Seit Monaten streiten Eltern, Lehrkräfte und Politiker über den
Fremdsprachenunterricht. Der Kompromiss der kantonalen
Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), wonach in der dritten und der fünften
Primarklasse je eine Fremdsprache eingeführt wird, ist umstritten. Kinder und
Lehrkräfte seien überfordert, die Kantone stellten zu wenige Mittel bereit, um
den anspruchsvollen Unterricht zu finanzieren, sagen die Kritiker. Nun schert
der Kanton Thurgau als Erster aus: Der Grosse Rat beschloss gestern, den
obligatorischen Französischunterricht aus dem Lehrplan der Primarschule zu
streichen. Die Kinder lernen künftig bis Ende der sechsten Klasse nur noch
Englisch.
Auch der Thurgauer Lehrerverband unterstützt eine Primarfremdsprache, Bild: Gaetan Bally
Thurgau bricht als erster Kanton mit dem Frühfranzösisch, Tages Anzeiger, 13.8. von Anja Burri
Der überparteiliche
Vorstoss, den die ehemalige SVP-Kantonsrätin und heutigen Nationalrätin Verena
Herzog mit fünf anderen Parlamentariern lanciert hatte, fand quer durch alle
Parteien Unterstützung – am wenigsten bei der Linken. Der Thurgauer Lehrerverband
war ebenfalls dafür. Und zwar aus «pädagogischen Gründen», wie Präsidentin Anne
Varenne sagt. Die Fünft- und Sechstklässler müssten im Thurgau in bloss zwei
Lektionen pro Woche Französisch lernen. «Da sieht man fast keinen Lernerfolg»,
sagt sie. Die Wochenstunden fürs Französisch, die auf der Primarstufe
wegfallen, müssten für den Französischunterricht auf der Sekundarstufe
verwendet werden. So sei gewährleistet, dass die Schüler nach der neunten
Klasse gleich gut Französisch sprächen wie Kinder in anderen Kantonen. Die
Thurgauer Regierung hatte vor dem Schritt gewarnt: Die Kinder des Kantons
würden gegenüber den Kindern in der übrigen Schweiz benachteiligt.
Verschiedene
Vorstösse hängig
In der Restschweiz
schreckte der Thurgauer Entscheid die Politiker auf. «Es geht um den
Zusammenhalt unseres viersprachigen Landes», sagt Christoph Eymann,
EDK-Präsident und baselstädtischer Erziehungsdirektor. Selbstverständlich
respektiere er die kantonale Hoheit in Bildungsfragen. «Wir sind uns in der
Deutschschweiz aber zu wenig bewusst, wie die Befindlichkeiten in der Romandie
sind», sagt er. Im September werde die EDK eine Zwischenbilanz zum
Fremdsprachenunterricht ziehen.
In verschiedenen
Kantonsparlamenten sind Vorstösse hängig, um die zweite Fremdsprache aus der
Primarschule zu verbannen. In Graubünden und Nidwalden sind Volksinitiativen
zustande gekommen, die verlangen, dass nur noch eine Fremdsprache obligatorisch
ist. In Luzern werden Unterschriften für eine ähnliche Initiative gesammelt; in
St. Gallen soll die Sammlung bald
starten.
An der Jahrestagung
der EDK im Oktober könnten wenn nötig Beschlüsse gefasst werden, sagt Eymann.
Er hofft, dass sich die Kantone selber einigen. Gelingt dies bis zum Sommer
2015 nicht, droht die Einmischung des Bundes: Durch das Konkordat zur
Schulharmonisierung, den Bildungsartikel in der Verfassung und das
Sprachengesetz des Bundes sind die Kantone zu einer einheitlichen
Fremdsprachenstrategie verpflichtet. Bundesrat Alain Berset hat bereits
angekündigt, er werde es nicht tolerieren, dass Kinder in der Primarschule nur
noch Englisch lernten.
«Zweite
Landessprache für alle»
Seine
Partei, die SP, hat das gleiche Ziel: «Die Sprachenfrage muss jetzt auf
Bundesebene gelöst werden», sagt SP-Nationalrat Matthias Aebischer. In der
Herbstsession werde man Vorstösse einreichen, um das Sprachengesetz so zu
verändern, dass Primarschüler obligatorisch eine zweite Landessprache lernen
müssten. Auch in der Bildungskommission (WBK) ist der Fremdsprachenunterricht
ein Thema. Ob sich die WBK zu einem gemeinsamen Vorstoss durchringen kann, ist offen.
Bei den Grünen und der CVP kann die SP auf Unterstützung zählen. Für Aline
Trede (Grüne) ist es «wichtig, dass jeder eine zweite Landessprache lernt». Die
Angriffe aufs Frühfranzösisch verbreiterten den Röstigraben. Auch Elisabeth
Schneider-Schneiter (CVP) wäre einverstanden mit einem Sprachengesetz, das eine
zweite Landessprache in der Primarschule vorschreibt. «Es kann nicht sein, dass
Deutschschweizer und Romands miteinander Englisch sprechen müssen», sagt sie.
FDP-Nationalrat
Christian Wasserfallen kann diesen Argumenten nichts abgewinnen: Der nationale
Zusammenhalt hänge nicht bloss von den Sprachen ab. Er will den Kantonen nicht
reinreden, «solange am Ende der obligatorischen Schulzeit alle Kinder eine
zweite Landessprache gelernt haben». Dieses Ziel ist auch für SVP-Nationalrätin
Verena Herzog wichtig. Die Aufregung um den nationalen Zusammenhalt könne sie
nicht verstehen. «Die Westschweizer sind noch weniger motiviert, Deutsch zu
lernen, als die Deutschschweizer Französisch», heisst es in der Begründung ihres
Vorstosses. Deshalb werde meist Englisch miteinander kommuniziert.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen