18. September 2014

Über Schüler statt über Lehrpläne sprechen

Die Sekundarlehrerin Laura Saia will, dass wir wieder über die Schüler sprechen statt über Lehrpläne.
Der Lehrplan und die gelebte Realität, NZZ, 18.9. von Laura Saia


Die gegenwärtige Debatte über den Lehrplan 21 ist in meinen Augen wichtig und richtig. Ich störe mich nicht daran, dass über dessen Umfang, Formulierungen und Inhalt gestritten wird. Der Lehrplan gibt Lerninhalte und Ziele vor, er umfasst die Lektionstafeln, er bezeichnet die obligatorischen Fächer und den fakultativen Unterricht unserer Volksschule. Und das ist gut so. Lehrpersonen sollen sich im Sinne einer Rahmenbedingung daran orientieren und halten. Was bei der seit Monaten geführten Diskussion jedoch gänzlich vernachlässigt wird, ist die Unmöglichkeit, mit dem Lehrplan die psychosoziale, emotionale, pädagogische und zwischenmenschliche Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schülern zu erfassen, gar zu bestimmen. Das soll der Lehrplan auch nicht. Doch genau hier liegt in meinen Augen der springende Punkt, der diffizil wirkt und gleichzeitig erleichternd sein sollte: Der Lehrplan ist wichtig, und trotzdem ist er keine heilige Schrift, die sämtlichen Schülerinnen und Schülern den goldenen Weg in die Zukunft ebnet.
Schule ist nicht Wissensfabrik
Der Lehrplan ist ein bürokratisches Planungs- und Orientierungsinstrument. Vergessen wir jedoch nicht, dass dieses für Menschen gemacht wurde und nicht für Apparate oder sonstige Produkte. Es gibt demnach und verständlicherweise eine Diskrepanz zwischen dem, was im Lehrplan steht, und dem, was in der Realität tatsächlich passiert bzw. wünschenswert wäre. Die Schule ist nicht primär eine Wissensfabrik, welche Wirtschaftstreiber und Leistungsdenker produziert. Sie ist vielmehr ein Ort des Erlebens, des Wachsens, des Lernens im Austausch zwischen verschiedenen Menschen, nicht nur zwischen Jung und Alt. Es ist ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche nach Anerkennung, Liebe und Lob suchen, ein Ort, an dem Freude und Angst ganz nahe beieinander sind, ein Ort, an dem sie klare Grenzen brauchen.
Wir unterrichten keine «künftige Generation», auch keine Klassen, sondern Schülerinnen und Schüler, Kinder und Jugendliche, die in sich so verschieden sind, wie Menschen nun einmal verschieden sein können. Sie werden letztlich nicht «nach Lehrplan unterrichtet», sondern entsprechend ihren individuellen Voraussetzungen und dem Wissen und Können, welches sie in den verschiedensten Bereichen mitbringen. Nein, der Lehrplan liegt eben gerade nicht auf dem Lehrerpult, damit wir Pädagoginnen und Pädagogen Ziele oder Kompetenzen (auch diese Bezeichnung ist für die pädagogische Arbeit gänzlich irrelevant) abhaken können, sobald diese erreicht wurden.
Entweder haben wir nämlich keine Zeit dazu, oder wir sind mit anderen, ebenso wichtigen und für die pädagogische Arbeit zentralen Aufgaben bzw. Herausforderungen beschäftigt. Wir zerbrechen uns zum Beispiel darüber den Kopf, warum gewisse Schüler bzw. Schülerinnen regelmässig verschlafen und den Unterricht verpassen. Wir wissen nicht, wie wir im Geografieunterricht das Lesen von Karten üben sollen, wenn es Jugendliche gibt, die das Wort «Atlas» nicht kennen. Wir helfen Schülerinnen und Schülern im Deutschunterricht, die gefühlt zehnte Schreibblockade während eines Aufsatzes zu lösen. Wir trösten die Schüler, wenn sie traurig sind, denn sie haben Liebeskummer und Alltagssorgen wie Erwachsene auch. Wir verteilen Traubenzucker in der Pause, weil die Hälfte der Klasse nicht gefrühstückt hat. Wir arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern daran, ihr Selbstvertrauen zu stärken, um die Gymi-Aufnahmeprüfung zu bestehen, und nicht die Grammatik zu repetieren. Wir korrigieren Bewerbungen für Schnupperlehrstellen und ermutigen sie, dranzubleiben, auch wenn es pickelhart ist.
Loben, mahnen, strafen . . .
Wir leiden mit den manchmal ach so verzweifelten Eltern mit, denn auch sie brauchen beim Elterngespräch ab und zu ein Taschentuch. Wir erteilen den Schülerinnen und Schülern Strafaufgaben und Nachsitzlektionen, weil sie sich manchmal schlicht und einfach nicht benehmen können. Wir lesen Märchen vor, in Halbkreisen, auch wenn dies laut Lehrplan in der 3. Sekundarklasse nicht mehr im Programm steht. Wir machen es trotzdem, weil wir spüren, wie sehr sich auch Jugendliche manchmal nach der Unbeschwertheit der Kindertage sehnen. Wir fragen die Schülerinnen und Schüler beim Vorbeigehen, wie die Ferien waren, denn so merken sie, dass sie wichtig sind. Wir verteilen Taschentücher, Pflästerli, Elternbriefe, korrigierte Prüfungen und Zeugnisse. Wir loben, bauen Ängste ab, ermahnen, sprechen Machtworte und bestrafen. Wir lachen mit den Schülern und bringen Schokolade mit, weil wir wissen, wie wichtig die kleinen Gesten im Alltag sind. Und manchmal pfeifen wir dabei auf das Kapitel im Lehrplan 21 über die Gesundheitsförderung.

Mögen wir diesen bürokratischen Diskurs über den neuen Lehrplan überwinden und dabei wieder den Menschen statt den Lehrplan ins Zentrum rücken. Lasst uns wieder über die Schülerinnen und Schüler sprechen, über Kinder und Jugendliche, die manchmal so grausam und manchmal so wunderbar sind und denen wir so viel Gutes auf den Weg mitgeben wollen. Es geht um Menschen und nicht um Lehrpläne.

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