23. Oktober 2014

"Ein starres Schulsystem schafft Probleme"

70'000 Erwachsene im Kanton Bern können nicht richtig lesen und schreiben. Die finnische Bidungsfachfrau und Deutschlehrerin Petra Linderoos sagt, was die Schule und der Staat dagegen tun könnten.




Lesen und schreiben fällt nicht allen leicht, Bild: Valérie Chételat

"Ein starres Schulsystem schafft Probleme", Bund, 22.10. von Mireille Guggenbühler


Es gibt gemäss dem Verein Dyslexie Bern in der Schweiz mit ihren acht Millionen Einwohnern 800'000 Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können, die Hälfte davon sind Schweizer. Im Kanton Bern können 70'000 Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. Wenn Sie diese Zahlen hören, was löst dies in Ihnen aus?
800'000 Personen? Das sind zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung.
Ja, das ist so.
Wenn ich diese Zahl höre, dann bin ich besorgt, es macht mich traurig und ärgert mich auch. Besorgt bin ich deshalb, weil wir wissen, wie wichtig Lesen und Schreiben sind, um am öffentlichen Leben teilhaben zu können und Erfolg zu haben. Traurig, weil man sich vorstellen kann, dass hinter jedem einzelnen Betroffenen eine ganz eigene, persönliche Geschichte steckt. Viele schämen sich vielleicht, weil sie das Gefühl haben, versagt zu haben, oder zweifeln an sich und ihrer Intelligenz. Was natürlich nicht wahr ist. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten haben ja nichts mit Intelligenz zu tun, das weiss man heute. Es ärgert mich, weil ich vermute, dass die Betroffenen nicht die für sie notwendige Förderung erhalten haben.
Was läuft denn in einem ­Schul­system falsch, wenn so viele ­Schulabgänger nicht richtig Lesen und Schreiben gelernt haben?
Generell kann man festhalten, dass ein Schulsystem, das starr und nicht flexibel ist, welches Lernende sondiert und klassifiziert, Schwierigkeiten hat, mit Schülerinnen und Schülern umzugehen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben oder andere schulische Probleme haben. Eine Lese- und Rechtschreibschwierigkeit muss möglichst frühzeitig erkannt werden. Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche brauchen beispielsweise viel Unterstützung in ihrer Muttersprache. Wenn ein solches Problem erst in der Schule bemerkt wird, ist es schon sehr spät.
Das heisst, man müsste Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten schon im Kindergarten erkennen können? 
Im Kindergarten lernt man ja noch nicht lesen und schreiben. Hat ein Kind aber sprachliche Auffälligkeiten, sollte man diese angehen. So kann möglichen Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten präventiv begegnet werden. Weil man zudem weiss, dass genetische Faktoren eine Rolle spielen, sollte man schon möglichst früh herausfinden können, in welcher Familie es bereits solche Probleme gibt.
Wie liesse sich dies erfassen?
In Finnland kennen wir die Neuvolan, das ist eine flächendeckende, kostenlose Beratungsstelle, in welcher Frauen ab der Schwangerschaft bis zum 7. Lebensjahr der Kinder begleitet und in Fragen der Erziehung und Entwicklung beraten werden. Das Angebot gilt übrigens auch für Väter. 100 Prozent der Mütter in Finnland nutzen dieses freiwillige Angebot. Wichtig ist aber noch etwas anderes: Um in der frühen Kindheit Probleme bei Kindern zu erkennen, genügt eine solche Institution allein nicht. Es braucht auch in anderen Institutionen Fachleute, welche die Kinder länger beobachten können. Beispielsweise Sonderpädagogen, welche die Gruppen in Kindergärten mitbetreuen.
Eine Heilpädagogin pro Gruppe oder Klasse? Im Kanton Bern ­betreut eine Heilpädagogin in der Regel mehrere Klassen, mehr liegt finanziell nicht drin.
Ist das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen, kommt es den Staat viel teurer zu stehen. In Finnland sind 13 Prozent der Lehrpersonen sonderpädagogisch ausgebildet. Und es besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass man in Bildung und vor allem auch in Früherziehung investieren soll. Um Probleme bei Kindern rechtzeitig zu erfassen, ist beispielsweise auch der Betreuungsschlüssel zentral: In Finnland sind die Gruppen der 0- bis 3-jährigen Kinder in den Kindertagesstätten nie grösser als 12 Kinder. Die Gruppen werden von drei Erwachsenen betreut. Ab dem 3. bis zum 7. Lebensjahr sind die Gruppen an den Kindergärten zudem nie grösser als 21 Kinder, sie werden ebenfalls von drei Erwachsenen betreut.
Die Gruppengrösse hat also einen Einfluss auf die Erfassung von Schwierigkeiten?
Auch. Je weniger Kinder ich betreuen muss, desto mehr kann ich sie individuell fördern, Probleme und Schwierigkeiten erkennen und angehen. Dabei ist es wichtig, dass die Betreuungsfunktionen in Kindertagesstätten und Kindergärten nicht irgendwelche Erwachsenen übernehmen, sondern fachlich ausgebildete und qualifizierte Personen. In Finnland haben sie meist eine akademische Qualifikation.
Was ist zu tun, um Kindern mit einer Lese- oder Rechtschreib­störung an der Schule zu helfen?
Heilpädagogen und Lehrer müssen eng zusammenarbeiten. Und ein einfaches pädagogisches Mittel lautet: Kinder mit Schwierigkeiten brauchen genügend Zeit für den Schulstoff, müssen ein
positives Selbstbild entwickeln können und individuell gefördert werden. Im Prinzip gelten diese Grundsätze für alle Kinder.
Die Lehrer haben nicht die Zeit, 25 Kinder individuell zu fördern.
Die Arbeit eines Pädagogen ist sehr herausfordernd, verantwortungsvoll, das ist so, ja! Individuelle Förderung bedeutet ja aber nicht, dass eine Lehrperson für 25 Schüler einen individuellen Lernplan erstellen muss.
Was heisst es dann?
Individuell fördern heisst, wie schon erwähnt, zum Beispiel denen Zeit zu geben, die sie noch brauchen. Leider wird an vielen Schulen nicht berücksichtigt, dass Kinder unterschiedliche Lerntempi ­haben. Wenn Lehrer das Gefühl haben, sie müssten den Lehrplan einhalten, setzen sie sich unter Druck. Dieser überträgt sich dann auf die Schüler. Das schafft einen Teufelskreis. Insbesondere wenn in einem Schulsystem noch selektioniert wird, schafft dies für alle Beteiligten zusätzlichen Stress. Oberstes Bildungsziel in Finnland, das die Selektion nicht kennt, ist, allen eine gleichwertige Bildung anzubieten. Dies bedeutet nicht, dass es in Finnland keine Kinder, mit schulischen Problemen wie Lese- oder Rechtschreibschwierigkeiten gäbe. Aber es ist jedem Pädagogen in Finnland klar, dass er seinen Unterricht der heterogenen Klassen wegen sehr flexibel gestalten muss.
Schulkinder im Kanton Bern lernen ab der 3. Klasse eine zweite Landes­sprache, nämlich Französisch. Wie muss ein solcher Unterricht ­aufgebaut sein, damit auch Kinder mit Lese- und ­Rechtschreibschwäche diese Sprache lernen können?
Der Unterricht muss auf dieser Klassenstufe spielerisch aufgebaut sein, und vor allem muss viel über das Hören ablaufen und nicht über Lesen und Schreiben. Zudem sollten die Kinder vor allem in der Muttersprache gefördert werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwächen fremde Sprachen gut erlernen, aber es braucht Förderung. Schüler mit Lese-und Rechtschreibproblemen, die optimal gefördert wurden, können später etwa durchaus Sprachen studieren.
 

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