28. August 2014

Die Natur als Schulzimmer

Am Käferberg in Zürich Höngg ist die erste Wald-Basisstufe des Kantons gestartet.




Frische Luft zum Spielen und Lernen, Bild: Annick Ramp

Die Natur als Schulzimmer, NZZ, 28.8. von Natalie Avanzino



Bereits aus einiger Entfernung hören wir helle Kinderstimmen durch den Wald klingen. Als wir uns einer Lichtung in der Nähe der Jägerwiese am Zürcher Käferbergwald nähern, sehen wir eine Gruppe von spielenden Kindern. Um einen morschen Baumstrunk hat sich eine kleine Arbeitsgemeinschaft versammelt: Die vierjährige Liv wühlt energisch mit einem Stecken in den breit verzweigten Wurzeln des Laubbaumes. Maël lässt einen dicken, kurzen Ast mit gezielten Schlägen auf die trockene Rinde des abgestorbenen Baumes niedersausen, so dass diese abblättert. «Das ist mein Hammer», erklärt der sechsjährige Bub. Die beiden Kinder besuchen die vierjährige Basisstufe der neugegründeten Schule «Waldchind Züri».
Viertagewoche in der Natur
Iris Seewald und Regula Ritter sind die Initiantinnen des Projekts. Sie sind mit einer privaten Wald-Basisstufe, welche die vier Jahre vom ersten Kindergartenjahr bis zur zweiten Primarklasse umfasst, ins Schuljahr gestartet. Bis anhin gab es im Kanton Zürich lediglich auf Kindergartenstufe Schulmodelle, die ganz im Wald stattfinden; in der Stadt Zürich sind dies etwa die Programme der privaten Anbieter Wakita im Kreis 7 oder Troll mit Standorten am Uetli- und am Zürichberg.
Die Kinder der neuen Waldschule verbringen ihre Viertagewoche fast ausschliesslich in der Natur: Der Schulalltag findet unter freiem Himmel im Wald statt. Ein Sprichwort nennt den Unterrichtsraum den dritten Pädagogen, gleich nach den anderen Schulkindern und der Lehrperson. Wie sehr dies bei den «Waldchind» zutrifft, wird bei unserem Besuch offensichtlich. Alles wird ertastet, untersucht, und Fragen über Fragen prasseln über die Betreuungspersonen, kein Kind sitzt verschüchtert in einer Schulzimmerecke.
«Wir sind überzeugt, dass der Wald einen idealen Lehr- und Lernraum verkörpert», sagt die 40-jährige Seewald, Präsidentin des Vereins Waldchind Züri. Der Aufenthalt in der Natur bilde die Grundlage für eine gesunde Entwicklung und stärke das Selbstvertrauen. Gerade die elementaren Fähigkeiten, welche die Voraussetzung für alles schulische Lernen sind, könnten im Wald optimal gefördert werden. «Die Bildungsziele entsprechen dem kantonalen Lehrplan und werden für jedes Kind in einem individuellen Förderkonzept festgelegt», ergänzt die erfahrene Primarlehrerin.
Altersdurchmischtes Lernen
Der Wunsch, ein derartiges Angebot in Zürich einzuführen, konkretisierte sich bei Seewald während ihrer Ausbildung zur Naturpädagogin in St. Gallen. Dort bietet der Verein Waldkinder seit 2001 eine Basisstufe an. Dass die Zürcher «Waldchind» ebenfalls mit einem altersdurchmischten Unterrichtskonzept lernen sollten, war für sie selbstverständlich. Ihr sei es ein Rätsel, weshalb der Kanton Zürich die dreijährige Grundstufe (Kindergarten und 1. Klasse) abgeschafft habe. «Jedes Kind hat einen eigenen Fahrplan für sein Lernen, altersdurchmischte Lernmodelle können diese Tatsache auffangen», betont Seewald.
Gemeinsam mit Regula Ritter hat sie im Januar dieses Jahres den Trägerverein Waldchind Züri gegründet. Vieles sei noch im Aufbau und der Verein auch auf Spenden angewiesen, betonen die beiden Initiantinnen. «Deshalb sind wir vorerst auch nur mit einer überschaubaren Gruppe gestartet und haben noch Potenzial, weitere Kinder aufzunehmen», sagt die 41-jährige Ritter. Die Umweltnaturwissenschafterin leitet den Verein organisatorisch und administrativ.
In diesen ersten Schultagen bleiben die Kinder beim freien Spiel auffallend nah an den Lehrpersonen. «Dies ändert sich wohl sehr bald, und die Umgebung wird weiträumig erkundet», meint schmunzelnd David Hofmann, Primarlehrer und in Zweitausbildung zum Kindergärtner. «Typisch für dieses Alter ist, dass zuerst alles auseinandergenommen wird», erklärt er den zum Teil unzimperlichen Umgang mit den Materialien.
Als Hofmann die Kinder etwas später zu sich ruft und bittet, sie möchten ihre Hefte aus den Rucksäcken hervornehmen, befolgt dies die Gruppe ohne Murren. Die Kleinen setzen sich auf eine Blache und beginnen mit bereitgestellten Farbstiften zu malen.
Hofmann betreut die Kindergartenstufe der «Waldchind» im Job-Sharing mit der Kindergärtnerin und ausgebildeten Grundstufenlehrerin Katrin Baumann. Unterstützt werden sie von einer Praktikantin.
Wie der Unterricht bei Regen und im Winter stattfinden werde, wollen wir von den Verantwortlichen wissen. «Natürlich ist angemessene Bekleidung sehr wichtig, und an Regentagen spannen wir eine grosse Blache, aber bei ganz garstigem Wetter können wir eine Hütte als Rückzugsort nutzen, und im Winter haben wir zudem einen geheizten Raum zur Verfügung», so versichert Seewald.
Etwas Schmutz gehört dazu
Kritiker von Waldangeboten befürchten, Schüler seien bei einem Unterricht draussen unkonzentriert oder bewegungsaktive Kindern würden nicht lernen, auch einmal stillzusitzen. Dem widerspricht Seewald vehement: «Die meisten Kinder bewegen sich viel zu wenig draussen und sind genau deshalb unruhig.» Sie ist sich sicher, dass grundsätzlich jedes Kind - ob Mädchen oder Bube, ob aktiv oder schüchtern - für den Unterricht im Wald geeignet ist. «Sofern es sich auch schmutzig machen darf», ergänzt die Pädagogin beim Abschied mit einem Augenzwinkern.

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