22. August 2014

Berset: Zusammenleben würde unberechenbar

Bundesrat Alain Berset versteigt sich in immer kühnere Konstrukte, wenn es darum geht, das Französische in der Primarschule zu halten. Obwohl es in der Bundesverfassung und im vielzitierten Sprachengesetz keine Grundlage für ein Eingreifen des Bundes gibt, obwohl im Bildungsartikel nichts von Primarfranzösisch steht und obwohl der Kanton Thurgau Harmos an der Urne verworfen hat, macht Berset weiter mit seinen Drohungen. Zur Erinnerung: Frühfranzösisch wurde nicht als identitätsstiftende Massnahme zur Förderung des nationalen Zusammenhalts eingeführt, sondern unter der Prämisse, dass es sich jünger besser und schneller lernen lasse. Doch diese These ist längst durch einen breit abgestützten wissenschaftlichen Konsens widerlegt und auch von der Praxis als Irrweg entlarvt worden. (uk)
 


Wandelt auf Irrwegen: Alain Berset (SP), Bild: Goran Basic

Frühfranzösisch - eine Frage des föderalistischen Zusammenhalts, NZZ, 22.8. von Claudia Schoch



Der Thurgau und andere Kantone wollen das Frühfranzösisch in der Primarschule abschaffen. Weshalb reagiert die Romandie so empfindlich darauf?
Bundesrat Berset: Wir leben in einem vielfältigen, viersprachigen Land. Die Romandie gehört dazu wie die Deutschschweiz und das Tessin. Wir brauchen den gegenseitigen Zugang zur Kultur des andern, den kulturellen Austausch, das gemeinsame Identitätsverständnis. Unser Land besteht nicht aus einem Puzzle von drei Teilen, die ohne Kontakte nebeneinander leben. Die Sprachenfrage ist deshalb so wichtig, weil es um die schweizerische Identität geht.
Warum aber fordern Sie Französisch auf der Primarschulstufe?
Das ist weder nur eine politische noch eine rein pädagogische Frage. Es geht darum, inwieweit wir bereit sind, für das gegenseitige Verständnis in die Schule zu investieren. Wie viel ist uns die Identitätsfrage und somit die mit ihr verbundene zweite Landessprache wert? Sei es Italienisch, Französisch oder Deutsch.
Es würde doch genügen, wenn am Ende der obligatorischen Schulpflicht jeder ausreichend Französisch gelernt hat?
Das ist genau das Ziel. Die Kantone haben sich vor einigen Jahren nach langem Ringen auf den Kompromiss verständigt, dass dazu in der Primarschule mit dem Unterricht begonnen werden soll. Ich habe volles Vertrauen in die Kantone, dass sie den Kompromiss umsetzen. Warum soll dieser nicht mehr gelten?
Sie haben angekündigt, dass Sie sich allenfalls über das Sprachengesetz einmischen werden. Die Volksschule ist jedoch Sache der Kantone. Wollen Sie in das föderalistische Prinzip einbrechen?
Das Volksschulwesen ist ein wichtiger Teil der föderalistischen Idee der Schweiz. Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten haben aber auch die Kantone eine Verantwortung gegenüber der Schweiz als Ganzes. Sonst funktioniert der Föderalismus nicht.
Wie sieht diese Verantwortung aus?
Die Kantone haben ihre Verantwortung wahrgenommen, als sie die Debatte über den Sprachunterricht geführt und den Kompromiss sodann akzeptiert haben, wonach eine zweite Landessprache in der Primarschule zu unterrichten sei.
Dürfen die einzelnen Kantone nun nicht mehr davon abweichen?
Föderalismus heisst nicht einfach: Jeder macht auf seinem Gebiet, was er will, egal, was dies für die Schweiz bedeutet. Jeder Kanton muss auch ein Auge auf das ganze Land werfen. Jeder ist ein wichtiger Teil der Schweiz und hat für den Zusammenhalt Sorge zu tragen.
Heisst das, wenn die Kantone jeweils Lösungen nicht so treffen, wie es sich der Bund vorstellt, schreitet dieser ein?
Nein, das bestimmt nicht. In der Sprachenfrage gilt es abzuwarten, welche Bilanz die Kantone im nächsten Jahr ziehen werden. In dieser Frage gibt es eine klare Verfassungsordnung, die Volk und Stände - nicht ich - entschieden haben. Der Bundesrat ist neben anderen Hüter der Verfassung. Auch der Bund tut nicht einfach, was er will; auch er ist an die Verfassung gebunden.
Ist das Abweichen einzelner Kantone tatsächlich so gravierend?
Wenn wir in der Schweiz, für deren politische Kultur Kompromisse zentral sind, beginnen, diese beliebig zu missachten, wird das Zusammenleben unberechenbar. Das dürfen wir nicht zulassen.

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