17. August 2014

"Die Kritik an der Schule geht ins Leere"

Die Spitzen der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren wehren sich gegen Angriffe auf die Schulharmonisierung und den Lehrplan 21. Christoph Eymann, Christian Amsler und Hans Ambühl äussern sich.


Wo hört die Harmonisierung auf und wird zur Gängelung? Bild: Chris Iseli

Harmos und Lehrplan 21: "Die Kritik an der Schule geht ins Leere", Aargauer Zeitung, 16.8. von Matthias Zehnder


In der Bundesverfassung steht im ersten Absatz von Artikel 62 klipp und klar: «Für das Schulwesen sind die Kantone zuständig.» Dann folgen in zwei Absätzen die Bedingungen, welche die Kantone erfüllen müssen. So haben die Kantone für einen «ausreichenden Grundschulunterricht» zu sorgen, «der allen Kindern offen steht».
Seit der Volksabstimmung vom 21. Mai 2006 folgten drei weitere Absätze. Zunächst heisst es da: «Kommt auf dem Koordinationsweg keine Harmonisierung des Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren Übergängen sowie der Anerkennung von Abschlüssen zustande, so erlässt der Bund die notwendigen Vorschriften.» Zudem regelt der Bund den Beginn des Schuljahres.
Die Abstimmung am 21. Mai 2006 brachte eine überwältigende Ja-Mehrheit von 85,6 Prozent zugunsten der Schulharmonisierung in der Schweiz. Im Kanton Baselland betrug der Ja-Anteil sogar 91 Prozent. Das ist kein Wunder, geht doch der entsprechende Artikel in der Bundesverfassung auf eine Standesinitiative des Kantons Basel-Landschaft zur Koordination der kantonalen Bildungssysteme vom 22. Januar 2002 zurück. Einzelne Bestimmungen stammen sogar wörtlich aus der Standesinitiative.
Die Bundesverfassung nimmt die Kantone in die Pflicht: Entweder harmonisieren sie die Schule, oder der Bund greift ein. Die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) der Kantone hat deshalb eine «Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule», kurz Harmos, geschlossen. Dieses neue, schweizerische Schulkonkordat ist am 1. August 2009 in Kraft getreten. Das Konkordat harmonisiert erstmals national die Dauer und die wichtigsten Ziele der Bildungsstufen sowie deren Übergänge.
Gegen dieses Harmos-Konkordat wächst in den Kantonen zunehmend Widerstand. Am lautesten formiert sich der Widerstand ausgerechnet im Kanton Baselland, der die Schulharmonisierung in der Schweiz angestossen hat: Eine Initiative fordert, dass der Kanton aus dem Harmos-Konkordat austritt.
Wäre ein Austritt ein Schaden? Die Bundesverfassung ist eindeutig: Schaffen es die Kantone nicht selbst, harmonisiert der Bund?
Christoph Eymann: Das gilt es zu vermeiden. Wir haben den Auftrag, gemeinsam Lösungen zu finden über die Kantonsgrenzen hinweg. Die Bildung ist eine Urdomäne der Kantone. Schon dieser Artikel war ein Schuss vor den Bug, wir wollen nicht warten, bis wir einen Treffer einstecken.
Hans Ambühl: Wir haben nicht in erster Linie Probleme, sondern weitgehend Lösungen. Das gab es noch nie, dass im Schweizer Schulsystem eine so weitgehende Harmonisierung im Gang ist. Die Ziele und die Dauer der Schulstufen sind harmonisiert. Ab 2016/17 wird schweizweit das Erreichen von Grundkompetenzen überprüft. Die Schulstrukturen werden harmonisiert sein.
Das scheint mir doch etwas zu schön gefärbt. Was ist mit der Fremdsprache? Da besteht doch alles andere als eine harmonisierte Situation?
Ambühl: Ich insistiere: Es ist weitestgehend geschafft. Einzig bezüglich Fremdsprachenunterricht regt sich nun in einzelnen Deutschschweizer Kantonen Widerstand gegen die Lösung des Konkordats. Vielleicht ist das der einzige Punkt, in dem der Bund dereinst eingreifen muss. In allen anderen Fragen werden wir in den nächsten Jahren eine Harmonisierung ausweisen.
Eymann: Wir hören die Kritik, aber wir können nicht viel damit anfangen. Es heisst nicht, dass wir aufhören zu harmonisieren, nur weil zwei Kantone bezüglich Fremdsprachen ausscheren. Der Sprachkompromiss ist älter als Harmos, es gibt keinen Grund, ihn über Bord zu werfen. Es gab diesbezüglich mehrere Vorstösse und Abstimmungen, das Volk hat abgelehnt, daran zu rütteln. Wenn am Ende des Tages nur diese Differenz zurückbleibt, dann ist es halt so, ein Schönheitsfehler in einer weitgehend harmonisierten Schullandschaft.
Christian Amsler: Es ist nicht verwunderlich, dass sich gerade an den Sprachen der Streit entzündet. Sprachen sind nahe am Herz, da hat jeder eine andere Auffassung. Es ist doch bemerkenswert, was wir in den letzten Jahren erreicht haben. Die Mehrsprachigkeit in unserem Land führt zu einer vielsprachigen Situation. Im Kanton Schaffhausen hat das Kantonsparlament einen Vorstoss an die Regierung überwiesen, der uns contre cœur zwingt, uns für eine Änderung des Konkordats einzusetzen. Bei uns will eine Mehrheit des Kantonsrates, dass die Kinder nur noch eine Fremdsprache lernen müssen. Das zwingt uns in der EDK dazu, die Lage zu überdenken.
Schauen wir uns die Situation im Kanton Baselland genauer an. Warum gibt es im Baselland plötzlich so viele Kräfte, die einen Austritt aus dem Konkordat wünschen?
Amsler: Es kommt uns nicht in den Sinn, einem Partnerkanton Zensuren zu erteilen. Fakt ist, dass da politische Prozesse ablaufen. Wir gehen mit dem konstruktiv um, im Rahmen der Zusammenarbeit in der Schweiz.
Ambühl: Sachlich ist es absurd, einen Austritt zu fordern. Wenn man sich die Kritikpunkte der Initianten einerseits und die Regeln des Konkordats andererseits anschaut, dann sieht man: Das passt nicht zusammen. Das Konkordat bringt ja vor allem eine Strukturveränderung im Baselland und genau die ist unbestritten. Ein Austritt hätte nicht die versprochene Wirkung, würde aber ein Werk desavouieren, das gar nicht bezweifelt wird und auf eine Standesinitiative des Kantons Baselland zurückgeht.
Das Harmos-Konkordat ist nicht das einzige Konkordat, das umstritten ist. Auch das Hooligan-Konkordat stösst auf Widerstand. Ist vielleicht gar nicht der Inhalt Stein des Anstosses, sondern die Form des Konkordats?
Eymann: Als Bildungsdirektor des Kantons Basel-Stadt sage ich: Ich teile die Meinung meines Kollegen Amsler, dass es Sache jedes Kantons ist, die politischen Prozesse auszuüben. Wenn man aber die Beweggründe anschaut, dann fällt es doch schwer, die Folgerungen nachzuvollziehen. Nicht jede Kritik, die gegen Harmos angeführt wird, hat mit Harmos zu tun. Deshalb müssen wir unaufgeregt die Sache diskutieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Bevölkerung des Kantons Baselland eine Rekantonalisierung der Schule gutheissen würde.
Amsler: Politisch kann man schon ergänzen, dass die Form des Konkordats gewisse Abwehrreflexe auslöst. Politisch konservativere Kreise sind Konkordaten gegenüber eher ablehnend eingestellt. In unserem kleinräumigen Gefüge braucht es aber Konkordate, um die Zusammenarbeit zwischen den Kantonen zu formalisieren.
Wo geht die Kritik an Harmos ins Leere?
Ambühl: Es werden etliche pädagogische und kurrikulare Argumente ins Feld geführt, die mit dem Harmos-Konkordat nichts zu tun haben. Zum Beispiel die Fächergruppierung, die Stundendotation und der Stundenplan. Alle Fragen der Benotung und der Bewertung in den Initiativunterlagen kommen in Harmos nicht vor. Welche Fächer im Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe gezählt werden, regelt das Konkordat nicht. Man sieht daran übrigens auch den Freiraum, den Harmos noch lässt. Die Eingangsstufe, die integrative Schule und wie man sie umsetzt, sind nicht Harmos. Wenn die Baselbieter den Austritt beschliessen würden, dann wäre keines ihrer vermeintlichen Probleme bearbeitet.
Viel Aufregung löst derzeit der Lehrplan 21 aus. Was ist der Zusammenhang zwischen Lehrplan 21 und Harmos?
Ambühl: Die formale Schnittstelle ist die, dass das Harmos-Konkordat sagt: Wir definieren auf gesamtschweizerischer Ebene die Ziele gemäss Verfassungsauftrag, indem wir Grundkompetenzen festgelegt haben. Die Programme, die Lerninhalte, den Lehrplan, das alles regeln wir nicht national, da gibt es viele kulturelle und historisch bedingte Unterschiede zwischen den Sprachregionen. Das hat dazu geführt, dass alle Sprachregionen gesagt haben, wir machen je gemeinsam einen Lehrplan.
Müssen die Kantone auf Ebene der Lehrmittel nicht ohnehin eng zusammenarbeiten?
Ambühl: Das ist so. Wenn mehrere Verlage parallel Lehrmittel entwickeln würden, kämen sie rasch in Schwierigkeiten.
Amsler: Ich bin auch Präsident der Interkantonalen Lehrmittelzentrale. Die Erfahrung zeigt: Lehrmittelverlage sind auf eine Harmonisierung und Koordination angewiesen, weil sonst das Entwickeln eines Lehrmittels viel zu teuer wäre. Der LP21 ist vereinbar mit Harmos, Harmos und LP21 sind aber voneinander unabhängig. Die Realität zeigt ja auch, dass alle 21 Kantone dabei sind.
Das Komitee Starke Schule Baselland macht Front gegen Harmos: Das Konkordat bringe Bildungsabbau und sei ein Übergriff von Bürokraten.
Amsler: Es ist im Leben immer schwierig, wenn man für sich die Weisheit pachtet. Das verschärfte und kompromissfreiere Umfeld der Schule macht mir Sorgen. Solche Gruppierungen haben eine Legitimation, sich mit Schule auseinanderzusetzen, aber es darf nicht sektiererisch werden.
Ambühl: Vielleicht sollte der Bürokrat beifügen, dass mit solchen Vorwürfen viele Leute getroffen werden, die nicht gemeint sind: Lehrerinnen und Lehrer, Fachleute, Forscher, die in gemeinsamem Ringen gute Lösungen suchen. Die werden so diskreditiert.
Eymann: Ich finde es schwierig, wenn man pauschal argumentiert. Es gibt die Tendenz, mit Verkürzungen und Vereinfachungen Politik zu machen. Die Schule darf nicht Spielball dieser polemischen Politik werden. Jede Gruppierung soll sich äussern dürfen, aber sie sollte dem Grundsatz der Aufklärung folgen, der Kraft des Arguments. «Harmos ist gescheitert» ist eine sehr kühne Behauptung. Wenn man genau hinschaut, ist das Gegenteil wahr.
Nicht nur Organisationen wie die «Starke Schule Baselland» wehren sich, auch die Lehrerorganisationen und -gewerkschaften nutzen die Gunst der Stunde.
Eymann: Zuerst einmal habe ich grosse Achtung vor dem Beruf des Lehrers in der heutigen Zeit. Das Berufsbild hat sich in den letzten 20 Jahren massiv verändert. Die Schule ist für das Volk da und hat den Auftrag, die Jugend auf das Leben vorzubereiten. Ein Segment ist die Berufstauglichkeit. Da haben wir heute eine internationale Konkurrenz. Es findet eine starke Individualisierung und Spezialisierung statt. Diesen Aufträgen müssen wir gerecht werden. Das führt dazu, dass die Halbwertszeit der Regelungen kürzer wird, und es verlangt von allen eine gewisse Flexibilität. In Basel-Stadt hatten wir zudem ein exotischeres System, deshalb ist da der Anpassungsdruck grösser. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass die Schweizer Schulen gut unterwegs sind. Wir haben in unserem Land überdurchschnittlich gute Wissenschaft und Forschung im Bildungsbereich. Dieses Wissen haben wir abgerufen und bei den Reformen mit einbezogen.
Amsler: Ich glaube, wir sind uns alle einig: Lehrerinnen und Lehrer sind die Schlüsselpersonen für das Gelingen der Schule. Wir haben alles Interesse daran, dass es den Lehrerinnen und Lehrern gut geht. Wir brauchen wieder ein Grundvertrauen in unsere Lehrer, wir müssen sie in Ruhe ihren Job machen lassen. Unsere Lehrer haben gute Rahmenbedingungen. Lohnforderungen sind in allen Berufsgattungen immer auf dem Tisch, es täte aber der Situation gut, wenn die Politik die Lehrer ihre wichtige Arbeit in Ruhe machen liesse.
Ambühl: Der neue Bildungsbericht gibt Hinweise darauf, dass unsere Lehrer eine gute Bildung in didaktischer Hinsicht aufweisen. Das sind positive Faktoren, die wir stützen sollten.
Was sind denn die Gelingensbedingungen von Schule?
Amsler: Früher gab es ein funktionierendes Dreieck Eltern-Schule-Kind. Heute liegt der Gang zur Rekursinstanz oft näher. Wichtig ist doch, dass wir die richtigen Lösungen für das Wohl des Kindes finden. Es kann nicht sein, dass die wesentlichen Elemente der Gelingensbedingungen für Schule nicht funktionieren. Deshalb ist eine enge Zusammenarbeit von Schule und Öffentlichkeit/Eltern wichtig. Bei allem, was man an der Schule herumkrittelt, muss man sich immer bewusst sein: Am Ende geht es ums Kind.
Eymann: Es hat beim ersten Pisa-Schock massenhaft Pilgerreisen nach Finnland gegeben. Die Devise war: Machen wir es wie die Finnen. Danach kam es etwas von der emotionalen Ebene weg. Man hat geprüft, ob ein integratives Schulsystem oder ein segregiertes Schulsystem besser ist. Das Resultat: Es gibt keinen Unterschied. Was man aber herausgefunden hat: In den Ländern, die vorne dabei sind, war die Wertschätzung der Lehrer hoch. Da wird nicht ständig an der Schule herumgemäkelt. Vertrauen kann man nicht verordnen, man kann es nur vorleben. Wir müssen damit aufhören, die Lehrer als Ferientechniker zu karikieren. Wir destabilisieren die Schule, wenn in gewissen Volkskreisen und in gewissen Medien die Schule immer wieder in den Dreck gezogen wird. Dieser Softfaktor ist sehr entscheidend.
Ambühl: Man weiss aus vielen Studien, dass die Eltern mit den Lehrern der eigenen Kinder sehr zufrieden sind. Das kontrastiert mit der allgemeinen Problematisiererei. Die Zufriedenheit der Eltern ist hoch. Eigentlich können wir stolz sein auf unsere Schule. Und der Kanton Baselland kann stolz sein darauf, dass seine Standesinitiative Eingang in die Bundesverfassung gefunden hat. Es ist nämlich eine sehr kluge Initiative.


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