Frische Luft zum Spielen und Lernen, Bild: Annick Ramp
Die Natur als Schulzimmer, NZZ, 28.8. von Natalie Avanzino
Bereits aus einiger Entfernung hören wir helle Kinderstimmen durch den
Wald klingen. Als wir uns einer Lichtung in der Nähe der Jägerwiese am Zürcher
Käferbergwald nähern, sehen wir eine Gruppe von spielenden Kindern. Um einen
morschen Baumstrunk hat sich eine kleine Arbeitsgemeinschaft versammelt: Die
vierjährige Liv wühlt energisch mit einem Stecken in den breit verzweigten
Wurzeln des Laubbaumes. Maël lässt einen dicken, kurzen Ast mit gezielten
Schlägen auf die trockene Rinde des abgestorbenen Baumes niedersausen, so dass
diese abblättert. «Das ist mein Hammer», erklärt der sechsjährige Bub. Die
beiden Kinder besuchen die vierjährige Basisstufe der neugegründeten Schule
«Waldchind Züri».
Viertagewoche in der Natur
Iris Seewald und Regula Ritter sind die Initiantinnen des Projekts. Sie
sind mit einer privaten Wald-Basisstufe, welche die vier Jahre vom ersten
Kindergartenjahr bis zur zweiten Primarklasse umfasst, ins Schuljahr gestartet.
Bis anhin gab es im Kanton Zürich lediglich auf Kindergartenstufe Schulmodelle,
die ganz im Wald stattfinden; in der Stadt Zürich sind dies etwa die Programme
der privaten Anbieter Wakita im Kreis 7 oder Troll mit Standorten am Uetli- und
am Zürichberg.
Die Kinder der neuen Waldschule verbringen ihre Viertagewoche fast
ausschliesslich in der Natur: Der Schulalltag findet unter freiem Himmel im
Wald statt. Ein Sprichwort nennt den Unterrichtsraum den dritten Pädagogen,
gleich nach den anderen Schulkindern und der Lehrperson. Wie sehr dies bei den
«Waldchind» zutrifft, wird bei unserem Besuch offensichtlich. Alles wird
ertastet, untersucht, und Fragen über Fragen prasseln über die
Betreuungspersonen, kein Kind sitzt verschüchtert in einer Schulzimmerecke.
«Wir sind überzeugt, dass der Wald einen idealen Lehr- und Lernraum
verkörpert», sagt die 40-jährige Seewald, Präsidentin des Vereins Waldchind
Züri. Der Aufenthalt in der Natur bilde die Grundlage für eine gesunde
Entwicklung und stärke das Selbstvertrauen. Gerade die elementaren Fähigkeiten,
welche die Voraussetzung für alles schulische Lernen sind, könnten im Wald
optimal gefördert werden. «Die Bildungsziele entsprechen dem kantonalen
Lehrplan und werden für jedes Kind in einem individuellen Förderkonzept
festgelegt», ergänzt die erfahrene Primarlehrerin.
Altersdurchmischtes Lernen
Der Wunsch, ein derartiges Angebot in Zürich einzuführen, konkretisierte
sich bei Seewald während ihrer Ausbildung zur Naturpädagogin in St. Gallen.
Dort bietet der Verein Waldkinder seit 2001 eine Basisstufe an. Dass die
Zürcher «Waldchind» ebenfalls mit einem altersdurchmischten Unterrichtskonzept
lernen sollten, war für sie selbstverständlich. Ihr sei es ein Rätsel, weshalb
der Kanton Zürich die dreijährige Grundstufe (Kindergarten und 1. Klasse)
abgeschafft habe. «Jedes Kind hat einen eigenen Fahrplan für sein Lernen,
altersdurchmischte Lernmodelle können diese Tatsache auffangen», betont
Seewald.
Gemeinsam mit Regula Ritter hat sie im Januar dieses Jahres den
Trägerverein Waldchind Züri gegründet. Vieles sei noch im Aufbau und der Verein
auch auf Spenden angewiesen, betonen die beiden Initiantinnen. «Deshalb sind
wir vorerst auch nur mit einer überschaubaren Gruppe gestartet und haben noch
Potenzial, weitere Kinder aufzunehmen», sagt die 41-jährige Ritter. Die
Umweltnaturwissenschafterin leitet den Verein organisatorisch und
administrativ.
In diesen ersten Schultagen bleiben die Kinder beim freien Spiel
auffallend nah an den Lehrpersonen. «Dies ändert sich wohl sehr bald, und die
Umgebung wird weiträumig erkundet», meint schmunzelnd David Hofmann,
Primarlehrer und in Zweitausbildung zum Kindergärtner. «Typisch für dieses
Alter ist, dass zuerst alles auseinandergenommen wird», erklärt er den zum Teil
unzimperlichen Umgang mit den Materialien.
Als Hofmann die Kinder etwas später zu sich ruft und bittet, sie möchten
ihre Hefte aus den Rucksäcken hervornehmen, befolgt dies die Gruppe ohne
Murren. Die Kleinen setzen sich auf eine Blache und beginnen mit
bereitgestellten Farbstiften zu malen.
Hofmann betreut die Kindergartenstufe der «Waldchind» im Job-Sharing mit
der Kindergärtnerin und ausgebildeten Grundstufenlehrerin Katrin Baumann.
Unterstützt werden sie von einer Praktikantin.
Wie der Unterricht bei Regen und im Winter stattfinden werde, wollen wir
von den Verantwortlichen wissen. «Natürlich ist angemessene Bekleidung sehr
wichtig, und an Regentagen spannen wir eine grosse Blache, aber bei ganz
garstigem Wetter können wir eine Hütte als Rückzugsort nutzen, und im Winter
haben wir zudem einen geheizten Raum zur Verfügung», so versichert Seewald.
Etwas Schmutz gehört dazu
Kritiker von Waldangeboten befürchten, Schüler seien bei einem
Unterricht draussen unkonzentriert oder bewegungsaktive Kindern würden nicht
lernen, auch einmal stillzusitzen. Dem widerspricht Seewald vehement: «Die
meisten Kinder bewegen sich viel zu wenig draussen und sind genau deshalb
unruhig.» Sie ist sich sicher, dass grundsätzlich jedes Kind - ob Mädchen oder
Bube, ob aktiv oder schüchtern - für den Unterricht im Wald geeignet ist.
«Sofern es sich auch schmutzig machen darf», ergänzt die Pädagogin beim
Abschied mit einem Augenzwinkern.
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