10. Oktober 2014

"Die klassische Prüfung hat ausgedient"

Der Lehrplan 21 hat auch Auswirkungen auf die Art der Leistungsmessung. Silvia Vogel, Primarlehrerin und Dozentin an der PH Luzern findet, dass die klassische Prüfung ausgedient habe, weil sie die Kompetenzen nicht vollständig abdecke. Vogel fordert Prüfungen, die auch Kompetenzen testen und Portfolios.


Noch ist vieles unklar, doch im Oktober soll die überarbeitete Fassung des Lehrplans 21 an die Kantone übergeben werden, Bild: Landbote

Volksschule nicht neu erfunden, aber anders akzentuiert, Landbote, 7.10. von Matthias Scharrer



Für den Entscheid zuständig ist die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK). Sie befindet Ende August über die Freigabe des Lehrplans 21. Je näher der Termin rückt, umso mehr werden Zweifel laut: Im Aargau wurde Ende August eine Volksinitiative gegen den Lehrplan 21 lanciert, und die Kantonsregierung schob dessen Einführung aufs Schuljahr 2020/21 hinaus – frühestens.

Auch Solothurn zögert: Nicht vor 2018/19 werde der neue Lehrplan eingeführt, sagte Bildungsdirektor Remo Ankli Mitte September. Eine Woche später forderte die SVP im Zürcher Kantonsrat, das Parlament müsse über den Lehrplan 21 entscheiden. Ihr Vorstoss scheiterte aber, sodass weiterhin der kantonale Bildungsrat entscheidet. Die Zürcher Regierung will den Lehrplan 21 ab 2017/18 einführen, zuvor jedoch das von der EDK freigegebene Werk nochmals einer Vernehmlassung unterziehen.

Systematischere Persönlichkeitsbildung 
Auf Kritik stösst neben Einzelaspekten wie Sexualkunde, Gewichtung der Schweizer Geschichte, der Informatik, Medienkunde oder Wirtschaft eine Akzentverschiebung: Weg von der reinen Stoffvermittlung hin zur Vermittlung von Kompetenzen. Macher des Lehrplans 21 erklärten kürzlich im Rahmen eines Hintergrundgesprächs in Zürich, was damit gemeint ist. 
«Die Auflistung von Lerninhalten wurde zurückgefahren. Dafür wurden zu erreichende Kompetenzniveaus hervorgehoben», sagte Kurt Reusser, Pädagogikprofessor an der Uni Zürich und Präsident des Fachbeirats Lehrplan 21. Er betonte, Wissen und Kompetenz seien keine Gegensätze: «Kompetenz ist zu 90 Prozent Wissen. Es kommt auf die Qualität des Wissens an.» Kompetenz lasse sich trainieren, auch durch die Auseinandersetzung mit Fragen wie «Was ist eigentlich ein Atom? Ein Molekül? Ein Ozonloch?». Auch die Persönlichkeitsbildung werde mit dem neuen Lehrplan systematischer behandelt.

Keine Neuerfindung
Wie dies im Unterricht konkret aussehen kann, erläuterte Silvia Vogel. Die Primarlehrerin und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Luzern hat den Lehrplan 21 als Vertreterin der Primarstufe mitentwickelt. «Die klassische Prüfung hat ausgedient – oder deckt die Kompetenzen nicht vollständig ab», so Vogel. An ihre Stelle träten zum einen Prüfungen, die auch Kompetenzen testen. Zum anderen Portfolios, in denen Kinder ihren Wissenserwerb selber dokumentieren. 
So habe sie eine erste Primarklasse Berufsleute über ihre Berufe befragen lassen. Die Kinder mussten zuerst untereinander aushandeln, wer welche Berufe erforscht; dann lernen, wie man fremde Menschen begrüsst und verabschiedet; Interviewtermine mit den Berufsleuten abmachen; Tonbandaufzeichnungen von den Gesprächen anfertigen; gruppenweise einen Vortrag über den erforschten Beruf vorbereiten und in der Klasse präsentieren. Dann beurteilte die Klasse den Vortrag, und die Lehrerin gab eine Beurteilung ab. Neben dem Wissen über Berufe eigneten sie sich so Sozialkompetenzen im Umgang mit fremden Menschen sowie im gemeinsamen Arbeiten an, zudem Kompetenzen wie Sprachfluss und Blickkontakt beim Vortrag.

«Es geht darum, Wissen mit einer realen Handlungssituation zu verbinden», fasste Vogel den Ansatz zusammen. Das sei keine Neuerfindung. Und es lasse sich auch nicht in allen Fachbereichen gleich gut umsetzen. Doch mit dem Lehrplan 21 werde diese Haltung gestärkt. 
In Finnland sind Lehrkräfte angesehen wie Ärzte 
Um die Kompetenzen der Kinder zu entdecken, brauche es indes viel gemeinsame Zeit mit ihnen. Vogel plädierte daher dafür, dass Lehrer wieder grössere Pensen in ihren Klassen haben. Pädagogikprofessor Reusser sprach sich für eine Aufwertung des Volksschullehrerberufs aus: «In Finnland sind Lehrer ausgebildet und angesehen wie Ärzte. Wir leisten uns immer noch eine dilettantische Lehrerausbildung.»



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