Der Lehrplan und die gelebte Realität, NZZ, 18.9. von Laura Saia
Die
gegenwärtige Debatte über den Lehrplan 21 ist in meinen Augen wichtig und
richtig. Ich störe mich nicht daran, dass über dessen Umfang, Formulierungen
und Inhalt gestritten wird. Der Lehrplan gibt Lerninhalte und Ziele vor, er
umfasst die Lektionstafeln, er bezeichnet die obligatorischen Fächer und den
fakultativen Unterricht unserer Volksschule. Und das ist gut so. Lehrpersonen
sollen sich im Sinne einer Rahmenbedingung daran orientieren und halten. Was
bei der seit Monaten geführten Diskussion jedoch gänzlich vernachlässigt wird,
ist die Unmöglichkeit, mit dem Lehrplan die psychosoziale, emotionale,
pädagogische und zwischenmenschliche Beziehung zwischen Lehrpersonen und
Schülern zu erfassen, gar zu bestimmen. Das soll der Lehrplan auch nicht. Doch
genau hier liegt in meinen Augen der springende Punkt, der diffizil wirkt und gleichzeitig
erleichternd sein sollte: Der Lehrplan ist wichtig, und trotzdem ist er keine
heilige Schrift, die sämtlichen Schülerinnen und Schülern den goldenen Weg in
die Zukunft ebnet.
Schule ist nicht Wissensfabrik
Der Lehrplan
ist ein bürokratisches Planungs- und Orientierungsinstrument. Vergessen wir
jedoch nicht, dass dieses für Menschen gemacht wurde und nicht für Apparate
oder sonstige Produkte. Es gibt demnach und verständlicherweise eine Diskrepanz
zwischen dem, was im Lehrplan steht, und dem, was in der Realität tatsächlich
passiert bzw. wünschenswert wäre. Die Schule ist nicht primär eine
Wissensfabrik, welche Wirtschaftstreiber und Leistungsdenker produziert. Sie
ist vielmehr ein Ort des Erlebens, des Wachsens, des Lernens im Austausch
zwischen verschiedenen Menschen, nicht nur zwischen Jung und Alt. Es ist ein
Ort, an dem Kinder und Jugendliche nach Anerkennung, Liebe und Lob suchen, ein
Ort, an dem Freude und Angst ganz nahe beieinander sind, ein Ort, an dem sie
klare Grenzen brauchen.
Wir unterrichten
keine «künftige Generation», auch keine Klassen, sondern Schülerinnen und
Schüler, Kinder und Jugendliche, die in sich so verschieden sind, wie Menschen
nun einmal verschieden sein können. Sie werden letztlich nicht «nach Lehrplan
unterrichtet», sondern entsprechend ihren individuellen Voraussetzungen und dem
Wissen und Können, welches sie in den verschiedensten Bereichen mitbringen.
Nein, der Lehrplan liegt eben gerade nicht auf dem Lehrerpult, damit wir
Pädagoginnen und Pädagogen Ziele oder Kompetenzen (auch diese Bezeichnung ist
für die pädagogische Arbeit gänzlich irrelevant) abhaken können, sobald diese
erreicht wurden.
Entweder haben
wir nämlich keine Zeit dazu, oder wir sind mit anderen, ebenso wichtigen und
für die pädagogische Arbeit zentralen Aufgaben bzw. Herausforderungen
beschäftigt. Wir zerbrechen uns zum Beispiel darüber den Kopf, warum gewisse
Schüler bzw. Schülerinnen regelmässig verschlafen und den Unterricht verpassen.
Wir wissen nicht, wie wir im Geografieunterricht das Lesen von Karten üben
sollen, wenn es Jugendliche gibt, die das Wort «Atlas» nicht kennen. Wir helfen
Schülerinnen und Schülern im Deutschunterricht, die gefühlt zehnte
Schreibblockade während eines Aufsatzes zu lösen. Wir trösten die Schüler, wenn
sie traurig sind, denn sie haben Liebeskummer und Alltagssorgen wie Erwachsene
auch. Wir verteilen Traubenzucker in der Pause, weil die Hälfte der Klasse
nicht gefrühstückt hat. Wir arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern daran,
ihr Selbstvertrauen zu stärken, um die Gymi-Aufnahmeprüfung zu bestehen, und
nicht die Grammatik zu repetieren. Wir korrigieren Bewerbungen für
Schnupperlehrstellen und ermutigen sie, dranzubleiben, auch wenn es pickelhart
ist.
Loben, mahnen, strafen . . .
Wir leiden mit
den manchmal ach so verzweifelten Eltern mit, denn auch sie brauchen beim
Elterngespräch ab und zu ein Taschentuch. Wir erteilen den Schülerinnen und
Schülern Strafaufgaben und Nachsitzlektionen, weil sie sich manchmal schlicht
und einfach nicht benehmen können. Wir lesen Märchen vor, in Halbkreisen, auch
wenn dies laut Lehrplan in der 3. Sekundarklasse nicht mehr im Programm steht.
Wir machen es trotzdem, weil wir spüren, wie sehr sich auch Jugendliche
manchmal nach der Unbeschwertheit der Kindertage sehnen. Wir fragen die Schülerinnen
und Schüler beim Vorbeigehen, wie die Ferien waren, denn so merken sie, dass
sie wichtig sind. Wir verteilen Taschentücher, Pflästerli, Elternbriefe,
korrigierte Prüfungen und Zeugnisse. Wir loben, bauen Ängste ab, ermahnen,
sprechen Machtworte und bestrafen. Wir lachen mit den Schülern und bringen
Schokolade mit, weil wir wissen, wie wichtig die kleinen Gesten im Alltag sind.
Und manchmal pfeifen wir dabei auf das Kapitel im Lehrplan 21 über die
Gesundheitsförderung.
Mögen wir
diesen bürokratischen Diskurs über den neuen Lehrplan überwinden und dabei
wieder den Menschen statt den Lehrplan ins Zentrum rücken. Lasst uns wieder
über die Schülerinnen und Schüler sprechen, über Kinder und Jugendliche, die
manchmal so grausam und manchmal so wunderbar sind und denen wir so viel Gutes
auf den Weg mitgeben wollen. Es geht um Menschen und nicht um Lehrpläne.
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