Urs Wüthrich und der Unwille, Probleme in den Griff zu bekommen, Bild: Basler Zeitung
Zur Situation im Baselbieter Bildungswesen, Basler Zeitung, 18.8. von Baselbieter Lehrpersonen*, aufgezeichnet durch Daniel Wahl
Heute beginnt wieder der Unterricht, und damit das grosse
Durcheinander. Das ist nicht lustig gemeint. Die Zustände im Baselbieter
Schulwesen sind eine einzige grosse Baustelle. Eine Belastung für einen ohnehin
anstrengenden Beruf. Dafür verantwortlich sind einerseits die Auswirkungen von
Harmos, andererseits aber auch der Unwille des Baselbieter Bildungs- direktors
Urs Wüthrich und seiner Direktion, die Probleme in den Griff zu bekommen.
Problem 1: Zwei Fremdsprachen
Mit
Harmos wurde entschieden, dass die Primarschüler neu nicht mehr nur eine,
sondern zwei Fremdsprachen erlernen sollen: Französisch und Englisch. In der
dritten Primarstufe beginnt der Unterricht der ersten Fremdsprache, in der
fünften Klasse folgt dann die Ausbildung in der zweiten. Doch das Prinzip von
Harmos – nämlich
Vereinheitlichung –
wird diskreditiert. Denn jeder Kanton kann selber entscheiden, ob er zuerst
Französisch oder Englisch einführen will. Wenn also eine Schülerin aus dem
Aargau mit ihren Eltern nach Basel-Stadt zieht, kann es sein, dass sie zwischen
Stuhl und Bank fällt, weil sich die Kantone bei der Wahl der ersten
Fremdsprache unterscheiden. Dadurch wird Harmos natürlich zu einem Witz.
Doch
die Neuregelung mit der Vermittlung von Französisch und Englisch in der
Primarschule hat auch Auswirkungen auf die Lehrkräfte. So müssen anspruchsvolle
Sprachdiplome erworben werden, um die Unterrichtsberechtigung nicht zu
verlieren. Der damit verbundene Zusatzaufwand ist enorm. Der Nutzen hingegen
ist infrage gestellt. Braucht es wirklich internationale Zertifikate, um den
Kindern vermitteln zu dürfen, was «C’est une pomme» bedeutet? Ein weiterer
Aspekt: Wenn die Bildungsdirektion höhere Sprachkenntnisse verlangt, müsste
eigentlich auch die Entlöhnung steigen. Doch dies ist nicht der Fall.
Problem 2: Akademisierung
Wer
heute die Pädagogische Fachhochschule besucht, muss sich entscheiden: Entweder
erwirbt er zum Beispiel ein Werk- oder ein Musikdiplom. Beides zusammen ist
nicht möglich. Der Allround-Klassenlehrer, wie wir ihn alle noch kannten,
gehört der
Vergangenheit
an.
Das
heutige Unterrichten nähert sich zunehmend dem Fachlehrersystem, was die
Stundenpläne verkompliziert. Die eine Lehrperson führt beispielsweise ihre
eigene und die Parallelklasse ins Englisch ein, die andere unterrichtet
Französisch. Das bringt mit sich, dass die Schüler ständig hin- und
hergeschoben werden. Bezugspersonen, die in diesem Alter sehr wichtig sind,
gehen verloren.
Fällt
eine Lehrkraft für längere Zeit aus, droht das perfekte Schlamassel. Als
Stellvertreter werden aus Liestal Studierende zugeteilt, die sich noch in der
Ausbildung befinden. Sie sind nicht nur überfordert, sondern wegen
Schulungszwecken regelmässig abwesend. In diesem Fall springt der
Stellvertreter des Stellvertreters ein. Dieser ständige Wechsel führt zu Unruhe
und zu schlechtem Lernklima. Für die etablierten Lehrpersonen bedeutet dies
eine unerwünschte Mehrbelastung.
Erschreckend
ist, wie sehr die Akademisierung an der Fachhochschule überhandgenommen hat.
Die Anforderungen übersteigen das gesunde Mass der Vernunft: Da müssen
hochgestochene Bachelorarbeiten erstellt werden, die nicht mehr viel mit dem
Lehrerberuf zu tun haben.
Aus
diesem Grund herrscht im Baselbiet ein Mangel an Praxislehrern, die sich bereit
erklären, die Studierenden unter ihre Fittiche zu nehmen. Aus Protest gegen die
theorielastige Pädagogik, die an der Pädagogischen Hochschule vermittelt wird,
lehnen viele Lehrpersonen die Ausbildung zur Praxislehrperson ab. Doch obschon
damit die Berechtigung fehlt, Studierende zu betreuen, erhalten Lehrpersonen
vom Amt ständig entsprechende Anfragen. Das zeigt, wie problematisch die
Situation offensichtlich ist.
Problem 3: Bürokratisierung
Grosse
Bedenken bestehen auch gegenüber Tendenzen, immer mehr schulinterne Prozesse zu
reglementieren. Tauschte sich die Lehrerschaft eines Schulbetriebs früher
unkompliziert über die Lernpläne und Lernziele aus, benötigt es heute einen
«Teamleiter», der eine offizielle Koordinationssitzung abhält. Die Inhalte
müssen protokolliert und der Schulleitung zur Prüfung vorgelegt werden. Das
kostet Zeit. Es mag sein, dass sich durch solche Massnahmen eine
Professionalisierung einstellt. In erster Linie entsteht aber ein Mehraufwand,
der sehr zu hinterfragen ist.
Problem 4: Quereinsteiger
Wegen
des latenten Lehrermangels füllen Quereinsteiger die Personallücken an den
Schulen. Ein grosses Problem: Diese Personen kommen oft aus ganz anderen
Berufsgattungen und haben in nur zwei Jahren eine Schnellbleiche erhalten. In
der Regel sind sie unerfahren und nicht qualifiziert, eine Klasse zu
unterrichten. Den Schulbehörden scheint die Qualität jedoch egal zu sein: Die
Quereinsteiger erhalten sogar Fächer zugeteilt, für welche ein Zusatzdiplom
erforderlich wäre. Dazu zählen etwa der Förderunterricht, die Integrative
Sonderschulung oder Deutsch als Zweitsprache. Weil es den Quereinsteigern
oftmals nicht gelingt, einen ordentlichen Schulbetrieb sicherzustellen, fallen
sie dem restlichen Lehrpersonal zur Last.
Problem 5: Neuer Stichtag
Für
viel Diskussionsstoff sorgt der Entscheid, den Stichtag von April auf Juli zu
verschieben. Kinder, die bis und mit 31. Juli das vierte Lebensalter erreichen,
treten in demselben Jahr in den obligatorischen Kindergarten ein. Die
Auswirkungen der früheren Einschulung sind noch nicht bekannt. Wenn sich jedoch
in der Primarschule die Erstklässler mehrheitlich aus Sechsjährigen statt wie
bisher aus Siebenjährigen zusammensetzen, dürfte es schwieriger werden, die Lernziele
zu erreichen. Die persönliche Entwicklung und Sozialkompetenz der jüngeren
Schüler ist in der Regel weniger fortgeschritten. Und dies angesichts eines
Lernstoffs, der bereits genügend anspruchsvoll ist.
Problem 6: Keine Strategie
Obschon
zahlreiche Lehrpersonen, die Schulleitungen, die PLK (Primarlehrerkonferenz)
und der LVB (Lehrerverband) auf die vielen Baustellen im Baselbieter
Bildungswesen aufmerksam machen, geschieht nichts. Rückmeldungen bleiben aus.
Innerhalb der Lehrerschaft herrscht eine grosse Ungewissheit, wie die Zukunft
aussieht. Die Informationspolitik des Kantons ist unbefriedigend: Eine klare
Strategie ist nicht erkennbar. Leider muss angenommen werden, dass sich bis auf
Weiteres nichts an dieser Situation ändert.
* Die Lehrpersonen
möchten ihren Namen nicht veröffentlichen, weil sie Sanktionen seitens der
Schulleitung befürchten. Offensichtlich ist man im Kanton Baselland an einem
neuen Tiefpunkt angelangt: Vertreten Lehrkräfte öffentlich kritische
Positionen, müssen sie damit rechnen, abgestraft zu werden. Roger von Wartburg,
Präsident des Baselbieter Lehrerverbandes, kann die Zurückhaltung
nachvollziehen. «In unserer Rechtsberatung sind in diesem Zusammenhang mehrere
Fälle bekannt.» Es gebe mancherorts die Tendenz, dass die Lehrkräfte immer mehr
zu Weisungsempfängern degradiert würden. Die von den Lehrpersonen beschriebenen
Problemfelder seien aktuelle Themen im Verband.
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