21. August 2014

Überholte Theorien sollen Frühfremdsprachen retten

Der Thurgauer Entscheid, Französisch erst ab der 7. Klasse zu unterrichten, ist die konsequente Zurückweisung eines gescheiterten Unterricht­konzepts – kein Votum gegen die Landessprache Französisch. Und sicher steht dahinter auch keine Verschwörung konservativer Kreise, um eine monokulturelle Schweiz zu erzwingen. Die dahingehenden Vermutungen von SP-Nationalrat Roger Nordmann sind absurd.

Hanspeter Amstutz war Primar- und Sekundarlehrer sowie Zürcher Kantons- und Bildungsrat der EVP, Bild: Tages Anzeiger
Dieser Unterricht überfordert viele, Tages Anzeiger, 20.8. von Hanspeter Amstutz

Fakt ist: Der Thurgauer Grossrat trägt den pädagogischen Fakten endlich Rechnung. Das frühe Erlernen zweier Fremdsprachen hat einen riesigen Aufwand verursacht und wenig gebracht. Zwar gibt es begabte Kinder, welche die hohen Erwartungen an die neue Vielsprachigkeit erfüllen. Einige würden wahrscheinlich auch noch Chinesisch lernen, wenn es auf dem Stundenplan stünde.
Diese Sprachtalente werden gern zitiert, wenn es um das Vorweisen von Resultaten geht. Aber mehr als die Hälfte der Primarschülerinnen und -schüler leidet unter dem Anforderungsdruck und schafft es kaum, in beiden Sprachen auf einen grünen Zweig zu kommen. Das verunsichert viele. Eine weitere Folge: Weil so viel Mühe und Zeit in den Sprachunterricht investiert werden, rücken andere wichtige Fächer in den Hintergrund.
Fragwürdige Doktrin
Mit pädagogisch längst überholten Theorien versuchen dieBildungspolitiker das Unterrichtskonzept mit Frühfranzösisch und -englisch zu retten. Neue Studien und eindeutige Rückmeldungen aus der Schulpraxis werden negiert. Eine Umfrage unter Ostschweizer Mittel­stufenlehrern zum Beispiel lässt wenig Hoffnung auf bessere Rahmenbedingungen. Auf einen Halbklassenunterricht wie in Intensiv­-Sprachkursen und auf sensationell bessere Lehrmittel warten wir wohl vergebens. Die Chance wurde verpasst, ein flexibles System zu erproben, das die Wahl zwischen zweiter Fremdsprache und einem andern Fach wie Werken lässt. An der fragwürdigen Doktrin, dass das frühe Erlernen einer zweiten Fremdsprache für alle Schüler lebenswichtig sei, wird eisern festgehalten.
Welche Ziele sind im Sprachunterricht realistisch? Die Erwartungen bisher sind überrissen. Zwei Fremdsprachen werden in der Regel nur bei hoher Lektionenzahl erfolgreich erlernt. Das wäre nur auf Kosten anderer Fächer möglich und entwicklungspsychologisch betrachtet nicht zu begrüssen: In der Mittelstufe sind die Kinder für anschauliche Themen aus dem Realienbereich weit offen. Wenn man sie da abholt, lernen die meisten mehr als bei einer Überfülle fremdsprachlicher Anforderungen.
Die Frage sei erlaubt, ob all die Millionen richtig eingesetzt sind, die heute in fremdsprachlichen Stützunterricht, eine wahre Sisyphusarbeit, fliessen. Vielen Kindern brächte es mehr, in einem naturkundlichen oder technischen Fach mit entsprechenden Aufgabenstellungen richtig gefördert zu werden, als die Namen von Fröschen und Kaulquappen auf Englisch lernen zu müssen.
Die Reuss als Trennungslinie
Zurzeit ist die Sprachendiskussion auf die Frage der ersten Fremdsprache an der Primarschule fokussiert. Zahlreiche Umfrageergebnisse inner- und ausserhalb der Lehrerschaft zeigen: Östlich der Reuss wird Englisch gegenüber Französisch bevorzugt, westlich des Flusses sieht es umgekehrt aus. Berner Lehrer werfen dem Kanton Zürich durchaus zu Recht vor, den gegenwärtigen Konflikt mit seinem Vorpreschen in Sachen Englisch provoziert zu haben. Die Situation ist vertrackt: Zürich und einige Ostschweizer Kantone haben so viel in die Englisch-Ausbildung ihrer Lehrkräfte investiert, dass ein Zurück kaum mehr infrage kommt.
Ein Umdenken ist in der Sprachenfrage nötig. Es braucht den Mut, die zweite Fremdsprache aus der Primarschule zu kippen und für die erste Fremdsprache mehr Lektionen einzusetzen. Ist es wirklich so schlimm, wenn Berner und Zürcher nicht mit der gleichen Fremdsprache beginnen, sofern gleichwertige Ziele für Englisch und Französisch am Ende der Schulzeit gelten? Es braucht eine praxisbezogene Lösung. Nur so kann verhindert werden, dass die Schüler zum Spielball eines hochstilisierten Kulturkampfs werden.

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