Wie weit ist Pisa mit unserer Demokratie vereinbar? Bild: Marcel Stahn
Das grosse Zerstörungswerk der OECD, Wirtschaftswoche, 13.10. von Beat Kissling
Seit 14 Jahren haben sich viele europäische Staaten von der OECD in die sogenannten Pisa-Studien einbinden lassen. Sie produzieren alle drei Jahre Ranglisten der getesteten Schüler beziehungsweise der Länder, in denen sie unterrichtet werden. Weltweit hat sich die Zahl der mitmachenden Staaten innerhalb weniger Jahre mehr als verdoppelt, Tendenz rasch steigend.
Die Wirtschaftsorganisation etabliert sich somit global als alleiniger
Schiedsrichter für die Beurteilung nationaler Bildungssysteme. Doch mit welcher
Legitimation? Es ist schwer nachzuvollziehen, wieso Länder mit gänzlich
unterschiedlichen Bildungstraditionen und -systemen sich auf diesen
uniformierenden, angelsächsisch orientierten Test- und Rankingfetischismus
haben ‚einspuren’ lassen, der dem europäischen Bildungsverständnis vor 2000
gänzlich fremd war. Viele Länder mit ausgezeichnet funktionierenden Bildungssystemen,
zum Beispiel die Schweiz, taten das ohne jegliche Notwendigkeit.
Am 5. September lieferte die GEMS Education im Auftrag der OECD ein
„Education efficiency ranking“ mit 30 beteiligten Staaten. GEMS Education ist
nach eigenen Angaben der weltweit führende private Bildungskonzern und
Spitzenreiter bei der internationalen Bildungsentwicklung sowie -reform. Das
Unternehmen steht in enger Verbindung mit dem World Economic Forum, Microsoft,
Stiftungen wie der Clinton Global Initiative oder Tony Blairs Faith Foundation
und nun auch mit der UNESCO.
Die aktuell erstellte Effizienz-Rangliste gründet auf der berechneten
Relation zwischen finanziellen Ausgaben der verschiedenen nationalen
Bildungssysteme (konkret der durchschnittlichen Lehrerlöhne sowie
Klassengrößen) und ihrer letzten PISA-Testresultate. Vier Tage später, also am
9. September, schob die OECD ihren jährlichen Bericht „Education at a Glance“
nach, der wiederum sämtliche beteiligte Staaten mit zahllosen Tabellen und
Zahlen zueinander in Konkurrenz setzte. Es geht da um Abschlussquoten auf den
verschiedenen Schulstufen, Entwicklungen der Erwerbslosenquoten, Verhältnis von
Berufsbildungsabsolventen zu erfolgreichen Studienabgängern, öffentliche
Vorschul-Bildungseinrichtungen und so weiter.
Wie immer wurden diese Offenbarungen der OECD von der Politik der
beteiligten Länder nervös erwartet und je nach dem Abschneiden des eigenen
Landes erleichtert oder schamvoll entgegengenommen. Parteiprogramme werden
daraufhin modifiziert oder akzentuiert, alles je nach Opportunität.
Europäische
Bildungstradition wird gebremst
Seltsamerweise schwiegen bisher die Menschen, die sich schon lange die
Frage stellen, welche Relevanz diese US-mentorierte, kulturentleerte,
technokratische Datenklauberei und ökonomistische Schielerei auf Rankingplätze
für eine geistesgeschichtlich und rechtsstaatlich verankerte traditionsreiche
europäische Bildungstradition haben soll. Die zeichnet sich schließlich eben
nicht durch Uniformität, sondern durch gewachsene Vielfalt aus.
Endlich durchbrach nun am 6. Mai 2014 in der englischen Tageszeitung The
Guardian ein ‚offener Brief’ an den OECD-Verantwortlichen für Pisa, Andreas
Schleicher, mit dem Titel „OECD and Pisa tests are damaging education
worldwide“ das unwürdige Schweigen - unterschrieben von über 150
Universitätsdozenten aus aller Welt.
Die deutsche Version wurde inzwischen von rund 3000 in der Bildungengagierten
Personen unterzeichnet. Verfasst wurde der Brief von Heinz-Dieter Meyer,
Professor an der State University of New York und Katie Zahedi, Schulleiterin
in New York. Zu den zentralen Anliegen gehört die Veranschaulichung der enormen
Verengung und Verarmung der Bildung durch eine uniforme, standardisierte
Testkultur (Pisa).
Um alle an denselben OECD-Standards messen zu können, so schreiben sie,
ignoriere man historisch gewachsene und kulturell verwobene Besonderheiten
unterschiedlicher staatlicher Bildungswesen. Somit werde in Kauf genommen, dass
die identitätsstiftende und persönlichkeitsbildende Aufgabe der öffentlichen
Schulen in einem Land zugunsten der OECD-Standards banalisiert wird.
Was den konkreten Unterricht betrifft, sehen Meyer und Zahedi zudem die
Autonomie der Lehrer stark beeinträchtigt, zumal mit Pisa zwangsläufig
schulisches Lernen ins „Teaching to the Test“ abgleitet. Nicht
quantifizierbare, kulturell und politisch aber kostbare Bildungsziele jeder
Demokratie wie eigenständiges Denken und verantwortungsvolles Handelns verlören
an Bedeutung, ebenso die künstlerisch-musische Bildung.
Dies überrascht nicht, zumal die OECD als internationale
Wirtschaftsorganisation zwangsläufig ökonomischen Aspekten der Schule Priorität
einräumt. Das zeigt sich laut Meyer und Zahedi darin, dass Psychometriker,
Statistiker und Ökonomen bei der OECD maßgebender sind als Lehrer, Eltern,
Erziehungswissenschaftler und Fachverbände. Besonders kritisieren die Autoren
auch die Tatsache, dass die OECD intransparente Allianzen mit
profitorientierten multinationalen Unternehmen unterhält, für die Bildung ein
einträglicher internationaler Markt darstellt.
Schließlich erinnern sie auch daran, dass der OECD ein legitimes Mandat
fehlt, das ihr erlaube, sich zur normgebenden weltweiten Bildungsautorität zu
erklären. Sie fordern schließlich eine Besinnungspause für PISA, um eine längst
fällige öffentliche Debatte in den Staaten endlich in Gang zu bringen.
Die Wurzeln im Kalten Krieg
Viele Argumente in diesem Brief gehen auf eine internationale Konferenz
von Erziehungswissenschaftlern an der State University of New York zurück, bei
der die Rolle der OECD eines der Kernthemen war - insbesondere deren gezielte
Einflussnahme auf Bildungssysteme souveräner Staaten durch Pisa. Diesen Zugriff
fädelte die OECD in den 1990er ein, als die Organisation mit Ende des Kalten
Krieges ihre strategischen Ziele auf die Governance (also überstaatliche
Steuerung) der globalen Bildungsentwicklung konzentrierte.
Wie in der Konferenz aufgedeckt wurde, bediente sich die OECD williger
Politiker in den entscheidenden Ländern, um ihren Fuß hineinzubekommen. Diese
Politiker schufen nationale „Brückeninstitutionen“ für die OECD und andere
internationale Organisationen - pikanterweise zumeist unter Umgehung der
eigenen nationalen Bildungsforschung.
Auf diesen völkerrechtlich höchst problematischen Vorgang zielte auch
der Schweizer Daniel Tröhler, Professor für Erziehungswissenschaften an der
Universität Luxemburg und renommierter Spezialist für historische
Bildungsforschung. Tröhler verfolgt die Wurzeln dieser OECD-Strategie bis in
die Nachkriegszeit in den USA zurück: Seit dem Sputnikshock 1957 lancierte
deren Regierung eigene Notprogramme zur Optimierung ihres larmoyanten
Bildungswesens im Sinne eines antikommunistischen Verteidigungsaktes (National
Defence Education Act).
Bereits 1958 sei in den USA aus der Armee der Ruf nach Standardisierung,
Vergleichsprüfung und Ranking laut geworden – dies gemäß der Vorstellung, ein
Bildungswesen könne einem technischen Regelsystem gleich durch Messen des
„Outputs“ (Zahlen und Tabellen) qualifiziert und durch Systemmanipulation
optimiert werden.
Wesentlichen Einfluss auf diese Vorstellung hatte dabei der prominente
Behaviourist Burrhus F. Skinner, der die „programmierte Instruktion“ als
Methode der Wahl propagierte: also Lernen als vorwiegend technischen,
selbstgesteuerten Vorgang, praktisch ohne Lehrersperson auskommend – eine
Theorie, die in der aktuell propagierten Didaktik mit dem „selbstgesteuerten
Lernen “ und den Lehrpersonen als „Coachs“ oder „Moderatoren“ eine Neuauflage
erlebt.
Bildungsmonitoring durch
nationale Vergleichstests
Mit der „output“-gesteuerten Testkultur konnte die US-Regierung laut
Tröhler ein strategisches Ziel erreichen: nämlich den eigenen
Bildungsföderalismus zu überlisten. Über die Einführung nationaler Vergleichstests
konnte ein Bildungsmonitoring geschaffen werden, das datengestützte
Topdown-Verordnungen ermöglichte.
Pisa erachtet er als politisches Instrument derselben hegemonialen
Strategie - nun in Händen der OECD: unterschiedlich gewachsenen Bildungssystemen
souveräner Staaten eine uniforme Norm und Kontrolle aufzuzwingen.
Den
Zusammenbruch des europäischen Widerstandes gegen das US-inspirierte Konstrukt
Pisa in den 1990er Jahren könnte der Siegeszug eines global agierenden,
neoliberalen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des sozialistischen
„Ostblocks“. Dadurch gewannen ökonomistische Theorien die Oberhand, die Bildung lediglich als ‚Ressource’ („Humankapital“)
bewerten. Der Wert von „Humankapital“ bemisst sich dabei ausschließlich an
seinem direkten wirtschaftlichen Nutzen.
Auf der New Yorker Konferenz charakterisierte man diese Neuorientierung
von Bildung als „Ontologisierung“ neoliberaler Globalisierungsprozesse. Die
OECD hat also quasi eine Seinsform (Ontologie) des Menschen übernommen und auf
Schule und Unterricht übertragen, die zur neoliberalen Weltsicht passt. Zur
Sicherung dieser Seinsform hat sie die globale Steuerung der Bildung in die
Hand beziehungsweise den Staaten aus der Hand genommen.
Nikolas
Rose, Soziologieprofessor an der London School of Economics charakterisiert
diese utilitaristische Seinweise des „new citizen“ als eine Lebensform, in der
„life is to become a continuous economic capitalization of the self.“
In den Pisa-Studien und der OECD-Governance ist also keine Bemühung zu
sehen, nationale Bildungssysteme zu optimieren, sondern die Absicht, weltweit
eine globalisierte, standardisierte Bildungspraxis zu installieren. In dieser
werden Menschen auf ihren Wert als „Humankapital“ reduziert und die
Nationalstaaten haben sich einem globalen Bildungs-Leviathan unterzuordnen.
Höchst fraglich ist, ob diese Zielsetzung und der Weg dahin wohl mit den
Bedingungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten, Völkerrecht
und Gemeinwohlförderung vereinbar sind.
Zum Autor: Dr. phil. Beat
Kissling, Psychologe, Erziehungswissenschaftler und Beiratsmitglied der Gesellschaft für
Bildung und Wissen; beruflich tätig als Gymnasiallehrer und Hochschuldozent.
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