Hart an der Sprachgrenze, Bild: Peter Schneider
Was haben wir noch gemeinsam? Tages Anzeiger, 25.8. von Anja Burri
Nach dem Entscheid des
Thurgauer Parlaments, das Frühfranzösisch aus der Primarschule zu streichen,
steht der nächste symbolisch wichtige Entscheid an. In Nidwalden wird sich die
Regierung voraussichtlich in den nächsten zwei Wochen zur dort hängigen Fremdspracheninitiative
äussern. Die politische Diskussion ist emotional. Der nationale Zusammenhalt
stehe auf dem Spiel, sagen Bundesrat Alain Berset und Christoph Eymann,
Präsident der kantonalen Erziehungsdirektoren. Und der Waadtländer
SP-Nationalrat Roger Nordmann spricht in «24heures» von einer «Bestrebung, eine
deutschsprachige Monokultur zu schaffen».
Der
eindeutige wissenschaftliche Beweis, dass Frühstarter die Sprache später besser
beherrschen, fehlt. Wie also ist es möglich, dass dieser Französischunterricht,
der während zweier Jahre aus wöchentlich zwei oder drei vorwiegend spielerisch
gestalteten Lektionen besteht, den nationalen Zusammenhalt bedroht? Das
Frühfranzösisch wurde erst ab den 1970er-Jahren eingeführt – der Thurgau
gehörte damals übrigens zu den Pionierkantonen.
Vom
Englisch verdrängt
Dennoch
habe das Französisch in den vergangenen 30 Jahren an Bedeutung verloren, sagen
Fachleute. «In der Deutschschweiz hat die Weltsprache Englisch das Französisch
abgelöst», sagt Thomas Maissen, Historiker und Direktor des Deutschen
Historischen Instituts Paris. Gleichzeitig sei der Austausch zwischen den
Sprachregionen in der Schweiz schwächer geworden. «Zum Beispiel wurde das
berühmte Welschlandjahr früher viel stärker gepflegt», sagt der Basler
Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber.
Früher
hätten sich der Durchschnittsbevölkerung viele Gelegenheiten geboten, den
anderen Landessprachen zu begegnen, sagt Maissen. Er erinnert auch an die
Armee. Viele Deutschschweizer seien von ihrem Arbeitgeber zwei Jahre nach
Lausanne oder Genf geschickt worden. «Heute gehen viele nur kurz oder nicht
mehr ins Militär, das Auslandjahr verbringen sie in den USA, und vom Arbeitgeber
werden sie nach China beordert.» Die Dominanz der englischen Sprache ist aus
Maissens Sicht ein weltweites Phänomen. Für den Fremdsprachenunterricht in
einsprachigen Ländern sei dies kein Problem: Die Schulen hätten einfach auf
Englisch umgestellt.
Symbolisches
Abwenden
In
der Schweiz hingegen bedrohe das Englisch die Sprachminderheiten. Gehöre man
zur sprachlichen Mehrheit in einem Land, sei es nicht weiter schlimm, wenn man
von einem kleineren Teil der Bevölkerung nicht mehr verstanden werde. Aus der
Sicht der Westschweizer, Tessiner oder Rätoromanen sei das ganz anders. Jene
Kantone, die nun das Französisch aus der Primarschule strichen, wendeten sich
damit symbolisch von den anderen Landesteilen ab, sagt Thomas Maissen. Es sei
eine Tatsache, dass viele Leute nur eine Fremdsprache lernen könnten, zudem
brauche man für das schwierige Französisch länger als für Englisch. «Die
Romands müssen sich fragen: Was habe ich mit diesen Mundart und Englisch
sprechenden Deutschschweizern, die auch politisch häufig anders ticken, noch
gemeinsam?» Diese Entwicklung sei fatal: In einer Demokratie müsse man einander
sprachlich verstehen, um gemeinsam Lösungen finden zu können. Auch die
Verwaltung und viele Wirtschaftsbranchen seien auf Zweisprachigkeit angewiesen.
Sie sei ein Aufwand, aber auch ein Gewinn – wenn die Deutschschweizer darauf
verzichten wollten, müssten sie sich konsequenterweise Österreich anschliessen.
Auch
Peter Keller, SVP-Nationalrat, Historiker und Journalist, beobachtet die
zunehmende Dominanz des Englischen. Er bedauert zwar die Marginalisierung des
Französischen in der Deutschschweiz. Allerdings sei die Sprache nicht das
wichtigste Kriterium, um die Schweiz zusammenzuhalten: «Es gibt so viele
verschiedene Minderheiten in der Schweiz, die Sprachen sind nur eine
Bruchlinie.» Ein jurassischer Bergbauer habe bestimmt mehr mit einem
Appenzeller Bauern gemeinsam als mit einem Stadtgenfer – selbst wenn sich der
Jurassier und der Appenzeller nur mit Händen und Füssen unterhalten könnten.
Wenn man schon den nationalen Zusammenhalt an die Sprachenfrage knüpfe, müssten
alle Einwohner mindestens drei Landessprachen beherrschen, findet Keller. «Die
Westschweizer vergessen gern, dass es mit den Tessinern und den Rätoromanen
noch weitere Sprachminderheiten gibt.»
Für
den nationalen Zusammenhalt sei nicht der Fremdsprachenunterricht, sondern das
Hochhalten der föderalistischen Struktur der Schweiz das Wichtigste. Darum
dürfe die Sprachenfrage auch nicht von oben gegen die Kantone verordnet werden.
Neue
Ideen sind gefragt
Dass
es in der Schweiz neue Ideen braucht, um die Landesteile wieder näher
zusammenzubringen, ist für Keller, Maissen und Leimgruber klar. Kulturwissenschaftler
Leimgruber schlägt eine Neuauflage des Welschlandjahrs vor. Er möchte alle
Gymnasiasten und Lehrlinge, die eine Berufsmatur machen, zu einem Austauschjahr
in einem anderen Landesteil verpflichten. Finanzieren könnte der Bund das Austauschprojekt
mit dem Geld, das er bisher für die Landesausstellungen ausgebe. SVP-Politiker
Keller würde lieber die Lehrer zu einem Austausch verpflichten. Es sei schon
logistisch effizienter, nur eine Person zu verschieben. «Die Lehrer könnten
neue Erfahrungen machen und die Schüler würden davon profitieren, von
Muttersprachlern in einer anderen Landessprache unterrichtet zu werden.»
Wirtschaftlich
mache es in der Deutschschweiz wohl Sinn, dass die Kinder als erste
Fremdsprache Englisch lernten, sagt Maissen. Doch aus staatspolitischen Gründen
müsse der Bund dafür sorgen, dass alle Schüler als erste Fremdsprache eine
andere Landessprache lernten. Föderalistisch motivierte Bedenken, dass der Bund
den Kantonen nicht reinreden dürfe, hat Maissen nicht: «Der Bund hat alle seine
Kompetenzen – etwa beim Verkehr, den Steuern oder der Rechtsetzung – irgendwann
von den Kantonen erhalten.» Nur so habe er auf gesellschaftliche Veränderungen
reagieren können. Die Volksschule sei nun eine der letzten föderalistischen Bastionen
und werde deshalb so heftig verteidigt. «Der Föderalismus beruht aber nicht
zuletzt auf der Sprachenvielfalt der Schweiz», sagt Maissen. Um diesen enormen
Reichtum zu schützen, müsse der Bund eingreifen.
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