24. August 2014

Filière Bilingue oder wie sich der Mittelstand von der öffentlichen Schule verabschiedet

Der Bieler Stadtrat und Oberstufenlehrer Alain Pichard zur Filière Bilingue - einem segregativen Projekt unter dem Deckmäntelchen der Sprachförderung.

Zweisprachige Schulen werden in Biel und Chur als besonders fortschrittlich gefeiert, Bild: SRF


Man liebt das Fremde, aber nicht die Fremden; Bund, von Alain Pichard


Der Sozialdemokratische Schuldirektor Némitz und der grüne Erziehungsdirektor Bernhard Pulver wollen die Filière Bilingue in Biel weiterführen. Geplant ist eine Verlängerung der zweisprachigen Klassen bis zum 6. Schuljahr und auch eine Ausdehnung auf die Oberstufe sei nicht ausgeschlossen. Dafür gibt es viel Applaus. Die Eltern wollen, die Schulkommission unterstützt, die Parteien nicken und der BUND-Redaktor Wissmann flankiert: „Dieses Projekt ist so faszinierend, dass man es wagen sollte!“ (21.2.14).

Zwei Gruppen applaudieren nicht
Es gibt allerdings zwei Gruppen, die nicht applaudieren: Die eine, weil sie die schulischen Probleme der Stadt Biel kennt, die andere, weil sie die Konsequenzen tragen muss.
Und beide, die Lehrerinnen und die Eltern der Migrantenkinder wurden deshalb auch gar nicht gefragt.
Zur Erinnerung: Vor ziemlich exakt vier Jahren protestierten über 100 Lehrkräften in einem Brief gegen die provisorische Einführung der Filière Bilingue.

Hier wird an den Grundfesten der öffentlichen Schule gerüttelt
Sie monierten, dass hier an den Grundfesten der öffentlichen Schule gerüttelt werde, nämlich dass alle Kinder dieser Stadt das Recht erhalten in eine gleiche Schule zu gehen, in welchen sie ihre Bildungschancen wahrnehmen können. Die 36-jährige Kurdin S. erfuhr in diesem Sommer bei Schulbeginn, dass dieses Prinzip in der linken Industriestadt schon jetzt nicht mehr gilt. Als nämlich die Mutter eines 7. Klässlers am ersten Elternabend in einem Oberstufenzentrum um sich blickte, fragte sie: „Hat es hier keine Schweizer?“ Und auf das beschämte Nicken der Klassenlehrkraft fügte sie hinzu: „Das ist nicht gut.“
Nun könnte man ja erwarten, dass die stille Verzweiflung dieser weisen Frau von den Parteien, die jeweils in Sonntagsreden und am 1. Mai am lautstärksten für ihre Chancen und Rechte kämpfen, wahrgenommen würde.
Dem ist aber nicht so.

Den Worten folgen in der Regel nie Taten
Das Schicksal von Frau S., stellvertretend für die Tausenden von Migranten, welche in dieser Stadt leben, scheint die linken Bildungspolitiker nur in Verlautbarungen und Programmen zu interessieren. Ist der Tatbeweis gefragt, gilt die alte Regel: Man liebt das Fremde, aber nicht die Fremden.

Biel ist keine zweisprachige Stadt mehr
Wenn man durch das Beaumontquartier in die Seevorstadt hinabsteigt und sich noch einen Spaziergang durch das Vingelzer Boomquartier am See gönnt, könnte man tatsächlich den Eindruck erhalten, dass Biel immer noch eine zweisprachige Stadt sei. Der Abstecher in die Aussenquartiere, durch die befahrenen Durchgangsstrassen, ein Einkauf in der Migros Madretsch oder der Besuch der Primarschule Bözingen belehrt einem eines Besseren. Biel ist eine multilinguale Stadt. In den Aussenquartieren ist der Prozentsatz der fremdsprachigen Kinder, die den Kindergarten und die Primarschule besuchen mittlerweile auf über 80% gestiegen, auf die ganze Stadt bezogen beträgt er 60%. Vermutungen gehen davon aus, dass der Anteil fremdsprachiger Kinder bei den unter Dreijährigen schon 75% beträgt. Die Stadt wird sich in den nächsten zehn Jahren massiv verändern.
Die Filière Bilingue, im Stadtzentrum und im Einzugsquartier des Mittelstands beheimatet, hat sich indes eine Drittelsquote zurechtgelegt. Die Klassen bestehen aus einem Drittel deutschsprachigen, einem Drittel französischsprechenden und einem Drittel fremdsprachigen Kinder.
Michel Laffer, sozialdemokratischer Grossratskandidat, Lehrervertreter in der Stadt Biel hat zwei Kinder, welche diese Filière Bilingue besuchen dürfen.
Über die Drittelsquote kann er nur lachen. „Wenn du die Zusammensetzung der fremdsprachigen Kinder in der Filière Bilingue mit denen in den Aussenquartieren vergleichst, dann erkennst du sofort, um was für einen Unsinn es sich hier handelt. Da musst du nur einen Kindergeburtstag bei mir erleben.“
Und der Freisinnige Stadtrat und Gymnasialdirektor Leonard Cadetg meint lakonisch: „Das ist eine mit staatlichen Geldern finanzierte Privatschule für den Mittelstand.“

Biel hingegen hat kein Problem mit dem Spracherwerb der jeweiligen anderen Landessprache. Die deutschsprachigen Schülerinnen und Schüler dieser Stadt sprechen besser Französisch als der Rest der Schweiz. Mit der „Filière Bilingue“ tragen wir Wasser ins Meer.

16% - 20% der Bieler Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule als funktionale Analphabeten
Aber Biel hat ein anderes gravierendes Problem: 16- 20% der Bieler SchülerInnen können nach neun Schuljahren die eine oder andere Landessprache nicht lesen und schreiben. Integration findet durch Arbeitschancen statt. Das ist, was zählt Und eine mangelnde Alphabetisierung, wie sie in Biel überdurchschnittlich festzustellen ist, kommt einem Fallbeil auf jede berufliche Karriere gleich.
Die Folgen sind bekannt: Hohe Arbeitslosenraten, die höchste Sozialquote der Schweiz, jeder fünfte Jugendliche lebt von der Fürsorge.

Die Schule muss neuerdings auch Label erfüllen
Der Mythos „Zweisprachigkeit“ ist inzwischen ein Label einer arg gebeutelten Stadt geworden. Mit der Filière Bilingue will man Mittelstandsfamilien anziehen. Das ist verständlich. Und es ist auch nachvollziehbar, dass der Mittelstand seine Kinder nicht als Sanitärreparateure einer ausser Kontrolle geratenen Schulsituation sehen will.
Wer sich aber konsequent der Migrationsdebatte verschliesst, jederzeit humanitäre Parolen von sich gibt, sich für Ausländerstimmrecht, und eine offene Schweiz einsetzt, wer das Wort „Aufnahmefähigkeit“ in seinem Vokabular nicht kennt, der muss jetzt in den sauren Apfel beissen und Farbe bekennen. Dies wollen aber die Leute in ihren putzigen Quartieren nicht. Man zieht es vor, seine Weltoffenheit und Toleranz, auf die Biel stolz ist, an der Urne und in Leserbiefen zu verkünden, weil auch für sie gilt: Man liebt das Fremde, aber nicht die Fremden.

Unsere fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler dürfen nicht in Ghettoschulen abgeschoben werden.
Aber die Kinder unserer ausländischen Mitbürger sind nun einmal da, und es sind ihrer viele. Sie bilden in Biel in der Primarschule bereits die Mehrheit. Viele von ihnen haben mangelnde Sprachkenntnisse, kommen nicht selten aus bildungsfernen Schichten, aber sie sind wissensdurstig und voller Kraft. Wir dürfen sie nicht in Ghettoschulen abschieben, in die Schulen der Aussenquartiere, welche immer mehr die ganze Last der Integration zu tragen haben. Wir müssen ihnen faire Bildungschancen geben. Das ist ein Prinzip unserer öffentlichen Schule. Mit der Filière Bilingue verabschiedet sich der Mittelstand und mit ihm unsere Regierung vom Kerngedanken einer ÖFFENTLICHEN SCHULE. Die Kinder unserer Migranten werden einer Marketingstrategie geopfert.
In einer Stadtratsdebatte forderte ein SVP-Statdrat die Bildung von Schweizer Schulklassen und die Konzentration der Ausländer in spezielle Klassen. Dieses Votum sorgte mit Recht für Kopfschütteln und Empörung. Aber mit der Filière Bilingue droht uns genau diese Entwicklung. Die einigermassen sprachbegabten fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler werden aus den Klassen genommen und in Lerngemeinschaften integriert, wo sich die Kinder des Mittelstands befinden.

Die mögliche Alternative
Keine Frage: Die Bieler Schulen haben bezüglich Zweisprachigkeit zu wenig gemacht in den vergangenen Jahren.
Ich bin als Vater und Lehrer mehrfach gescheitert als ich, gemeinsame Skilager, gemeinsame Sportlektionen und Sporttage, gemeinsame Theateraufführungen, gemeinsame Schulprojekte und Schulverlegungen vorschlug. Mein eigener Sohn besuchte den welschen Fussballclub Aurore, einen Club, der seine welschen Lebensweisen pflegt, und in dem nur Französisch gesprochen wird. Vom Präsidenten zum Kassier bis zu den Trainern. Die Folge: Mein Sohn konnte, als er in die 5. Klasse kam und das schulische Lernen mit Französisch begann, diese Sprache besser sprechen als seine zwei Jahre ältere Tochter. Es braucht keine komplizierte und teure Filière Bilingue-Struktur, welche das Restschulproblem noch verschärft.
Das darf nicht der Weg unserer Stadt sein. Und vor allem: Es kann nicht der Weg linker Bildungspolitik sein.

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