8. August 2014

Pulver: "Aufruf zu zivilem Ungehorsam"

Mit "Mille feuilles" sei kein Leistungsvergleich mehr möglich, schreibt die SP. Sie fordert die Lehrer auf, keine Empfehlung für den Sek-Übertritt abzugeben. Kein Verständnis dafür hat Erziehungsdirektor Pulver: "Welcher Lehrer will schon seinen Job nicht machen?"



Roland Näf, Präsident der SP Bern, ist selber Schulleiter, Bild: Marcel Bieri

SP stiftet Lehrer zu Ungehorsam an, Berner Zeitung, 8.8. von Christoph Aebischer


Erstmals stehen Sechstklässlerinnen und Sechstklässler vor dem Sek-Übertritt, die seit der dritten Klasse mit dem neuen Lehrmittel «Mille feuilles» Französisch lernen. Die Lehrer, die nun eine Empfehlung abgeben müssten, befänden sich in einer Notlage, sagt SP-Kantonalpräsident Roland Näf. Denn eine Beurteilung sei nicht mehr möglich, findet er. Die SP versandte gestern einen offenen Brief, in dem sie Lehrer dazu auffordert, auf einen Zuweisungsvorschlag in diesem Fach zu verzichten.
«Das ist quasi ein Aufruf zu zivilem Ungehorsam», sagt Erziehungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne) befremdet. Er glaubt auch nicht daran, dass der SP-Aufruf Wirkung zeitigen wird: «Welcher Lehrer will schon seinen Job nicht machen?», fragt Pulver rhetorisch. Grossrat Näf ist anderer Meinung: «Viele Lehrer sind verzweifelt», sagt er. Die individuelle, kompetenzorientierte Förderung verunmögliche ihnen, diesem Auftrag nachzukommen. Denn eine Empfehlung müsse «hieb- und stichfest» sein, weil sie von den Eltern angefochten werden könne.
Pulver entgegnet: «Wer meint, heutige Empfehlungen basierten auf dem simplen Durchschnitt von Leistungstests, liegt falsch. Schon bisher floss eine weiter gefasste Beurteilung der Lehrperson mit ein.» Das sei gerade die Stärke des Berner Übertrittsverfahrens. «Ich verstehe nicht, warum die SP dies nun schlechtredet.» Mit den im letzten Jahr erstmals durchgeführten Kontrollprüfungen für strittige Fälle sei es gar noch optimiert worden.
Beschwerden der Eltern
Näf, der selber in Muri Schulleiter ist, erntet zwar Unverständnis, aber keinen regierungsrätlichen Rüffel für seinen Querschläger. Was aber, wenn nun Lehrer dem Aufruf Folge leisten? Hat der Vorschlag der SP Chancen, den Selektionsentscheid allein auf Mathematik und Deutsch abzustellen und die Beurteilung des Französischniveaus den Eltern zu überlassen? Pulver winkt ab. Die Folge wären laut ihm Beschwerden der Eltern. Aufgrund derer würde die Erziehungsdirektion die säumigen Lehrer dazu verpflichten, die Empfehlung nachzuholen.
Die Zahl der Selektionsfächer sei zwar nicht in Stein gemeisselt. Viel mehr prüfe man derzeit mehrere Varianten. Denkbar sind für Pulver eine Reduktion auf Mathematik und Deutsch bis hin zu einer Ausdehnung auf sämtliche Fächer. Doch diese Neuerung soll im Rahmen des neuen Deutschschweizer Lehrplans 21, dessen Einführung für das Schuljahr 2017/2018 geplant ist, geschehen.
Knackpunkt Beurteilung
Für Näf, der Mitglied des Vereins für eine Volksschule ohne Selektion ist, bietet der Lehrplan 21 die Gelegenheit, einen draufzusetzen: Damit halte der kompetenzorientierte Unterricht überall Einzug. «Das begrüssen wir», hält er fest. Doch eine herkömmliche Beurteilung werde damit nicht mehr möglich sein. «Das ist tatsächlich ein Knackpunkt», räumt Pulver ein. Dies hätten ihm auch viele Lehrer zurückgemeldet. Die Frage stelle sich aber keineswegs neu: «Es war schon immer eine Herausforderung, von Lernzielen zu einer Note zu gelangen.» Der Kanton habe darum Umsetzungshilfen zu den einzelnen Fächern ausgearbeitet.
«Das werden wir auch für den neuen Lehrplan tun», kündigt Pulver an. Insgesamt glaubt er, dass sowohl das Frühfranzösisch wie der Lehrplan 21 bei Berner Lehrern einen guten Rückhalt geniessen. Diesen Eindruck gewann er an mehreren Informationsanlässen im Mai und im Juni, an denen rund 1500 Lehrerinnen und Lehrer teilgenommen haben.
Eine Schule ohne Selektion bis zum Gymerübertritt Ende der achten Klasse, wie sie Näf vorschwebt, hält Pulver für utopisch. Für ein solches Anliegen fehle schlicht die politische Mehrheit im Kanton.


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