2. Oktober 2014

Le Schulbesuch

Frühdeutsch in Genf, Frühfranzösisch in Zürich: Wie zwei Klassen eine andere Landessprache lernen.




Nach drei Wochen Deutsch lieben die Schüler den Unterricht, weil er spielerisch ist, Bild: Frank Mentha

Le Schulbesuch, Tages Anzeiger, 2.10. von Janine Hosp und Mirjam Fuchs


Noch lieben die achtjährigen Schüler und Schülerinnen im Genfer Schulhaus Geisendorf den Deutschunterricht – weil er spielerisch ist.
Die geschmeidige Stimme aus dem Lautsprecher sagt: «Das ist Deutsch. Lektion 1.» Ein Schüler hat seinen Kopf auf die Tischplatte gelegt, die Augen geschlossen, ein anderer sitzt zusammengesunken auf seinem Stuhl, der Rest der Klasse hält sich mehr oder weniger aufrecht. Es ist Montagmorgen, Schulhaus Geisendorf, Genf. Erst vor drei Wochen haben die Schülerinnen und Schüler begonnen, Deutsch zu lernen. Sie sind acht Jahre alt, besuchen aber bereits die 5. Klasse, da sie schon als Vierjährige eingeschult wurden.
Nun, zu Beginn der vierten Woche, nennt der Lehrer eine Zahl, die Kinder müssen entsprechend viele Finger hochhalten. Fünf, drei, sieben – einige Kinder schielen auf die Hand des Nachbarn und wechseln rasch die Finger. Vier, sechs, neun, drei – das Tempo steigt, Leben kommt in die Füsse unter den Stühlen, die blauen, pink, gestreiften und glitzernden Turnschuhe beginnen zu wippen und zu treten, und spätestens als der Lehrer sich wie eine Hexe auf einen Besen setzt und dazu rezitiert «fünf, sechs, alte Hex», sind alle Kinder wach. Bei jeder Frage stechen nun 18 durchgestreckte Zeigefinger in die Luft.
«Sie lieben Deutsch», sagt ihr Lehrer Bernard Lambelet. Weshalb? Wegen der Spiele, sagt Leticia, wegen der Musik, meint Julia. Und weil Deutsch etwas Neues für sie ist, fügt ihr Lehrer an. Sie liebten alles, was neu sei. Die ersten beiden Jahre nähern sie sich der deutschen Sprache spielerisch an. Aber sobald sie die Grammatik lernen müssen, der spielerische Ansatz aus dem Unterricht verschwindet, schwindet auch die Begeisterung. Die Satzstellung bereitet ihnen Mühe, Dativ und Akkusativ sowie alle Endungen. Dennoch spricht hier niemand davon, dass die Schüler mit Deutsch und Englisch überfordert sind; Englisch kommt in der 7. Klasse hinzu. Lambelet erklärt sich das damit, dass die Deutschschweizer Schüler im Grunde noch eine Sprache mehr lernen müssen – das Hochdeutsche.
Die meisten Eltern können ihren Kindern beim Deutsch nicht helfen – sie haben den früheren Deutschunterricht nicht in guter Erinnerung, haben auch nicht viel gelernt, und die Sympathien liegen ohnehin mehr beim Englischen. In Genf wird es öfter gesprochen als Deutsch. Dennoch diskutiert die Lehrerschaft kaum darüber, erst Englisch zu lehren und dann Deutsch – Deutsch ist die Sprache der Mehrheit im Land. So kam es nicht gut an, dass die Kantone Thurgau und Nidwalden den Franzö-sischunterricht auf das 7. Schuljahr hinausschoben. Man fühlte sich desavouiert.
Ein Thurgauer in Genf
Just als der Thurgauer Kantonsrat Mitte August beschlossen hatte, dass künftig Französisch erst auf der Oberstufe gelehrt wird, und die ganze Romandie in Aufruhr war, trat Samuel Oswald sein Praktikum bei Bernard Lambelet an. Oswald ist angehender Primarlehrer aus dem Thurgau, und so war es nicht unbedingt angenehm für ihn, als er im Lehrerzimmer als Thurgauer vorgestellt wurde. Wie er sagt, sind noch etwa zehn weitere Studienkollegen von ihm in Genf, und vor allem jene, die voll auf Französisch setzen und keinen Englischunterricht haben, sind ziemlich ratlos; entweder sie holen Englisch auf irgendeine Weise nach, oder sie können keine Fremdsprache unterrichten.
Die Schülerinnen und Schüler gehen von Tisch zu Tisch. Sie führen Verkaufsgespräche: «Guten Morgen. Ich möchte eine Schokolade bitte», sagt die Kundin. «Hier bitte», antwortet der Verkäufer und reicht ein Blatt Papier über das Pult, auf das er eine Schokolade gemalt hat. «Das kostet 3 Franken.» Nach drei Wochen sprechen die Kinder überraschend gut. Aber am Ende der Schulzeit, so sagt ihr Lehrer Bernard Lambelet, sei das Ergebnis enttäuschend; es gelinge nicht, die spielerisch erworbenen Deutschkenntnisse in die Sekundarschule hinüberzuretten. Zudem empfänden es viele angehende Lehrer als Zwang, Deutsch zu lernen und sie verreisten auch kaum für ein Praktikum in die Deutschschweiz. So werde die Begeisterung für die Sprache nie geweckt – und die der Kinder ebenso wenig.
Janine Hosp

Die Fünftklässler in einer Zürcher Primarklasse lernen gern Frühfranzösisch – auch wenn ihnen die Sprache im Alltag kaum begegnet.
Der Besuch im Schulhaus Untermoos in Zürich-Altstetten ist eine Zeitreise. «Bonjour la classe», sagt die Lehrerin Irene Büttner. «Bonjour la classe» antworten die 19 Schülerinnen und Schüler schüchtern. Dann erklingt «Salut, Ça Va» ab CD, und alle singen mit, erst zaghaft, dann sicherer. Viel scheint sich in den 18 Jahren, die seit der eigenen Primarschulzeit im Baselbiet vergangen sind, nicht verändert zu haben. Nicht nur das Lied, auch das anschliessende Spiel kommt uns bekannt vor. «Dans mon sac à dos, il y a une banane» sagt die Lehrerin und zeigt den elfjährigen Kindern, die vor ihr im Kreis sitzen, eine angebräunte Banane, die sie soeben aus ihrem Rucksack gezogen hat.
Eifrig benennen die Fünftklässler die Namen der Gegenstände, die der Rucksack freigibt: «une règle», «un livre», «une cahier» – «un cahier» korrigiert Frau Büttner, die Kinder repetieren folgsam. Seit über drei Wochen lernt die Klasse Französisch, noch heisst das Lehrmittel «Envol» und stammt aus dem Jahr 2000. Der Nachfolger erscheint erst Anfang 2017. Auf den Pulten stehen Boxen mit Karteikärtchen, daneben liegen gelbe Blätter mit französischen Wörtern in Schnürlischrift. «Das ist zum Wörtli-Lernen», erklärt Denis*, der neben uns sitzt. Lernt er gern Französisch? «Ja schon. Aber ich mag lieber Englisch, weil ich das besser kann. Ich war auch schon mal in Australien», sagt er stolz.
Der Frühenglischunterricht beginnt im Kanton Zürich bereits in der 2. Klasse. Der Einstieg ins Französische gelinge den Schülerinnen und Schülern deshalb viel leichter, meint Irene Büttner. «Es ist die zweite Fremdsprache, die sie lernen. Sie sind daher schon mit Lernmethoden wie den Vokabelkärtchen, dem Nachsprechen oder der Partnerarbeit vertraut.» Die 30-jährige Lehrerin achtet bei der Planung der Lektionen darauf, der Klasse viel Sprechzeit einzuräumen und den Frontalunterricht kurz zu halten. «Wir haben wie im Englisch nur zwei Lektionen pro Woche. In den Partnerarbeiten sollen die Schülerinnen und Schüler Schüchternheit abbauen und die Aussprache üben.»
Für die meisten Schülerinnen und Schüler dieser 5. Klasse ist die Schule der einzige Ort, wo sie mit Französisch in Kontakt kommen. Als wir in die Runde fragen, wer zu Hause auf Französisch Bücher liest oder Filme schaut, heben nur wenige die Hand. Es gibt zwar viele zweisprachige Kinder, die daheim Spanisch, Serbisch, Italienisch oder Albanisch sprechen. Aber abgesehen von Shabani*, der aus dem Kongo stammt, und Claude*, der Genfer Wurzeln hat, spricht niemand zu Hause Französisch. Trotzdem gefällt den Kindern die Sprache: «Ich mag es bis jetzt gut, aber ich habe gehört, dass die Rechtschreibung sehr schwer ist», sagt ein Knabe. «Ich fahre nach Frankreich in die Ferien und freue mich, dass ich die Sprache dann brauchen kann», meint ein zweiter.
Doch lieber Englisch
Ganz anders sieht es mit Englisch aus: Da schnellen alle Hände nach oben. «Ich schaue Filme auf Englisch mit meinem Vater.» «Ich schaue auf Youtube Sportvideos, die auf Englisch kommentiert sind.» «Ich lese Manga-Comics auf Englisch», erzählen die Kinder. Irene Büttner bestätigt: «Englisch ist heute die Kommunikationssprache Nummer eins und spielt eine wichtige Rolle im Alltag der Schülerinnen und Schüler.» Aber Französisch sei mit Spanisch die zweithäufigste Sprache der Welt – und ausserdem eine Landessprache. Die junge Lehrerin hat ihre Ausbildung in Baden-Württemberg gemacht und den praktischen Teil im Waadtland absolviert. «Ich bin fasziniert von der Sprache, und es macht Spass, meine Freude mit den Kindern zu teilen», sagt sie.
Die Begeisterung der Lehrerin für das Französische springt im Unterricht auf die Kinder über. Eifrig beteiligen sie sich am Bilderquiz, bei dem sie entscheiden müssen, welcher Gegenstand aus dem Rucksack fehlt. «Une gomme», «un crayon», «une banane» – die Vokabeln kommen ihnen jetzt, am Ende der Stunde, mühelos über die Lippen.
Mirjam Fuchs


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