Sind zwei Fremdsprachen zu
viel in der Primarschule? Ist der nationale Zusammenhalt ohne Frühfranzösisch
gefährdet? Welche Kompetenzen hat der Bundesrat? Es ist an der Zeit, ein paar
Dinge klarzustellen.
Irrtum 1: Es geht um den
«nationalen Zusammenhalt»
Der Berner SP-Nationalrat
Matthias Aebischer behauptet: «Die Sprachen halten unsere Nation zusammen.» Das
ist ziemlich kurzsichtig. Tatsächlich trennen die Sprachen unser Land. Wie
früher die Glaubensbekenntnisse: Noch 1847 schlugen sich Katholiken und Reformierte
bei uns die Köpfe ein. Trotzdem blieb die Schweiz zusammen.
Zum Glück hat sich unser Land nie über eine Sprache
oder eine Religion definiert, sonst wäre die heutige Schweiz
gar nie entstanden oder schon längst auseinandergekracht. Viel wichtiger ist
es, dass wir unseren Staat von unten nach oben organisieren: föderalistisch.
Die Gemeinden und die Kantone können selber entscheiden, was gut für sie ist.
Gerade für die (Sprach-)Minderheiten im Land ist dieser Aufbau von grösster
Bedeutung. Wer nun den «nationalen Zusammenhalt» retten will, indem er gegen
Volksentscheide und gegen alle föderalistischen Prinzipien von oben Politik durchsetzen
will, gefährdet in Wahrheit selber das Produkt Schweiz.Nicht jeder Kanton muss jeden Unsinn mitmachen, Bild: Ennio Leanza
Die vier grössten Irrtümer im Sprachenstreit, Tages Anzeiger, Carte blanche von Peter Keller, 23.8.
Irrtum 2: Die Sprachenfrage
ist eine politische Debatte
Was in der Romandie häufig
vergessen geht: Deutschschweizer Schüler müssen zuerst einmal mühsam
Hochdeutsch lernen. Dazu kommen die vielen Migrationskinder, die mit vier
zusätzlichen Sprachen konfrontiert werden: Mundart, Hochdeutsch, Französisch,
Englisch.
Wir würden heute nicht über
den Sinn von zwei Fremdsprachen in der Primarschule diskutieren, wenn die
Resultate so toll wären. Das zeigen die Praxis und auch wissenschaftliche
Studien («Tages-Anzeiger»
vom 18.8.2014). Darum stellen sich
folgende Fragen: Auf welcher Stufe soll der Fremdsprachenunterricht beginnen?
Sind die Schüler überfordert mit Frühfranzösisch und Frühenglisch? Stimmen
Aufwand und Ertrag überein? Diese Fragen sind pädagogische Fragen – und man
soll sie bitte auch pädagogisch beantworten. Bezeichnenderweise sieht die
Lehrerschaft den heutigen Sprachenunterricht skeptisch. Bereits 2011 äusserte
sich der damalige Chefpädagoge des Schweizer Lehrerverbandes, Anton
Strittmatter, deutlich: «Aus sachlichen Gründen müsste man auf die zweite
Fremdsprache verzichten, aber politisch ist das derzeit leider nicht
durchsetzbar.»
Irrtum 3: Harmonisierung
ist per se gut
Man kann auch das Gute
übertreiben. Verbindliche Lernziele für die Volksschule sind sinnvoll. Nur wird
jetzt unter dem Titel «Harmonisierung» weit über das Ziel hinausgeschossen: Die
Erziehungsdirektorenkonferenz versucht, mit dem Lehrplan 21 massiv in den
Unterricht einzugreifen. Auf den über 550 Seiten werden 4753 Kompetenzen für
die Volksschule definiert. Das ist absurd und ohne jeden Praxisbezug. Auch der
Schweizer Lehrerverband geht auf Distanz: «zu umfassend», «zu anspruchsvoll».
Harmonisierung ist der Feind der Vielfalt. Die kantonale Bildungshoheit ist nur
schon deshalb sinnvoll, damit nicht jeder Kanton jeden Reform-Unsinn mitmachen
muss.
Irrtum 4: Die
Bundesverfassung verlangt zwei Fremdsprachen in der Primarschule
Innenminister Alain Berset
(SP) hat nach dem Thurgauer Entscheid – nur noch eine Fremdsprache in der
Primarschule – die Drohkeule gezückt. Der Bundesrat habe «die Kompetenz zu
handeln», sollten die Kantone wichtige Bereiche des Schulwesens «nicht
harmonisieren». Er spielt damit auf den 2006 angenommenen Bildungsartikel an.
Was er und seine Parteigenossen gerne verschweigen: Im gleichen Artikel ist zu
lesen, dass die kantonale Selbstbestimmung in Bildungsfragen gewährleistet
bleibe.
Eindeutiger ist das Sprachengesetz: Dort steht, dass die Schüler nach
der obligatorischen Schulzeit Grundkenntnisse in zwei Fremdsprachen haben
müssen. Also nach neun Schuljahren. Es gibt keine rechtliche Grundlage, dass
der Bundesrat zwei Fremdsprachen auf Primarstufe verordnen dürfte.
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