18. August 2014

Fehlplanungen und Chaos im Baselbieter Bildungswesen

Baselbieter Lehrpersonen (sie möchten aus Angst vor Repressalien ihren Namen nicht veröffentlicht sehen) präsentieren einen Überblick zu den aktuellen Problemzonen an der Baselbieter Schule. Darin kommt auch Kritik am Bildungsdirektor Urs Wüthrich zum Ausdruck.


Urs Wüthrich und der Unwille, Probleme in den Griff zu bekommen, Bild: Basler Zeitung

Zur Situation im Baselbieter Bildungswesen, Basler Zeitung, 18.8. von Baselbieter Lehrpersonen*, aufgezeichnet durch Daniel Wahl


Heute beginnt wieder der Unterricht, und damit das grosse Durcheinander. Das ist nicht lustig gemeint. Die Zustände im Baselbieter Schulwesen sind eine einzige grosse Baustelle. Eine Belastung für einen ohnehin anstrengenden Beruf. Dafür verantwortlich sind einerseits die Auswirkungen von Harmos, andererseits aber auch der Unwille des Baselbieter Bildungs- direktors Urs Wüthrich und seiner Direktion, die Probleme in den Griff zu bekommen.
Problem 1: Zwei Fremdsprachen
Mit Harmos wurde entschieden, dass die Primarschüler neu nicht mehr nur eine, sondern zwei Fremdsprachen erlernen sollen: Französisch und Englisch. In der dritten Primarstufe beginnt der Unterricht der ersten Fremdsprache, in der fünften Klasse folgt dann die Ausbildung in der zweiten. Doch das Prinzip von Harmos – nämlich
Vereinheitlichung – wird diskreditiert. Denn jeder Kanton kann selber entscheiden, ob er zuerst Französisch oder Englisch einführen will. Wenn also eine Schülerin aus dem Aargau mit ihren Eltern nach Basel-Stadt zieht, kann es sein, dass sie zwischen Stuhl und Bank fällt, weil sich die Kantone bei der Wahl der ersten Fremdsprache unterscheiden. Dadurch wird Harmos natürlich zu einem Witz.
Doch die Neuregelung mit der Vermittlung von Französisch und Englisch in der Primarschule hat auch Auswirkungen auf die Lehrkräfte. So müssen anspruchsvolle Sprachdiplome erworben werden, um die Unterrichtsberechtigung nicht zu verlieren. Der damit verbundene Zusatzaufwand ist enorm. Der Nutzen hingegen ist infrage gestellt. Braucht es wirklich internationale Zertifikate, um den Kindern vermitteln zu dürfen, was «C’est une pomme» bedeutet? Ein weiterer Aspekt: Wenn die Bildungsdirektion höhere Sprachkenntnisse verlangt, müsste eigentlich auch die Entlöhnung steigen. Doch dies ist nicht der Fall.
Problem 2: Akademisierung
Wer heute die Pädagogische Fachhochschule besucht, muss sich entscheiden: Entweder erwirbt er zum Beispiel ein Werk- oder ein Musikdiplom. Beides zusammen ist nicht möglich. Der Allround-Klassenlehrer, wie wir ihn alle noch kannten, gehört der
Vergangenheit an.
Das heutige Unterrichten nähert sich zunehmend dem Fachlehrersystem, was die Stundenpläne verkompliziert. Die eine Lehrperson führt beispielsweise ihre eigene und die Parallelklasse ins Englisch ein, die andere unterrichtet Französisch. Das bringt mit sich, dass die Schüler ständig hin- und hergeschoben werden. Bezugspersonen, die in diesem Alter sehr wichtig sind, gehen verloren.
Fällt eine Lehrkraft für längere Zeit aus, droht das perfekte Schlamassel. Als Stellvertreter werden aus Liestal Studierende zugeteilt, die sich noch in der Ausbildung befinden. Sie sind nicht nur überfordert, sondern wegen Schulungszwecken regelmässig abwesend. In diesem Fall springt der Stellvertreter des Stellvertreters ein. Dieser ständige Wechsel führt zu Unruhe und zu schlechtem Lernklima. Für die etablierten Lehrpersonen bedeutet dies eine unerwünschte Mehrbelastung.
Erschreckend ist, wie sehr die Akademisierung an der Fachhochschule überhandgenommen hat. Die Anforderungen übersteigen das gesunde Mass der Vernunft: Da müssen hochgestochene Bachelorarbeiten erstellt werden, die nicht mehr viel mit dem Lehrerberuf zu tun haben.
Aus diesem Grund herrscht im Baselbiet ein Mangel an Praxislehrern, die sich bereit erklären, die Studierenden unter ihre Fittiche zu nehmen. Aus Protest gegen die theorielastige Pädagogik, die an der Pädagogischen Hochschule vermittelt wird, lehnen viele Lehrpersonen die Ausbildung zur Praxislehrperson ab. Doch obschon damit die Berechtigung fehlt, Studierende zu betreuen, erhalten Lehrpersonen vom Amt ständig entsprechende Anfragen. Das zeigt, wie problematisch die Situation offensichtlich ist.
Problem 3: Bürokratisierung
Grosse Bedenken bestehen auch gegenüber Tendenzen, immer mehr schulinterne Prozesse zu reglementieren. Tauschte sich die Lehrerschaft eines Schulbetriebs früher unkompliziert über die Lernpläne und Lernziele aus, benötigt es heute einen «Teamleiter», der eine offizielle Koordinationssitzung abhält. Die Inhalte müssen protokolliert und der Schulleitung zur Prüfung vorgelegt werden. Das kostet Zeit. Es mag sein, dass sich durch solche Massnahmen eine Professionalisierung einstellt. In erster Linie entsteht aber ein Mehraufwand, der sehr zu hinterfragen ist.
Problem 4: Quereinsteiger
Wegen des latenten Lehrermangels füllen Quereinsteiger die Personallücken an den Schulen. Ein grosses Problem: Diese Personen kommen oft aus ganz anderen Berufsgattungen und haben in nur zwei Jahren eine Schnellbleiche erhalten. In der Regel sind sie unerfahren und nicht qualifiziert, eine Klasse zu unterrichten. Den Schulbehörden scheint die Qualität jedoch egal zu sein: Die Quereinsteiger erhalten sogar Fächer zugeteilt, für welche ein Zusatzdiplom erforderlich wäre. Dazu zählen etwa der Förderunterricht, die Integrative Sonderschulung oder Deutsch als Zweitsprache. Weil es den Quereinsteigern oftmals nicht gelingt, einen ordentlichen Schulbetrieb sicherzustellen, fallen sie dem restlichen Lehrpersonal zur Last.
Problem 5: Neuer Stichtag
Für viel Diskussionsstoff sorgt der Entscheid, den Stichtag von April auf Juli zu verschieben. Kinder, die bis und mit 31. Juli das vierte Lebensalter erreichen, treten in demselben Jahr in den obligatorischen Kindergarten ein. Die Auswirkungen der früheren Einschulung sind noch nicht bekannt. Wenn sich jedoch in der Primarschule die Erstklässler mehrheitlich aus Sechsjährigen statt wie bisher aus Siebenjährigen zusammensetzen, dürfte es schwieriger werden, die Lernziele zu erreichen. Die persönliche Entwicklung und Sozialkompetenz der jüngeren Schüler ist in der Regel weniger fortgeschritten. Und dies angesichts eines Lernstoffs, der bereits genügend anspruchsvoll ist.
Problem 6: Keine Strategie
Obschon zahlreiche Lehrpersonen, die Schulleitungen, die PLK (Primarlehrerkonferenz) und der LVB (Lehrerverband) auf die vielen Baustellen im Baselbieter Bildungswesen aufmerksam machen, geschieht nichts. Rückmeldungen bleiben aus. Innerhalb der Lehrerschaft herrscht eine grosse Ungewissheit, wie die Zukunft aussieht. Die Informationspolitik des Kantons ist unbefriedigend: Eine klare Strategie ist nicht erkennbar. Leider muss angenommen werden, dass sich bis auf Weiteres nichts an dieser Situation ändert.
* Die Lehrpersonen möchten ihren Namen nicht veröffentlichen, weil sie Sanktionen seitens der Schulleitung befürchten. Offensichtlich ist man im Kanton Baselland an einem neuen Tiefpunkt angelangt: Vertreten Lehrkräfte öffentlich kritische Positionen, müssen sie damit rechnen, abgestraft zu werden. Roger von Wartburg, Präsident des Baselbieter Lehrerverbandes, kann die Zurückhaltung nachvollziehen. «In unserer Rechtsberatung sind in diesem Zusammenhang mehrere Fälle bekannt.» Es gebe mancherorts die Tendenz, dass die Lehrkräfte immer mehr zu Weisungsempfängern degradiert würden. Die von den Lehrpersonen beschriebenen Problemfelder seien aktuelle Themen im Verband.

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