Eymann: In Zukunft weniger lexikalisches Wissen.
"Die Eltern sind verunsichert", Migros Magazin, 11.8. Interview mit Christoph Eymann
Was bringt der
neue Lehrplan 21 für Schüler, Eltern und Lehrer? Christoph Eymann, der neue
Präsident der Erziehungsdirektorenkonferenz, erklärt, warum er den Lehrplan 21
für eine echte Errungenschaft hält und welche Diskussionen ihn nerven.
Christoph Eymann, heute beginnt in einigen
Kantonen das neue Schuljahr. Andere folgen nächste Woche oder später. Werden
wir mit dem Lehrplan 21 alle gleichzeitig Ferien und Schulbeginn haben?
Nein. Ferien
sind und bleiben Sache der Kantone. Das ist auch gut so, denken Sie nur an den
Reiseverkehr. Zum Teil stecken alte Traditionen hinter der Ferienplanung, wie
zum Beispiel in der Waadt die «Vacances de pommes de terre». Die wollen wir
nicht abschaffen. Ich muss auch betonen: Der Lehrplan 21 ist ein Vorhaben der
D-EDK, also der 21 Deutschschweizer Kantone der Erziehungsdirektorenkonferenz.
Der neue Lehrplan ist sehr umstritten. Einige
Kantone bemängeln den Verlust an Föderalismus, die Lehrer fanden ihn überladen.
Ich frage
Lehrer oft: «Wie oft schaut ihr in den jetzigen Lehrplan?» Etwa genau so oft
werden sie den neuen Lehrplan konsultieren müssen – also eher selten. Ausserdem
wird es Einführungskurse geben, welche die meisten Kantone ihren Lehrern
bezahlen. Die Neuerungen werden überbewertet und viel zu emotional diskutiert.
In der Vernehmlassung des Entwurfs sind über
1000 Kritikpunkte zusammengekommen. Welche Korrekturen werden nun bis Ende
Jahr am neuen Lehrplan vorgenommen?
Die
Kompetenzziele waren nicht in allen Fächern gleich detailliert definiert, das
wird vereinheitlicht. Der Lehrplan wird verschlankt, von 550 auf etwa 450
Seiten, und es werden Stoffinhalte ergänzt.
Ab August 2015 können die Kantone den
Lehrplan 21 umsetzen. Was erwartet Schüler und Eltern dort, wo dies geschieht?
Neu ist die
Kompetenzorientierung. Wissen bleibt wichtig, aber der neue Lehrplan lenkt die
Aufmerksamkeit stärker darauf, was das einzelne Kind wirklich verstanden hat.
Dadurch wird in Zukunft weniger lexikalisches Wissen verlangt als vielmehr das
Verstehen und Konstruieren von Zusammenhängen. Das Datum eines Friedensvertrags
beispielsweise wird weniger Bedeutung haben als seine Folgen. Einfach
ausgedrückt, können Eltern ihr Kind nicht mehr einfach abfragen und davon
ausgehen, dass es eine Bestnote bekommt, wenn es alle Antworten weiss. Diese
Tatsache verunsichert viele Eltern.
Verständlicherweise. Um ihr Kind unterstützen
zu können, möchten sie wissen, welchen Stoff es beherrschen muss.
Darum möchte
ich für den Kanton Basel-Stadt prüfen, ob wir den Eltern Einführungskurse für
den Lehrplan 21 anbieten sollen. Solche Kurse könnten den Eltern die Angst
nehmen. Aber es braucht auch ein Umdenken. Unsere Gesellschaft neigt dazu,
alles präzise messen zu wollen.
Noten und Zeugnisse wird es aber weiterhin
geben.
Lehrerinnen und
Lehrer werden sich mit dem Lehrplan 21 leichter ein Bild davon machen können,
wo ein Schüler steht. Sie begleiten diese jungen Menschen über einige Zeit
hinweg und sind in der Lage, eine Beurteilung vorzunehmen.
Was bringt die Orientierung an Kompetenzen
für Vorteile?
Es wird ja in
Zukunft nicht mehr definiert, welchen Stoff ein Lehrer während des Schuljahres
behandeln muss, sondern über welche Fähigkeiten die Schüler am Ende des Jahres
verfügen sollen. Das führt zu mehr Flexibilität. Wenn etwa in der Ukraine
kriegsähnliche Zustände herrschen, kann der Lehrer sagen: «Wir sind zwar bei den
Punischen Kriegen, aber jetzt schauen wir mal nach Russland.»
Lehrerinnen und Lehrer gestalten den
Unterricht auch gerne aufgrund ihrer Stärken. Wie verbindlich ist der neue
Lehrplan?
Ich hoffe sehr,
dass die Lehrer ihre Individualität im Unterrichten bewahren. Der Lehrplan
bietet einen Rahmen, der ihnen Sicherheit geben soll, ob sie sich in die
richtige Richtung bewegen. Niemand muss ihn sklavisch einhalten. Auch wird
weiterhin jeder Kanton grosse Freiheiten in der Umsetzung geniessen. Ganz
bestimmt werden wir keine Kontrollen durchführen.
Ist bei all diesen Freiheiten die angestrebte
Kompatibilität trotzdem gewährleistet? Ein Ziel war ja, dass Kinder, die in
einen anderen Kanton zügeln, ungefähr den gleichen Stoff schon absolviert haben
wie am neuen Ort.
In der Praxis
wird das relativ wenig Probleme geben. Und die Alternative zur Individualität
wäre die totale Gleichschaltung – davor mögen uns höhere Mächte bewahren!
Lieber lassen wir im täglichen Unterricht Eigenarten zu, die sich aus der
geografischen Lage, der Erfahrung der Lehrer oder sprachlichen Umständen
ergeben.
Die zwei Fremdsprachen in der Primarschule
haben für Aufregung gesorgt. Zeichnet sich da eine Lösung ab?
Die
öffentlichen Diskussionen darüber waren sehr emotional, das hat mich
überrascht. Tatsache ist: Bereits vor zehn Jahren haben wir den Kompromiss
gefunden, dass in der dritten und der fünften Primarklasse jeweils eine
Fremdsprache eingeführt wird, eine davon muss eine Landessprache sein. Jeder
Kanton kann die Reihenfolge wählen. Diese Lösung wird auch im Lehrplan 21
verankert, dafür setze ich mich persönlich ein. Voraussichtlich wird Zürich
weiterhin zuerst Englisch einführen und Basel Französisch.
Für die Eltern ist aber genau das ein
Problem. Wenn sie mit einem Viertklässler von Basel nach Zürich ziehen, hat ihr
Kind noch kein Englisch gehabt.
Ich muss
zugeben, es ist eigentlich ein Armutszeugnis, dass wir uns nicht auf die
Abfolge der Fremdsprachen einigen konnten. Aus meiner Sicht haben
staatspolitische Überlegungen Vorrang. Deshalb plädiere ich für eine
Landessprache als erste Fremdsprache. Wo können wir besser beweisen, dass uns
die vielsprachige Schweiz wichtig ist?
Neue Erhebungen über die Zufriedenheit der
Lehrer zeichnen ein katastrophales Bild: Jeder sechste steigt ein Jahr nach der
Ausbildung aus dem Beruf aus. Nach fünf Jahren ist nur noch die Hälfte als
Lehrer tätig. Von jenen, die bleiben, ist jeder Zehnte stark Burn-out
gefährdet. Und nun müssen sie sich noch mit dem neuen Lehrplan rumschlagen.
Deshalb müssen
wir aktiv auf die Lehrkräfte zugehen und ihnen sagen, was wir aufgrund des
neuen Lehrplans erwarten und was nicht. Ausserdem werden wir Weiterbildungen
offerieren und genügend Einführungszeit geben müssen. Längerfristig ist es
Aufgabe der Politik, den Lehrern eine Konzentration auf ihre Kernaufgaben zu
ermöglichen.
In der Realität müssen sie aber auch soziale
Kompetenz schulen, Werte vermitteln, Kinder erziehen.
Tatsächlich ist
die Schule zur Reparaturwerkstatt der Gesellschaft geworden, damit ist sie
überfordert. Eine Untersuchung der ETH zeigt, dass emotionale Erschöpfung eine
Folge sein kann.
Wie kann man trotzdem wieder mehr junge
Menschen für den Lehrberuf begeistern?
Wir müssen uns
vor die Lehrer hinstellen und sie schützen, die Wertschätzung für sie
wiederherstellen. Sehen Sie, kürzlich habe ich eine Knieprothese bekommen. Wenn
ich gefragt werde, von wem ich operiert wurde, schwärme ich von meinem Arzt.
Aber wer schwärmt von Lehrern? Welche Eltern sagen, ein hervorragender Lehrer
habe die Biografie ihrer Kinder positiv geprägt?
Viele Lehrer klagen aber auch über zu wenig
Lohn und zu viel administrativen Aufwand.
Der
administrative Aufwand muss diskutiert werden, die Lohnpolitik ist Sache der
Kantone. In Basel-Stadt prüfen wir zurzeit die Gehälter von Kindergarten- und
Primarlehrkräften.
Sie sind seit dem letzten November EDK-
Präsident, als solcher erleben Sie Ihren ersten Schuljahresbeginn. Welche
Neuerungen von Ihnen werden jetzt wirksam?
Keine. Ich
wehre mich auch gegen solche Sololäufe, sondern setze vielmehr auf die
Zusammenarbeit der Kantone. Und die ist sehr gut, über alle Parteigrenzen
hinweg.
Die Zustimmung der SVP zum Lehrplan 21 war
allerdings nicht so gross.
Das Plenum der
Deutschschweizer EDK fällt jeweils die Beschlüsse zum Lehrplan 21. Wir sind gut
unterwegs.
Sie haben drei Kinder. Wie und wo lassen Sie
Ihre Erfahrungen als Vater in Ihre Arbeit einfliessen?
Zum Beispiel
habe ich viele Elternabende miterlebt – gute und weniger gute. Meine Botschaft
an die Schulen ist: «Schaut die Elternabende genau an. Die sind wichtig für das
Vertrauen, das die Eltern der Schule entgegenbringen.»
Auch Politiker möchten sich mit Schulthemen
profilieren. Wie kommt es bei Ihnen an, wenn sich Nationalräte für die
Parlamentswahlen 2015 auf Bildungsthemen stürzen?
Wenn ich das
Gefühl habe, jetzt werden Themen gesucht, um sie populistisch auszuschlachten,
dann geht mir das auf die Nerven.
Können Sie ein konkretes Beispiel für so
einen Fall nennen?
Zum Beispiel
die Sexkoffer, die wir in Basel-Stadt hatten – und bei denen eigentlich schon
der Name extrem blöd war. Beim genauen Hinschauen sieht man aber, dass eine
grosse Sorgfalt dahinter steckt. Wenn dann jemand wider besseren Wissens
behauptet, man würde Kindergartenkinder wider ihre Natur «sexualisieren», dann
stimmt das nicht, und das regt mich auf.
Aber es gibt sicher auch das Gegenteil – wann
ist Wahlkampf förderlich für die Schule?
Wenn er die
Bedeutung der Bildung in unserem Land aufs Tapet bringt. Seit Pisa wissen wir:
Es gibt Länder, die einen niedrigeren Lebensstandard haben als wir, aber sie
investieren trotzdem in die Bildung und ziehen dadurch an uns vorbei. Noch
haben wir einen Vorsprung, aber wir dürfen uns nicht ausruhen. Deshalb müssen
wir uns wieder bewusst werden, wie wichtig Bildung ist. Sie ist kein Rohstoff,
wie oft behauptet wird, sondern wir müssen sie erarbeiten, unter Einsatz von
sehr viel Geld der Steuerzahler.
Haben wir mit der Einführung des Lehrplans 21
für den Moment Ruhe vor weiteren Schulreformen?
Nein. Die Welt
bewegt sich, und wir müssen uns mitbewegen. Nur so können wir unsere Kinder
darin unterstützen, selbständige Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Die
Schule muss nicht jede Bewegung mitmachen, aber sie muss flexibel bleiben.
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