15. September 2014

Angstkultur im Baselbiet

Der Baselbieter Bildungsdirektor Urs Wüthrich (SP) droht Lehrern, die Staatseigentum wie Computer, Schulzimmer oder E-Mail-Adresse für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lehrplan 21 benutzen, mit rechtlichen Konsequenzen. Das Bizarre daran ist nicht der Kasernenton, sondern dass der Kanton Baselland den Lehrplan 21 in dieser Form selbst ablehnt.





Wollten sich nicht im Schulzimmer mit dem Journalisten treffen: Zwei kritische Baselbieter Lehrer. Bild: Pino Covino

"Es herrscht eine Angstkultur", Basler Zeitung, 15.9. von Daniel Wahl


Pascal Ryf und Daniel Vuilliomenet, wie alle Lehrer haben Sie von Regierungsrat Urs Wüthrich das Schreiben «STOPP der öffentlichen Verunglimpfungen» erhalten. Darin hat der Baselbieter Amtsvorsteher rechtliche Schritte gegen zwei Lehrerkollegen aus Allschwil angekündigt, weil sie sich in einem Brief über einen beleidigenden Umgangs­ton des Amts für Volksschulen in Liestal beschwert hatten. Daraufhin hat es Ihnen selber den «Hut gelüpft». Worüber haben Sie sich konkret geärgert?
Daniel Vuilliomenet: Es ist nicht der erste Brief dieser Art. Neu aber ist, das Regierungsrat Urs Wüthrich eine private Auseinandersetzung zwischen zwei Lehrpersonen und zwei seiner Kadermitarbeiter dazu benutzt, die Lehrkräfte kantonsweit einzuschüchtern. Fragwürdig ist, dass er bei diesem Gespräch gar nicht dabei war – eigentlich kann er gar nichts rechtfertigen. Was mich sehr gestört hat, ist, dass er alle Lehrer mit der Formulierung «Sie alle im öffentlichen Dienst exponieren sich...» mit zu sich ins Boot holt. Vermeintlich. Gefragt hat er uns nicht. Und wir sind auch nicht im Boot mit ihm.
Pascal Ryf: Dass sich ein Regierungsrat schützend hinter seine Mitarbeiter stellt, kann ich verstehen. Aber die Androhung von rechtlichen Konsequenzen an die Adresse der beiden Lehrkräfte kommt meines Erachtens verfrüht, bevor nicht abschliessend geklärt ist, wer den strittigen Brief an die Bildungskommission des Landrats den Medien zugespielt hat. Auch wir sind gestoppt worden, als wir eine Arbeitsgruppe bildeten, die sich wohlgemerkt nicht gegen den Lehrplan 21, sondern für eine Verbesserung der Ausbildung der Lehrkräfte im Zusammenhang mit der Einführung des Lehrplans eingesetzt hatten.Es hiess: Wenn ihr Staatseigentum wie Computer, Schulzimmer oder E-Mail-Adresse für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lehrplan 21 benutzt, dann habt ihr mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen.
Wie wurde Ihnen gedroht?
Ryf: Die Schulleitung hat uns das nach entsprechender Meldung aus Liestal sehr freundlich, aber klar übermittelt.
Normalerweise führt die BaZ Interviews mit Lehrern am Arbeitsplatz – im Schulzimmer. Darauf sind Sie nicht eingegangen. Warum nicht?
Ryf: Zwei Gründe: Ich spreche nicht als Vertreter der Sekundarschule Oberwil. Zudem will ich meine Kollegen nicht in diese Diskussion ziehen. Die Konsequenzen trage alleine ich.
Vuilliomenet: Ja, und eine juristische Auseinandersetzung, ob wir dieses Interview in einem Schulzimmer des Kantons führen dürfen oder nicht, wollen wir mit Urs Wüthrich nicht provozieren.
Ich ging davon aus, dass eine Auseinandersetzung mit der Schulentwicklung im Interesse der Leute ist, die dieses Schulhaus mit ihren Steuern finanzieren?
Ryf: Es wird impliziert, wer sich kritisch mit dem Lehrplan 21 auseinandersetzt, sei gegen eine gute Schule. Das Gegenteil ist der Fall: Wir beschäftigten uns in der Freizeit oder über Mittag mit dem Lehrplan, weil wir eine Reform wünschen, die wirklich eine Verbesserung für «die Gute Schule Baselland» bringt. Wir investieren Zeit. Ein Regierungsrat müsste das begrüssen, statt es zu bekämpfen.
Auffallend ist, dass die Schulleitungen im Gegensatz zur Basis keinen Widerstand gegen die Reformbemühungen aus Liestal leisten. Wie erklären Sie sich das?
Vuilliomenet: In allen uns bekannten Anweisungen heisst es: «Die Schulleitung macht…» Sie wirken bloss als Transformatoren, ohne eigene Meinung. Es heisst einfach: ausführen, marsch!
Ryf: Die Schulleitungen stehen unter einem grossen Druck. Sie haben Angst, sich gegen Befehle zur Wehr zu setzen, weil man gegen aussen eine «Gute Schule Baselland» repräsentieren will.
Vuilliomenet: Und wer sich wehrt, wird von Wüthrich offenbar in den Senkel gestellt. Ich weiss aus Medienberichten von zwei Schulleitern, die nach kritischen Bemerkungen umgehend nach Liestal zitiert wurden.
Urs Wüthrich antwortete in einer Replik, es gebe keine andere Berufsgruppe wie die Lehrer, deren persönliche Meinungsäusserungsfreiheit derart weitgehend respektiert wird. Trifft dies zu?
Vuilliomenet: Es wäre zu hoffen, dass dies zutrifft. Wir sind Lehr-PERSONEN. Da stehen akademisch ausgebildete Persönlichkeiten im Zentrum des Unterrichtsgeschehens. Nur begreifen dies die Bildungsbürokraten in Liestal nicht. Die wollen uns zu Ausführungsbeamten degradieren. Das kann nicht funktionieren.
Sie fahren starkes Geschütz auf.
Vuilliomenet: Der neuseeländische Pädagoge John Allan Clinton Hattie fasste Bildungsstudien in einer anerkannten Metastudie zusammen. Die grosse Erkenntnis war: Matchentscheidend für eine gute Bildung der Schüler sind die Lehrpersonen – weit abgeschlagen werden dann Parameter wie Klassengrössen, Zeitbudget und Rahmenbedingungen aufgeführt. Ich will damit sagen, dass es unsere Mitsprache braucht. Wir verantworten das Unterrichtsgeschehen. Genau das scheinen die Bildungsbeamten vergessen zu haben.
Man gewinnt den Eindruck, das Amt für Volksschule will eine kritische Auseinandersetzung mit der Schule unterbinden?
Ryf: Ich vermute, dass man das grosse Reformwerk «Die gute Schule Baselland» zum Abschluss bringen will. Das hat sich Regierungsrat Urs Wüthrich zum Ziel gesetzt, ungeachtet dessen, dass das Projekt unseres Erachtens erfolgreich gescheitert ist.
Vuilliomenet: Mit dem Ausdruck «erfolgreich gescheiterte Reform» zitiert Pascal Ryf einen Bericht im Das Magazin von Pädagogikprofessor Roland Reichenbach aus dem Jahr 2010. Dieser Bericht «Schule im Reformwahn» entstand nach der denkwürdigen Amtlichen Kantonalkonferenz (AKK) mit rund 3000 Teilnehmern. Dort provozierte ich eine Abstimmung und forderte eine Denkpause statt ständig neuer Volksschulreformen. Mit rund 750 gegen 1100 Stimmen drang ich zwar nicht durch. Bedenkenswert war aber schon damals, dass sich über 1000 Lehrer der Stimme enthielten. Das veranschaulicht einerseits die grosse Verunsicherung, andererseits aber auch die Angst davor, sich als Reformgegner zu outen und als solcher von den Vorgesetzten erkannt zu werden.
Die grosse Angst unter den Lehrern – das kaufe ich Ihnen nicht ab.
Vuilliomenet: Hundertprozentig herrscht eine Angstkultur. Unter Lehrern höre ich immer: «Ich äussere mich nicht, ich will meine Stelle nicht verlieren.»
Ryf: Auch als einer der Leiter des Gesamtkonvents bekomme ich das mit. Im Vorfeld klagen die Lehrerkollegen. Wenn es aber darauf ankommt, herrscht betretenes Schweigen.
Ist das darauf zurückzuführen, dass viele Sekundarschullehrer überzählig werden, weil die Oberstufe von vier auf drei Jahre reduziert wird?
Ryf: Das Amt für Volksschulen behauptet zwar, dass keine Stellen abgebaut würden. Tatsache ist: Viele Lehrer sind nur befristet angestellt worden. Sie werden gegebenenfalls einfach nicht weiter beschäftigt. Die grosse Angst aber besteht darin, dass negativ auffallende Lehrkräfte mit Pensenabbau abgestraft werden könnten.
Zurück zu Ihrer Aufforderung zur «Denkpause im Reformgstürm» vor vier Jahren. Inwiefern sehen Sie sich, Herr Vuillioment, bestätigt?
Vuilliomenet: In allen Punkten. Es ist sogar schlimmer geworden, als ich befürchtet habe. Die Bildungspolitiker haben ein riesiges Chaos angerichtet. Bei der Einführung von Frühfremdsprachen ist die Schweiz dreigeteilt worden: in die italienisch-französische Schweiz, die zuerst Deutsch lernt; den Teil der Deutschschweizer Kantone, die Englisch als erste Fremdsprache einführen. Und die an die Romandie grenzenden Kantone, die Französisch als erste Fremdsprache in der Primarschule bevorzugen. Zudem: Fünf Kantone sind Harmos gar nicht beigetreten. Im Baselbiet und anderen Kantonen sind Bestrebungen vorhanden, wieder auszutreten. Die Kantone Thurgau und Nidwalden wehren sich gegen eine zweite Fremdsprache in der Primarschule. Es ist ein einziges Puff.
Ryf: Das grosse Problem besteht darin, dass die Bildungspolitiker jede Systemänderung damit rechtfertigen, dass über 80 Prozent der Bevölkerung dem Harmos-Konkordat zugestimmt haben. Nur konnten die Stimmbürger überhaupt nicht vorhersehen, was mit Harmos verbunden wird. Heute wird sogar die Einführung des Lehrplans 21 mit dem damaligen Harmos-Abstimmungsresultat gerechtfertigt.
Wo erleben Sie das konkret?
Ryf: An Weiterbildungstagen als «Lokaler Sachverständiger für den Lehrplan 21» oder an Bildungs-Orientierungsläufen. Dort betonen die Bildungsbeamten jeweils gebetsmühlenartig: «Wir haben einen Auftrag vom Volk.» Diskutiere ich aber mit Vätern und Müttern darüber, kommt klar zum Ausdruck, dass man mit Harmos der Angleichung der kantonalen Schulsysteme zugestimmt hat – aber nie ein Ja zum Lehrplan 21 eingelegt hätte.
Wie viele Ihrer Lehrerkollegen stehen noch hinter Harmos?
Vuilliomenet: Ehrlich gesagt, ich kenne keinen. Aber viele äussern das nur hinter vorgehaltener Hand.Ryf: Es gibt viele, die nichts sagen. Das kann man natürlich auch als stille Zustimmung zu Harmos deuten. Ich glaube, es existiert unter den Lehrern eine grosse Spannweite an Meinungen. Doch die Mehrheit lehnt die Gesamtreform ab.
Wie kommt Harmos bei den Eltern an?
Ryf: Viele bezeichnen es als Glück, ihre Kinder in einem Jahrgang zu haben, der nicht von Harmos betroffen ist.
Sie haben diese Woche an einer Veranstaltung für die «Lokalen Sachverständigen für den Lehrplan 21» teilgenommen. Welche Erkenntnisse bringen Sie mit?
Ryf: Zuerst mussten wir uns im Raum so aufstellen, dass erkennbar wurde, ob an unseren Schulen die Planung der Lehrplan-21-Umsetzung geklärt ist. Nahezu alle Sekundarschullehrer standen im Sektor «ist nicht geklärt». Dann wurden wir über den Stand der Dinge betreffend der Überarbeitung des Lehrplans 21 informiert. Die Beschlussfassung zum überarbeiteten Lehrplan 21 ist für den 17. Dezember vorgesehen.
Zwischenfrage: Wissen die Lehrer, wann der Lehrplan 21 eingeführt wird?
Ryf: Nein, das wissen wir nicht.
Vuilliomenet: Ach, das ist doch ein Hohn, dieses Vorgehen. Das überbietet alles an Arroganz. Der Lehrplan wurde von der Regierung Baselland als nicht tauglich zurückgewiesen. Dann kann man doch nicht kommen und die Lehrer fragen, ob sie wissen, wie weit die Planung fortgeschritten ist. Das ist einfach krank! Per Mail wurden wir Lehrpersonen bereits vom Amt für Volksschulen gefragt, ob wir bereit seien, an einem Übergangslehrplan mitzuarbeiten, weil man den Lehrplan 21 im Schuljahr 2015/2016 offenbar nicht rechtzeitig einführen könne. Kommuniziert wurde das offiziell aber noch nicht. Das zeigt mir doch, dass die Bildungsbürokraten von Liestal selber nicht mehr wissen, was oben und unten ist.
Ryf: Es hiess immer: Es kommt schon gut. Damit wurden wir hingehalten, eine Mitsprache war lange nicht möglich. Nach langer Geheimhaltung wurde uns für die Vernehmlassung des Lehrplans 21, dieses über 500-seitigen Machwerks, gerade mal drei Monate Zeit gegeben. Offenbar versteht Wüthrich das unter guter Mitsprache.
Sie nahmen an einem Bildungsharmonisierungsparcours teil. Dort hätten Sie offene Fragen klären können.
Ryf: An diesem wichtigen Anlass wurden Fragen abgewürgt und die Amtsleiter aus Liestal gingen gegen Kritiker forsch vor.Vuilliomenet: Der Parcours begann damit, dass die Herren vom Amt für Volksschule sich in T-Shirts mit weiblichen Vornamen präsentierten und die Frauen in T-Shirts mit männlichen Vornamen. Die Gender-Ideologie sollte so nebenbei auch gleich verpackt werden. Es war eine klassische Top-down-Veranstaltung, sodass sich unsere Arbeitsgruppe letztlich weigerte, weiter mitzuarbeiten und eine Diskussion provozierte.
Ryf: Leider wird die heutige Schule schlechtgeredet und vieles wird als neu verkauft, was schon längst Praxis ist. Dabei machen wir uns täglich Gedanken, wie wir bestmöglich ­Lerninhalte den Kindern vermitteln können.
Gibt es ein System Urs Wüthrich, eine Art, wie er mit den Lehrern umgeht?
Ryf: Schwierig. Ich stelle einfach fest, dass er sich der Diskussion im Plenum entzieht. Mehrmals hat er versprochen, an Versammlungen der Lehrerschaft teilzunehmen, erschien dann aber nicht. Zweitens lässt er keinen Diskurs zu und sagt: «Habt Vertrauen, seid nicht nervös.» So werden wir wie kleine Kinder beruhigt.
Wer übernimmt für das Chaos, das Sie beschrieben haben, die Verantwortung?
Ryf: Das ist für mich ein wichtiger Punkt: Die Politiker werden sich vom Parkett verabschieden. Die Lehrer bleiben und tragen die Verantwortung. Darum fordere ich ein Mitspracherecht. Ich kann in Zukunft einmal in den Spiegel schauen und sagen: Ja, dagegen habe ich mich gewehrt.
Vuilliomenet: In zehn Jahren reden wir von «Harmos-Leichen». Wäre das Projekt «Harmos/Lehrplan 21» in der Privatwirtschaft so auf die Schiene gekommen, würde das als riesiger Flop in die Geschichte eingehen. Es kämen Rücktrittsforderungen zur Sprache. Aber beim Staat…
Sie fordern also den sofortigen Rücktritt Wüthrichs und seines Stabs?
Vuilliomenet: Die Bilanz lautet: Diese Leute haben versagt. Punkt!

 

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