für Lehrpersonen und Schulbehörden übersichtlich und gut verständlich
sein. Wenn dafür lange Einführungskurse nötig sind, stimmt etwas nicht. Ein
Schweizer Rahmenlehrplan ist kein Reformprojekt zur Umgestaltung der Schule,
denn dazu fehlt ein eigentlicher Auftrag. Koordination der Bildungsziele darf
nicht heissen, dass nun in einem engmaschigen Netz von Kompetenzzielen die
Lernprozesse ablaufen. Dies wäre fatal für die tägliche Arbeit der
Lehrpersonen. Es braucht klare, definierte Stufenziele und in einzelnen Fächern
allenfalls Jahresziele.
Lehrpersonen wollen wissen, welche Grundkompetenzen
sie den Schülern im Hinblick auf die nachfolgende Bildungsstufe vermitteln
sollen. Weder eine Überregulierung noch eine schwammige Beliebigkeit bei den
Bildungszielen ist hilfreich. Bei der Lösung dieser Aufgabe hängt viel davon
ab, wieweit ein Lehrplan die Methodenfreiheit und die Freiheit der
Unterrichtsgestaltung tatsächlich und nicht nur deklamatorisch respektiert.
Ein Lehrplan hat die Funktion, gemeinsame Bildungsziele für die Kantone
festzulegen. Von einer damit verbundenen Umgestaltung der Volksschule im Sinne
einer inneren Reform steht im vielzitierten Bildungsartikel kein Wort. Der neue
Lehrplan aber erhebt den Anspruch, die Volksschule grundlegend zu verändern.
Ein Lehrplan muss breit abgestützt sein, wenn das Vorhaben nicht vorzeitig
scheitern soll. Die Frage, ob mit dem Lehrplan eine umfassende Volksschulreform
eingeleitet werden soll, muss im Rahmen einer notwendigen Vernehmlassung zum
überarbeiteten Lehrplan unmissverständlich gestellt werden.
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