Wo hört die Harmonisierung auf und wird zur Gängelung? Bild: Chris Iseli
Harmos und Lehrplan 21: "Die Kritik an der Schule geht ins Leere", Aargauer Zeitung, 16.8. von Matthias Zehnder
In der Bundesverfassung steht im ersten Absatz von
Artikel 62 klipp und klar: «Für das Schulwesen sind die Kantone zuständig.»
Dann folgen in zwei Absätzen die Bedingungen, welche die Kantone erfüllen
müssen. So haben die Kantone für einen «ausreichenden Grundschulunterricht» zu
sorgen, «der allen Kindern offen steht».
Seit der Volksabstimmung vom 21. Mai 2006 folgten
drei weitere Absätze. Zunächst heisst es da: «Kommt auf dem Koordinationsweg
keine Harmonisierung des Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und
der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren
Übergängen sowie der Anerkennung von Abschlüssen zustande, so erlässt der Bund
die notwendigen Vorschriften.» Zudem regelt der Bund den Beginn des
Schuljahres.
Die Abstimmung am 21. Mai 2006 brachte eine
überwältigende Ja-Mehrheit von 85,6 Prozent zugunsten der Schulharmonisierung
in der Schweiz. Im Kanton Baselland betrug der Ja-Anteil sogar 91 Prozent. Das
ist kein Wunder, geht doch der entsprechende Artikel in der Bundesverfassung
auf eine Standesinitiative des Kantons Basel-Landschaft zur Koordination der
kantonalen Bildungssysteme vom 22. Januar 2002 zurück. Einzelne Bestimmungen
stammen sogar wörtlich aus der Standesinitiative.
Die Bundesverfassung nimmt die Kantone in die
Pflicht: Entweder harmonisieren sie die Schule, oder der Bund greift ein. Die
Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) der Kantone hat deshalb eine
«Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen
Schule», kurz Harmos, geschlossen. Dieses neue, schweizerische Schulkonkordat
ist am 1. August 2009 in Kraft getreten. Das Konkordat harmonisiert erstmals
national die Dauer und die wichtigsten Ziele der Bildungsstufen sowie deren
Übergänge.
Gegen dieses Harmos-Konkordat wächst in den
Kantonen zunehmend Widerstand. Am lautesten formiert sich der Widerstand
ausgerechnet im Kanton Baselland, der die Schulharmonisierung in der Schweiz
angestossen hat: Eine Initiative fordert, dass der Kanton aus dem
Harmos-Konkordat austritt.
Wäre ein Austritt ein Schaden? Die Bundesverfassung
ist eindeutig: Schaffen es die Kantone nicht selbst, harmonisiert der Bund?
Christoph Eymann: Das gilt es zu
vermeiden. Wir haben den Auftrag, gemeinsam Lösungen zu finden über die
Kantonsgrenzen hinweg. Die Bildung ist eine Urdomäne der Kantone. Schon dieser
Artikel war ein Schuss vor den Bug, wir wollen nicht warten, bis wir einen
Treffer einstecken.
Hans Ambühl: Wir haben nicht in erster Linie Probleme,
sondern weitgehend Lösungen. Das gab es noch nie, dass im Schweizer Schulsystem
eine so weitgehende Harmonisierung im Gang ist. Die Ziele und die Dauer der
Schulstufen sind harmonisiert. Ab 2016/17 wird schweizweit das Erreichen von
Grundkompetenzen überprüft. Die Schulstrukturen werden harmonisiert sein.
Das scheint mir doch etwas zu schön gefärbt. Was
ist mit der Fremdsprache? Da besteht doch alles andere als eine harmonisierte
Situation?
Ambühl: Ich
insistiere: Es ist weitestgehend geschafft. Einzig bezüglich
Fremdsprachenunterricht regt sich nun in einzelnen Deutschschweizer Kantonen
Widerstand gegen die Lösung des Konkordats. Vielleicht ist das der einzige
Punkt, in dem der Bund dereinst eingreifen muss. In allen anderen Fragen werden
wir in den nächsten Jahren eine Harmonisierung ausweisen.
Eymann: Wir hören die Kritik, aber wir können nicht
viel damit anfangen. Es heisst nicht, dass wir aufhören zu harmonisieren, nur
weil zwei Kantone bezüglich Fremdsprachen ausscheren. Der Sprachkompromiss ist
älter als Harmos, es gibt keinen Grund, ihn über Bord zu werfen. Es gab
diesbezüglich mehrere Vorstösse und Abstimmungen, das Volk hat abgelehnt, daran
zu rütteln. Wenn am Ende des Tages nur diese Differenz zurückbleibt, dann ist
es halt so, ein Schönheitsfehler in einer weitgehend harmonisierten Schullandschaft.
Christian Amsler: Es ist nicht
verwunderlich, dass sich gerade an den Sprachen der Streit entzündet. Sprachen
sind nahe am Herz, da hat jeder eine andere Auffassung. Es ist doch
bemerkenswert, was wir in den letzten Jahren erreicht haben. Die
Mehrsprachigkeit in unserem Land führt zu einer vielsprachigen Situation. Im
Kanton Schaffhausen hat das Kantonsparlament einen Vorstoss an die Regierung
überwiesen, der uns contre cœur zwingt, uns für eine Änderung des Konkordats
einzusetzen. Bei uns will eine Mehrheit des Kantonsrates, dass die Kinder nur
noch eine Fremdsprache lernen müssen. Das zwingt uns in der EDK dazu, die Lage
zu überdenken.
Schauen wir uns die Situation im Kanton Baselland
genauer an. Warum gibt es im Baselland plötzlich so viele Kräfte, die einen
Austritt aus dem Konkordat wünschen?
Amsler: Es kommt uns nicht in den Sinn, einem
Partnerkanton Zensuren zu erteilen. Fakt ist, dass da politische Prozesse
ablaufen. Wir gehen mit dem konstruktiv um, im Rahmen der Zusammenarbeit in der
Schweiz.
Ambühl: Sachlich ist es absurd, einen Austritt zu
fordern. Wenn man sich die Kritikpunkte der Initianten einerseits und die
Regeln des Konkordats andererseits anschaut, dann sieht man: Das passt nicht
zusammen. Das Konkordat bringt ja vor allem eine Strukturveränderung im
Baselland und genau die ist unbestritten. Ein Austritt hätte nicht die
versprochene Wirkung, würde aber ein Werk desavouieren, das gar nicht
bezweifelt wird und auf eine Standesinitiative des Kantons Baselland
zurückgeht.
Das Harmos-Konkordat ist nicht das einzige
Konkordat, das umstritten ist. Auch das Hooligan-Konkordat stösst auf
Widerstand. Ist vielleicht gar nicht der Inhalt Stein des Anstosses, sondern
die Form des Konkordats?
Eymann: Als Bildungsdirektor des Kantons Basel-Stadt
sage ich: Ich teile die Meinung meines Kollegen Amsler, dass es Sache jedes
Kantons ist, die politischen Prozesse auszuüben. Wenn man aber die Beweggründe
anschaut, dann fällt es doch schwer, die Folgerungen nachzuvollziehen. Nicht
jede Kritik, die gegen Harmos angeführt wird, hat mit Harmos zu tun. Deshalb
müssen wir unaufgeregt die Sache diskutieren. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass die Bevölkerung des Kantons Baselland eine Rekantonalisierung der Schule
gutheissen würde.
Amsler: Politisch kann man schon ergänzen, dass die
Form des Konkordats gewisse Abwehrreflexe auslöst. Politisch konservativere
Kreise sind Konkordaten gegenüber eher ablehnend eingestellt. In unserem
kleinräumigen Gefüge braucht es aber Konkordate, um die Zusammenarbeit zwischen
den Kantonen zu formalisieren.
Wo geht die Kritik an Harmos ins Leere?
Ambühl: Es werden etliche pädagogische und
kurrikulare Argumente ins Feld geführt, die mit dem Harmos-Konkordat nichts zu
tun haben. Zum Beispiel die Fächergruppierung, die Stundendotation und der
Stundenplan. Alle Fragen der Benotung und der Bewertung in den Initiativunterlagen
kommen in Harmos nicht vor. Welche Fächer im Übergang von der Primar- zur
Sekundarstufe gezählt werden, regelt das Konkordat nicht. Man sieht daran
übrigens auch den Freiraum, den Harmos noch lässt. Die Eingangsstufe, die
integrative Schule und wie man sie umsetzt, sind nicht Harmos. Wenn die
Baselbieter den Austritt beschliessen würden, dann wäre keines ihrer
vermeintlichen Probleme bearbeitet.
Viel Aufregung löst derzeit der Lehrplan 21 aus.
Was ist der Zusammenhang zwischen Lehrplan 21 und Harmos?
Ambühl: Die formale Schnittstelle ist die, dass das
Harmos-Konkordat sagt: Wir definieren auf gesamtschweizerischer Ebene die Ziele
gemäss Verfassungsauftrag, indem wir Grundkompetenzen festgelegt haben. Die
Programme, die Lerninhalte, den Lehrplan, das alles regeln wir nicht national,
da gibt es viele kulturelle und historisch bedingte Unterschiede zwischen den
Sprachregionen. Das hat dazu geführt, dass alle Sprachregionen gesagt haben,
wir machen je gemeinsam einen Lehrplan.
Müssen die Kantone auf Ebene der Lehrmittel nicht
ohnehin eng zusammenarbeiten?
Ambühl: Das ist so. Wenn mehrere Verlage parallel
Lehrmittel entwickeln würden, kämen sie rasch in Schwierigkeiten.
Amsler: Ich bin auch Präsident der Interkantonalen
Lehrmittelzentrale. Die Erfahrung zeigt: Lehrmittelverlage sind auf eine
Harmonisierung und Koordination angewiesen, weil sonst das Entwickeln eines
Lehrmittels viel zu teuer wäre. Der LP21 ist vereinbar mit Harmos, Harmos und
LP21 sind aber voneinander unabhängig. Die Realität zeigt ja auch, dass alle 21
Kantone dabei sind.
Das Komitee Starke Schule Baselland macht Front
gegen Harmos: Das Konkordat bringe Bildungsabbau und sei ein Übergriff von
Bürokraten.
Amsler: Es ist im Leben immer schwierig, wenn man für
sich die Weisheit pachtet. Das verschärfte und kompromissfreiere Umfeld der
Schule macht mir Sorgen. Solche Gruppierungen haben eine Legitimation, sich mit
Schule auseinanderzusetzen, aber es darf nicht sektiererisch werden.
Ambühl: Vielleicht sollte der Bürokrat beifügen, dass
mit solchen Vorwürfen viele Leute getroffen werden, die nicht gemeint sind:
Lehrerinnen und Lehrer, Fachleute, Forscher, die in gemeinsamem Ringen gute
Lösungen suchen. Die werden so diskreditiert.
Eymann: Ich finde es schwierig, wenn man pauschal
argumentiert. Es gibt die Tendenz, mit Verkürzungen und Vereinfachungen Politik
zu machen. Die Schule darf nicht Spielball dieser polemischen Politik werden.
Jede Gruppierung soll sich äussern dürfen, aber sie sollte dem Grundsatz der
Aufklärung folgen, der Kraft des Arguments. «Harmos ist gescheitert» ist eine
sehr kühne Behauptung. Wenn man genau hinschaut, ist das Gegenteil wahr.
Nicht nur Organisationen wie die «Starke Schule
Baselland» wehren sich, auch die Lehrerorganisationen und -gewerkschaften
nutzen die Gunst der Stunde.
Eymann: Zuerst einmal habe ich grosse Achtung vor dem
Beruf des Lehrers in der heutigen Zeit. Das Berufsbild hat sich in den letzten
20 Jahren massiv verändert. Die Schule ist für das Volk da und hat den Auftrag,
die Jugend auf das Leben vorzubereiten. Ein Segment ist die Berufstauglichkeit.
Da haben wir heute eine internationale Konkurrenz. Es findet eine starke
Individualisierung und Spezialisierung statt. Diesen Aufträgen müssen wir gerecht
werden. Das führt dazu, dass die Halbwertszeit der Regelungen kürzer wird, und
es verlangt von allen eine gewisse Flexibilität. In Basel-Stadt hatten wir
zudem ein exotischeres System, deshalb ist da der Anpassungsdruck grösser. Wir
dürfen dabei aber nicht vergessen, dass die Schweizer Schulen gut unterwegs
sind. Wir haben in unserem Land überdurchschnittlich gute Wissenschaft und
Forschung im Bildungsbereich. Dieses Wissen haben wir abgerufen und bei den
Reformen mit einbezogen.
Amsler: Ich glaube, wir sind uns alle einig:
Lehrerinnen und Lehrer sind die Schlüsselpersonen für das Gelingen der Schule.
Wir haben alles Interesse daran, dass es den Lehrerinnen und Lehrern gut geht.
Wir brauchen wieder ein Grundvertrauen in unsere Lehrer, wir müssen sie in Ruhe
ihren Job machen lassen. Unsere Lehrer haben gute Rahmenbedingungen.
Lohnforderungen sind in allen Berufsgattungen immer auf dem Tisch, es täte aber
der Situation gut, wenn die Politik die Lehrer ihre wichtige Arbeit in Ruhe
machen liesse.
Ambühl: Der neue Bildungsbericht gibt Hinweise
darauf, dass unsere Lehrer eine gute Bildung in didaktischer Hinsicht
aufweisen. Das sind positive Faktoren, die wir stützen sollten.
Was sind denn die Gelingensbedingungen von Schule?
Amsler: Früher gab es ein funktionierendes Dreieck
Eltern-Schule-Kind. Heute liegt der Gang zur Rekursinstanz oft näher. Wichtig
ist doch, dass wir die richtigen Lösungen für das Wohl des Kindes finden. Es
kann nicht sein, dass die wesentlichen Elemente der Gelingensbedingungen für
Schule nicht funktionieren. Deshalb ist eine enge Zusammenarbeit von Schule und
Öffentlichkeit/Eltern wichtig. Bei allem, was man an der Schule herumkrittelt,
muss man sich immer bewusst sein: Am Ende geht es ums Kind.
Eymann: Es hat beim ersten Pisa-Schock massenhaft
Pilgerreisen nach Finnland gegeben. Die Devise war: Machen wir es wie die
Finnen. Danach kam es etwas von der emotionalen Ebene weg. Man hat geprüft, ob
ein integratives Schulsystem oder ein segregiertes Schulsystem besser ist. Das
Resultat: Es gibt keinen Unterschied. Was man aber herausgefunden hat: In den
Ländern, die vorne dabei sind, war die Wertschätzung der Lehrer hoch. Da wird
nicht ständig an der Schule herumgemäkelt. Vertrauen kann man nicht verordnen,
man kann es nur vorleben. Wir müssen damit aufhören, die Lehrer als
Ferientechniker zu karikieren. Wir destabilisieren die Schule, wenn in gewissen
Volkskreisen und in gewissen Medien die Schule immer wieder in den Dreck
gezogen wird. Dieser Softfaktor ist sehr entscheidend.
Ambühl: Man weiss aus vielen Studien, dass die Eltern
mit den Lehrern der eigenen Kinder sehr zufrieden sind. Das kontrastiert mit
der allgemeinen Problematisiererei. Die Zufriedenheit der Eltern ist hoch.
Eigentlich können wir stolz sein auf unsere Schule. Und der Kanton Baselland
kann stolz sein darauf, dass seine Standesinitiative Eingang in die
Bundesverfassung gefunden hat. Es ist nämlich eine sehr kluge Initiative.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen