11. August 2014

Eymann: Neuerungen werden überbewertet

Der Präsident der EDK, Christoph Eymann, findet die Neuerungen des Lehrplans 21 würden überbewertet und viel zu emotional diskutiert. Ausserdem gäbe es ja Einführungskurse für die Lehrer.




Eymann: In Zukunft weniger lexikalisches Wissen.


"Die Eltern sind verunsichert", Migros Magazin, 11.8. Interview mit Christoph Eymann



Was bringt der neue Lehrplan 21 für Schüler, Eltern und Lehrer? Christoph Eymann, der neue Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, erklärt, warum er den Lehrplan 21 für eine echte Errungenschaft hält und welche Diskussionen ihn nerven.
Christoph Eymann, heute beginnt in einigen Kantonen das neue Schuljahr. Andere folgen nächste Woche oder später. Werden wir mit dem Lehrplan 21 alle gleichzeitig Ferien und Schulbeginn haben?
Nein. Ferien sind und bleiben Sache der Kantone. Das ist auch gut so, denken Sie nur an den Reiseverkehr. Zum Teil stecken alte Traditionen hinter der Ferienplanung, wie zum Beispiel in der Waadt die «Vacances de pommes de terre». Die wollen wir nicht abschaffen. Ich muss auch betonen: Der Lehrplan 21 ist ein Vorhaben der D-EDK, also der 21 Deutschschweizer Kantone der Erziehungsdirektorenkonferenz.
Der neue Lehrplan ist sehr umstritten. Einige Kantone bemängeln den Verlust an Föderalismus, die Lehrer fanden ihn überladen.
Ich frage Lehrer oft: «Wie oft schaut ihr in den jetzigen Lehrplan?» Etwa genau so oft werden sie den neuen Lehrplan konsultieren müssen – also eher selten. Ausserdem wird es Einführungskurse geben, welche die meisten Kantone ihren Lehrern bezahlen. Die Neuerungen werden überbewertet und viel zu emotional diskutiert.
In der Vernehmlassung des Entwurfs sind über 1000 Kritikpunkte zusammenge­kommen. Welche Korrekturen werden nun bis Ende Jahr am neuen Lehrplan vorgenommen?
Die Kompetenzziele waren nicht in allen Fächern gleich detailliert definiert, das wird vereinheitlicht. Der Lehrplan wird verschlankt, von 550 auf etwa 450 Seiten, und es werden Stoffinhalte ergänzt.
Ab August 2015 können die Kantone den Lehrplan 21 umsetzen. Was erwartet Schüler und Eltern dort, wo dies geschieht?
Neu ist die Kompetenzorientierung. Wissen bleibt wichtig, aber der neue Lehrplan lenkt die Aufmerksamkeit stärker darauf, was das einzelne Kind wirklich verstanden hat. Dadurch wird in Zukunft weniger lexikalisches Wissen verlangt als vielmehr das Verstehen und Konstruieren von Zusammenhängen. Das Datum eines Friedensvertrags beispielsweise wird weniger Bedeutung haben als seine Folgen. Einfach ausgedrückt, können Eltern ihr Kind nicht mehr einfach abfragen und davon ausgehen, dass es eine Bestnote bekommt, wenn es alle Antworten weiss. Diese Tatsache verunsichert viele Eltern.
Verständlicherweise. Um ihr Kind unterstützen zu können, möchten sie wissen, welchen Stoff es beherrschen muss.
Darum möchte ich für den Kanton Basel-Stadt prüfen, ob wir den Eltern Einführungskurse für den Lehrplan 21 anbieten sollen. Solche Kurse könnten den Eltern die Angst nehmen. Aber es braucht auch ein Umdenken. Unsere Gesellschaft neigt dazu, alles präzise messen zu wollen.
Noten und Zeugnisse wird es aber weiterhin geben.
Lehrerinnen und Lehrer werden sich mit dem Lehrplan 21 leichter ein Bild davon machen können, wo ein Schüler steht. Sie begleiten diese jungen Menschen über einige Zeit hinweg und sind in der Lage, eine Beurteilung vorzunehmen.
Was bringt die Orientierung an Kompetenzen für Vorteile?
Es wird ja in Zukunft nicht mehr definiert, welchen Stoff ein Lehrer während des Schuljahres behandeln muss, sondern über welche Fähigkeiten die Schüler am Ende des Jahres verfügen sollen. Das führt zu mehr Flexibilität. Wenn etwa in der Ukraine kriegsähnliche Zustände herrschen, kann der Lehrer sagen: «Wir sind zwar bei den Punischen Kriegen, aber jetzt schauen wir mal nach Russland.»
Lehrerinnen und Lehrer gestalten den Unterricht auch gerne aufgrund ihrer Stärken. Wie verbindlich ist der neue Lehrplan?
Ich hoffe sehr, dass die Lehrer ihre Individualität im Unterrichten bewahren. Der Lehrplan bietet einen Rahmen, der ihnen Sicherheit geben soll, ob sie sich in die richtige Richtung bewegen. Niemand muss ihn sklavisch einhalten. Auch wird weiterhin jeder Kanton grosse Freiheiten in der Umsetzung geniessen. Ganz bestimmt werden wir keine Kontrollen durchführen.
Ist bei all diesen Freiheiten die angestrebte Kompatibilität trotzdem gewährleistet? Ein Ziel war ja, dass Kinder, die in einen anderen Kanton zügeln, ungefähr den gleichen Stoff schon absolviert haben wie am neuen Ort.
In der Praxis wird das relativ wenig Probleme geben. Und die Alternative zur Individualität wäre die totale Gleichschaltung – davor mögen uns höhere Mächte bewahren! Lieber lassen wir im täglichen Unterricht Eigenarten zu, die sich aus der geografischen Lage, der Erfahrung der Lehrer oder sprachlichen Umständen ergeben.
Die zwei Fremdsprachen in der Primarschule haben für Aufregung gesorgt. Zeichnet sich da eine Lösung ab?
Die öffentlichen Diskussionen darüber waren sehr emotional, das hat mich überrascht. Tatsache ist: Bereits vor zehn Jahren haben wir den Kompromiss gefunden, dass in der dritten und der fünften Primarklasse jeweils eine Fremdsprache eingeführt wird, eine davon muss eine Landessprache sein. Jeder Kanton kann die Reihenfolge wählen. Diese Lösung wird auch im Lehrplan 21 verankert, dafür setze ich mich persönlich ein. Voraussichtlich wird Zürich weiterhin zuerst Englisch einführen und Basel Französisch.
Für die Eltern ist aber genau das ein Problem. Wenn sie mit einem Viertklässler von Basel nach Zürich ziehen, hat ihr Kind noch kein Englisch gehabt.
Ich muss zugeben, es ist eigentlich ein Armutszeugnis, dass wir uns nicht auf die Abfolge der Fremdsprachen einigen konnten. Aus meiner Sicht haben staatspolitische Überlegungen Vorrang. Deshalb plädiere ich für eine Landessprache als erste Fremdsprache. Wo können wir besser beweisen, dass uns die vielsprachige Schweiz wichtig ist?
Neue Erhebungen über die Zufriedenheit der Lehrer zeichnen ein katastrophales Bild: Jeder sechste steigt ein Jahr nach der Ausbildung aus dem Beruf aus. Nach fünf Jahren ist nur noch die Hälfte als Lehrer tätig. Von jenen, die bleiben, ist jeder Zehnte stark Burn-out gefährdet. Und nun müssen sie sich noch mit dem neuen Lehrplan rumschlagen.
Deshalb müssen wir aktiv auf die Lehrkräfte zugehen und ihnen sagen, was wir aufgrund des neuen Lehrplans erwarten und was nicht. Ausserdem werden wir Weiterbildungen offerieren und genügend Einführungszeit geben müssen. Längerfristig ist es Aufgabe der Politik, den Lehrern eine Konzentration auf ihre Kernaufgaben zu ermöglichen.
In der Realität müssen sie aber auch soziale Kompetenz schulen, Werte vermitteln, Kinder erziehen.
Tatsächlich ist die Schule zur Reparaturwerkstatt der Gesellschaft geworden, damit ist sie überfordert. Eine Untersuchung der ETH zeigt, dass emotionale Erschöpfung eine Folge sein kann.
Wie kann man trotzdem wieder mehr junge Menschen für den Lehrberuf begeistern?
Wir müssen uns vor die Lehrer hinstellen und sie schützen, die Wertschätzung für sie wiederherstellen. Sehen Sie, kürzlich habe ich eine Knieprothese bekommen. Wenn ich gefragt werde, von wem ich operiert wurde, schwärme ich von meinem Arzt. Aber wer schwärmt von Lehrern? Welche Eltern sagen, ein hervorragender Lehrer habe die Biografie ihrer Kinder positiv geprägt?
Viele Lehrer klagen aber auch über zu wenig Lohn und zu viel administrativen Aufwand.
Der administrative Aufwand muss diskutiert werden, die Lohnpolitik ist Sache der Kantone. In Basel-Stadt prüfen wir zurzeit die Gehälter von Kindergarten- und Primarlehrkräften.
Sie sind seit dem letzten November EDK- Präsident, als solcher erleben Sie Ihren ersten Schuljahresbeginn. Welche Neuerungen von Ihnen werden jetzt wirksam?
Keine. Ich wehre mich auch gegen solche Sololäufe, sondern setze vielmehr auf die Zusammenarbeit der Kantone. Und die ist sehr gut, über alle Parteigrenzen hinweg.
Die Zustimmung der SVP zum Lehrplan 21 war allerdings nicht so gross.
Das Plenum der Deutschschweizer EDK fällt jeweils die Beschlüsse zum Lehrplan 21. Wir sind gut unterwegs.
Sie haben drei Kinder. Wie und wo lassen Sie Ihre Erfahrungen als Vater in Ihre Arbeit einfliessen?
Zum Beispiel habe ich viele Elternabende miterlebt – gute und weniger gute. Meine Botschaft an die Schulen ist: «Schaut die Elternabende genau an. Die sind wichtig für das Vertrauen, das die Eltern der Schule entgegenbringen.»
Auch Politiker möchten sich mit Schulthemen profilieren. Wie kommt es bei Ihnen an, wenn sich Nationalräte für die Parlamentswahlen 2015 auf Bildungsthemen stürzen?
Wenn ich das Gefühl habe, jetzt werden Themen gesucht, um sie populistisch auszuschlachten, dann geht mir das auf die Nerven.
Können Sie ein konkretes Beispiel für so einen Fall nennen?
Zum Beispiel die Sexkoffer, die wir in Basel-Stadt hatten – und bei denen eigentlich schon der Name extrem blöd war. Beim genauen Hinschauen sieht man aber, dass eine grosse Sorgfalt dahinter steckt. Wenn dann jemand wider besseren Wissens behauptet, man würde Kindergartenkinder wider ihre Natur «sexualisieren», dann stimmt das nicht, und das regt mich auf.
Aber es gibt sicher auch das Gegenteil – wann ist Wahlkampf förderlich für die Schule?
Wenn er die Bedeutung der Bildung in unserem Land aufs Tapet bringt. Seit Pisa wissen wir: Es gibt Länder, die einen niedrigeren Lebensstandard haben als wir, aber sie investieren trotzdem in die Bildung und ziehen dadurch an uns vorbei. Noch haben wir einen Vorsprung, aber wir dürfen uns nicht ausruhen. Deshalb müssen wir uns wieder bewusst werden, wie wichtig Bildung ist. Sie ist kein Rohstoff, wie oft behauptet wird, sondern wir müssen sie erarbeiten, unter Einsatz von sehr viel Geld der Steuerzahler.
Haben wir mit der Einführung des Lehrplans 21 für den Moment Ruhe vor weiteren Schulreformen?
Nein. Die Welt bewegt sich, und wir müssen uns mitbewegen. Nur so können wir unsere Kinder darin unterstützen, selbständige Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Die Schule muss nicht jede Bewegung mitmachen, aber sie muss flexibel bleiben.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen