Zweisprachige Schulen werden in Biel und Chur als besonders fortschrittlich gefeiert, Bild: SRF
Man liebt das Fremde, aber nicht die Fremden; Bund, von Alain Pichard
Der
Sozialdemokratische Schuldirektor Némitz und der grüne Erziehungsdirektor
Bernhard Pulver wollen die Filière Bilingue in Biel weiterführen. Geplant ist
eine Verlängerung der zweisprachigen Klassen bis zum 6. Schuljahr und auch eine
Ausdehnung auf die Oberstufe sei nicht ausgeschlossen. Dafür gibt es viel
Applaus. Die Eltern wollen, die Schulkommission unterstützt, die Parteien
nicken und der BUND-Redaktor Wissmann flankiert: „Dieses Projekt ist so
faszinierend, dass man es wagen sollte!“ (21.2.14).
Zwei Gruppen applaudieren nicht
Es gibt
allerdings zwei Gruppen, die nicht applaudieren: Die eine, weil sie die
schulischen Probleme der Stadt Biel kennt, die andere, weil sie die
Konsequenzen tragen muss.
Und beide,
die Lehrerinnen und die Eltern der Migrantenkinder wurden deshalb auch gar
nicht gefragt.
Zur
Erinnerung: Vor ziemlich exakt vier Jahren protestierten über 100 Lehrkräften
in einem Brief gegen die provisorische Einführung der Filière Bilingue.
Hier wird an den Grundfesten der
öffentlichen Schule gerüttelt
Sie
monierten, dass hier an den Grundfesten der öffentlichen Schule gerüttelt
werde, nämlich dass alle Kinder dieser Stadt das Recht erhalten in eine gleiche
Schule zu gehen, in welchen sie ihre Bildungschancen wahrnehmen können. Die 36-jährige
Kurdin S. erfuhr in diesem Sommer bei Schulbeginn, dass dieses Prinzip in der
linken Industriestadt schon jetzt nicht mehr gilt. Als nämlich die Mutter eines
7. Klässlers am ersten Elternabend in einem Oberstufenzentrum um sich blickte,
fragte sie: „Hat es hier keine Schweizer?“ Und auf das beschämte Nicken der
Klassenlehrkraft fügte sie hinzu: „Das ist nicht gut.“
Nun könnte
man ja erwarten, dass die stille Verzweiflung dieser weisen Frau von den
Parteien, die jeweils in Sonntagsreden und am 1. Mai am lautstärksten für ihre
Chancen und Rechte kämpfen, wahrgenommen würde.
Dem ist
aber nicht so.
Den Worten folgen in der Regel nie
Taten
Das
Schicksal von Frau S., stellvertretend für die Tausenden von Migranten, welche
in dieser Stadt leben, scheint die linken Bildungspolitiker nur in
Verlautbarungen und Programmen zu interessieren. Ist der Tatbeweis gefragt, gilt
die alte Regel: Man liebt das Fremde, aber nicht die Fremden.
Biel ist keine zweisprachige Stadt
mehr
Wenn man
durch das Beaumontquartier in die Seevorstadt hinabsteigt und sich noch einen
Spaziergang durch das Vingelzer Boomquartier am See gönnt, könnte man
tatsächlich den Eindruck erhalten, dass Biel immer noch eine zweisprachige
Stadt sei. Der Abstecher in die Aussenquartiere, durch die befahrenen
Durchgangsstrassen, ein Einkauf in der Migros Madretsch oder der Besuch der
Primarschule Bözingen belehrt einem eines Besseren. Biel ist eine multilinguale
Stadt. In den Aussenquartieren ist der Prozentsatz der fremdsprachigen Kinder,
die den Kindergarten und die Primarschule besuchen mittlerweile auf über 80%
gestiegen, auf die ganze Stadt bezogen beträgt er 60%. Vermutungen gehen davon
aus, dass der Anteil fremdsprachiger Kinder bei den unter Dreijährigen schon
75% beträgt. Die Stadt wird sich in den nächsten zehn Jahren massiv verändern.
Die Filière
Bilingue, im Stadtzentrum und im Einzugsquartier des Mittelstands beheimatet,
hat sich indes eine Drittelsquote zurechtgelegt. Die Klassen bestehen aus einem
Drittel deutschsprachigen, einem Drittel französischsprechenden und einem
Drittel fremdsprachigen Kinder.
Michel
Laffer, sozialdemokratischer Grossratskandidat, Lehrervertreter in der Stadt
Biel hat zwei Kinder, welche diese Filière Bilingue besuchen dürfen.
Über die
Drittelsquote kann er nur lachen. „Wenn du die Zusammensetzung der
fremdsprachigen Kinder in der Filière Bilingue mit denen in den
Aussenquartieren vergleichst, dann erkennst du sofort, um was für einen Unsinn
es sich hier handelt. Da musst du nur einen Kindergeburtstag bei mir erleben.“
Und der
Freisinnige Stadtrat und Gymnasialdirektor Leonard Cadetg meint lakonisch: „Das
ist eine mit staatlichen Geldern finanzierte Privatschule für den Mittelstand.“
Biel hingegen
hat kein Problem mit dem Spracherwerb der jeweiligen anderen Landessprache. Die
deutschsprachigen Schülerinnen und Schüler dieser Stadt sprechen besser
Französisch als der Rest der Schweiz. Mit der „Filière Bilingue“ tragen wir Wasser
ins Meer.
16% - 20% der Bieler Schülerinnen
und Schüler verlassen die Schule als funktionale Analphabeten
Aber Biel
hat ein anderes gravierendes Problem: 16- 20% der Bieler SchülerInnen können
nach neun Schuljahren die eine oder andere Landessprache nicht lesen und
schreiben. Integration findet durch Arbeitschancen statt. Das ist, was zählt
Und eine mangelnde Alphabetisierung, wie sie in Biel überdurchschnittlich
festzustellen ist, kommt einem Fallbeil auf jede berufliche Karriere gleich.
Die Folgen
sind bekannt: Hohe Arbeitslosenraten, die höchste Sozialquote der Schweiz,
jeder fünfte Jugendliche lebt von der Fürsorge.
Die Schule muss neuerdings auch
Label erfüllen
Der Mythos
„Zweisprachigkeit“ ist inzwischen ein Label einer arg gebeutelten Stadt
geworden. Mit der Filière Bilingue will man Mittelstandsfamilien anziehen. Das
ist verständlich. Und es ist auch nachvollziehbar, dass der Mittelstand seine
Kinder nicht als Sanitärreparateure einer ausser Kontrolle geratenen
Schulsituation sehen will.
Wer sich
aber konsequent der Migrationsdebatte verschliesst, jederzeit humanitäre
Parolen von sich gibt, sich für Ausländerstimmrecht, und eine offene Schweiz
einsetzt, wer das Wort „Aufnahmefähigkeit“ in seinem Vokabular nicht kennt, der
muss jetzt in den sauren Apfel beissen und Farbe bekennen. Dies wollen aber die
Leute in ihren putzigen Quartieren nicht. Man zieht es vor, seine Weltoffenheit
und Toleranz, auf die Biel stolz ist, an der Urne und in Leserbiefen zu
verkünden, weil auch für sie gilt: Man liebt das Fremde, aber nicht die
Fremden.
Unsere fremdsprachigen Schülerinnen
und Schüler dürfen nicht in Ghettoschulen abgeschoben werden.
Aber die
Kinder unserer ausländischen Mitbürger sind nun einmal da, und es sind ihrer
viele. Sie bilden in Biel in der Primarschule bereits die Mehrheit. Viele von
ihnen haben mangelnde Sprachkenntnisse, kommen nicht selten aus bildungsfernen
Schichten, aber sie sind wissensdurstig und voller Kraft. Wir dürfen sie nicht
in Ghettoschulen abschieben, in die Schulen der Aussenquartiere, welche immer mehr
die ganze Last der Integration zu tragen haben. Wir müssen ihnen faire
Bildungschancen geben. Das ist ein Prinzip unserer öffentlichen Schule. Mit der
Filière Bilingue verabschiedet sich der Mittelstand und mit ihm unsere
Regierung vom Kerngedanken einer ÖFFENTLICHEN SCHULE. Die Kinder unserer
Migranten werden einer Marketingstrategie geopfert.
In einer
Stadtratsdebatte forderte ein SVP-Statdrat die Bildung von Schweizer
Schulklassen und die Konzentration der Ausländer in spezielle Klassen. Dieses
Votum sorgte mit Recht für Kopfschütteln und Empörung. Aber mit der Filière
Bilingue droht uns genau diese Entwicklung. Die einigermassen sprachbegabten
fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler werden aus den Klassen genommen und in
Lerngemeinschaften integriert, wo sich die Kinder des Mittelstands befinden.
Die mögliche Alternative
Keine
Frage: Die Bieler Schulen haben bezüglich Zweisprachigkeit zu wenig gemacht in
den vergangenen Jahren.
Ich bin als
Vater und Lehrer mehrfach gescheitert als ich, gemeinsame Skilager, gemeinsame
Sportlektionen und Sporttage, gemeinsame Theateraufführungen, gemeinsame
Schulprojekte und Schulverlegungen vorschlug. Mein eigener Sohn besuchte den
welschen Fussballclub Aurore, einen Club, der seine welschen Lebensweisen
pflegt, und in dem nur Französisch gesprochen wird. Vom Präsidenten zum Kassier
bis zu den Trainern. Die Folge: Mein Sohn konnte, als er in die 5. Klasse kam
und das schulische Lernen mit Französisch begann, diese Sprache besser sprechen
als seine zwei Jahre ältere Tochter. Es braucht keine komplizierte und teure
Filière Bilingue-Struktur, welche das Restschulproblem noch verschärft.
Das darf nicht der
Weg unserer Stadt sein. Und vor allem: Es kann nicht der Weg linker
Bildungspolitik sein.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen