18. August 2014

Angebot schafft Nachfrage

Die Förderung der integrierten Sonderschulung hat dazu geführt, dass die Zahl der Sonderschüler massiv angestiegen ist und die Kosten explodiert sind. Dagegen will der Kanton Zürich nun Massnahmen ergreifen, so ist beispielsweise ein standardisiertes Abklärungsverfahren geplant.







Angebot schafft Nachfrage, NZZ, 18.8. von Jan Hudec



Den Volketswilern geht es wie so vielen Schulgemeinden im Kanton: Die Kosten im Sonderschulbereich sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. «Das Verhältnis der Ausgaben pro Sonderschüler und derjenigen pro Nicht-Sonderschüler ist aus dem Lot geraten», sagt Michael Anders, Leiter Bildung der Schulgemeinde Volketswil. 4,6 Prozent beträgt ihre Sonderschulquote. Bei fast jedem 20. Schüler in Volketswil wird heute also eine geistige Behinderung, eine Verhaltens- oder Lernschwierigkeit diagnostiziert. Die damit verbundene finanzielle Last für die Gemeinde ist enorm: Von einem Schulbudget von knapp 40 Millionen Franken investierte Volketswil im vergangenen Jahr 7,4 Millionen für 94 Sonderschüler, gleich viel wie für 480 Sekundarschüler.
Fast dreimal so hohe Kosten
Volketswil ist kein exotischer Einzelfall. Der massive Anstieg der Sonderschulquote ist im ganzen Kanton zu beobachten: Lag sie 1999 noch bei 1,7 Prozent, stieg sie bis 2012 auf über 3,7 Prozent an. Entsprechend zugenommen haben auch die Kosten für sonderschulische Massnahmen von knapp 140 Millionen Franken im Jahr 1999 auf rund 380 Millionen im Jahr 2012. Dabei hatte man sich in der Bildungsdirektion erhofft, dass sich die Zahlen anders entwickeln würden.
Mit der Umsetzung des neuen Volksschulgesetzes ab 2007 wurde die Integration allgemein und speziell die integrierte Sonderschulung stark gefördert. Damit sollten Sonderschüler in der Regelklasse bleiben können, statt separat an einer Sonderschule oder in einer Kleinklasse unterrichtet zu werden. Die Förderung der Integration hat tatsächlich gefruchtet, insofern als die Quote der integrierten Sonderschüler sich mehr als verfünffacht hat von 0,3 Prozent 2008 auf 1,6 Prozent 2012. Wenn nun also sehr viel mehr Sonderschüler in der Regelklasse bleiben können, müsste eigentlich die Zahl der externen Sonderschüler deutlich abnehmen, würde man meinen. Doch genau das ist nicht passiert. Stattdessen hat sich ihre Zahl einfach auf hohem Niveau stabilisiert. Die Förderung der integrierten Sonderschulung hat unter dem Strich also dazu geführt, dass heute bei Schülern deutlich häufiger geistige Behinderungen oder Verhaltens- und Lernschwierigkeiten diagnostiziert werden. Die neuesten Zahlen der Bildungsdirektion für 2013 zeigen immerhin, dass sich die Quote der Sonderschüler nun zu stabilisieren scheint. Die Zahlen für 2014 werden erst im Herbst verfügbar sein.
Druck auf Schulen gestiegen
Warum aber hat die Förderung der Integration nicht geholfen, die Zahl der externen Sonderschüler zu verringern? «Das ist auch für uns nur schwierig zu erklären, da die Zuteilung zur Sonderschulung bei den Schulgemeinden liegt», sagt Urs Meier, stellvertretender Amtschef beim Volksschulamt. Fakt ist, dass das neue Angebot offensichtlich eine zusätzliche Nachfrage geschaffen hat. Die Gründe dafür seien vielfältig, sagt Meier. Unter anderem wegen diverser Neuerungen sei der Druck auf die Schule gestiegen. So wurden beispielsweise Kleinklassen in die Regelklassen integriert. Zwischen 1999 und 2012 sank die Zahl der Schüler, die eine Kleinklasse besuchen, von rund 6000 auf 600. Für einige Lehrer sei die Belastung zu gross geworden, sagt Meier, man tendiere eher dazu, Schüler einmal abklären zu lassen in der Hoffnung auf Unterstützung. Eine andere Hypothese sei, dass gesellschaftliche Strömungen die Sonderschulquote beeinflussten, so sei auch im Gesundheits- und Sozialwesen der Trend zu beobachten, dass Supportangebote intensiver genutzt würden. Und schliesslich liessen neue Erfassungsmethoden und neue Diagnosestellungen die Quote ebenfalls ansteigen. Wenn man in Volketswil nachfragt, sagt Michael Anders: «Man will integrieren, stigmatisiert aber weiterhin. Das muss aufhören.» Sicherlich brauche ein erfolgreicher Umgang mit Heterogenität auch Ressourcen, die aber stärker ins System investiert werden sollen und nicht in den Einzelfall.
Kanton ergreift Massnahmen
Die Kostenexplosion hat bei Kanton und Gemeinden mittlerweile zu einem Umdenken geführt. Im vergangenen Jahr hat die Bildungsdirektion eine Reihe von Massnahmen ergriffen, mit denen die Quote der Sonderschüler gesenkt oder zumindest stabilisiert werden sollte. Die ersten Erfahrungen damit seien durchaus positiv, konstatiert Urs Meier. Zu den Massnahmen gehören unter anderem ein Gemeinde-Monitoring sowie ein standardisiertes Abklärungsverfahren. Das Monitoring werde von den Gemeinden rege genutzt, insbesondere von jenen, deren Sonderschulquote über dem kantonalen Schnitt liege. Dabei analysieren die Gemeinden mithilfe des Volksschulamts, worin die Gründe für die hohe Quote liegen. Die bisherigen Gespräche hätten unter anderem gezeigt, dass die Zuweisung der Schüler sehr unterschiedlich gehandhabt werde, so Meier. Das standardisierte Abklärungsverfahren soll hier Abhilfe schaffen.
In Volketswil beispielsweise hat man als Reaktion auf die steigenden Kosten die Lektionenzahl der integrierten Sonderschulung eingefroren und wird sie in einem nächsten Schritt um einen Drittel reduzieren. Das Ziel sei es, damit noch stärker nach Synergiemöglichkeiten zu suchen, sagt Anders. So sollen Schüler mit ähnlichen Problemen zu Kleingruppen zusammengefasst werden. Gleichzeitig sollen Lehrer vermehrt im Umgang mit Heterogenität geschult werden, um die Integrationsfähigkeit der einzelnen Schulen zu verbessern.
Im vergangenen Jahr gab der Kantonsrat der Bildungsdirektion ausserdem den Auftrag, eine Versorgungsplanung auszuarbeiten, die man sich ähnlich vorstellen kann wie die Spitalplanung im medizinischen Bereich. Sie soll dazu dienen, das Angebot der separativen Sonderschulung gezielter zu steuern.
Die nächsten Jahre werden zeigen, ob mit diesen Massnahmen die Sonderschulquote und damit auch die finanzielle Belastung effektiv gesenkt werden kann. Bestehende Angebote zu reduzieren, ist bekanntlich aber schwieriger, als neue zu schaffen.



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