4. Juli 2014

"Wer Therapie sät, wird Fälle ernten"

Dunkel türmen sich die Wolken über dem Bielersee, Donner grollt, der Leuchtturm blinkt. «In meinem Herzen bin ich immer noch ein Linker», sagt Alain Pichard, Sohn eines Hochseekapitäns und Enfant terrible der Linken. Er beugt sich über ein Stück Papier und klopft mit dem Finger darauf: «Herr Präsident», steht darauf, und «Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen». Es ist ein Referat, in dem der Lehrer der Sekundarstufe 1 den Finger auf Wunden im Bildungssystem legt und mit eleganten Formulierungen und ­träfen Anekdoten die Probleme beim Namen nennt. «In der Bildungspolitik haben die Schaltzentralen der Bildungsbürokratie das Zepter übernommen», sagt Pichard. «Die Bildungsbürokratie schätzt die Lehrer zwar als Erfüllungsgehilfen. Gleichzeitig spricht man uns aber jede Kompetenz ab, uns zu schulpolitischen Fragen zu äussern.»






Alain Pichard. "Wenn etwas falsch läuft, so muss man es benennen", Bild: Franziska Laur


"Wer Therapie sät, wird Fälle ernten", Basler Zeitung, 4.7. von Franziska Laur



Pichard, das ist spröder Charme, ­ungebändigte Frisur, Bauchansatz, zerknittertes weisses Hemd. 59 Jahre alt ist er und noch lang nicht müde. Er lanciert Petitionen, stellt eine Widerstandsgruppe gegen den Lehrplan 21 auf die Beine, schreibt scharfe Artikel und Leserbriefe gegen die Bildungsverantwortlichen. An diesem Sommertag sitzt der sechsfache Vater auf dem Balkon, blickt auf die Blitze, lauscht dem Donnergrollen und schaut über den Garten und den nahen See. «Eigentlich habe ich ja ein schlechtes Gewissen, hier zu wohnen», sagt er. Es sei fast etwas zu schick für ihn, sagt er. Doch es habe sich so ergeben. Seine Frau und er konnten das Haus der Schwiegereltern übernehmen und Wohnungen ein­bauen.
Marx und Engels als Lektüre
Der Basler, der einst Marx und ­Engels las, PDA-Mitglied war und die VPOD-Lehrergruppe Biel mitgegründet hat, sagt: «Die Geschichte der grossen Reformen ist gescheit, aber gescheitert.» Er glaubt nicht mehr, dass Schüler vom angestrebten Schulsystem mit Integra­tion und Lernplan 21 profitieren können. Ein Lernplan, der mehr auf Schein statt Sein setze, der Wissen in den Hintergrund stelle und stattdessen komplizierte Gebilde von Kompetenzschritten auftürme, sei nichts anderes als Betrug an den Jungen.
«Wir Praktiker, die von den Jugendlichen etwas verlangen, ihnen eine Beziehung anbieten, wir sind ihre wahren Anwälte», sagt er und weiss doch, dass er ein einsamer Rufer ist in der Wüste vieler stumm gewordener Lehrerkollegen. Solchen, die die Faust im Sack ­machen und resignieren, und solchen, die sich in die Privatwirtschaft oder ­Bildungsverwaltung zurückziehen. Zu sehr lockt das Geld und die bequeme Büroarbeit. So wird das System stets aufgeblähter und teurer. Trotzdem oder gerade deswegen: Mehr als 16 Prozent der Schüler können kaum lesen und schreiben, wenn sie nach neun Jahren die Volksschule verlassen.
Das Gewitter hat sich verzogen, dafür ziehen bei Pichard für kurze Zeit dunkle Wolken auf. «Den Kampf haben wir vermutlich verloren. Unter anderem, weil auch die Linke und die Lehrerverbände den Unsinn mitmachen», sagt er. «Die Linke hätte alles Interesse, dem Lehrplan 21 und der damit verbundenen Kompetenzorientierung kritisch gegenüberzustehen. Aber sie wird mit Jobs in der Bildungsbürokratie geködert.» Er glaubt, dass man sich in 20 Jahren die Augen reibt und sagen wird: «Was für einen Blödsinn haben wir gemacht.» Ihn, der sich bequem zurücklehnen und die Jährchen bis zur Pensionierung aussitzen könnte, treibt heute das Schicksal der jungen Leute um.
Mit ungestümen, vorlauten Jugendlichen kennt er sich aus. Nicht zuletzt, weil er selber einer war. Im dreisprachigen Linguismusmüesli aufgewachsen – mit der Berliner Mutter Deutsch sprechend, mit dem welschen Vater Französisch und gemeinsam Englisch –, war er selbst ein fauler Kerl. Ein halbes Jahr vor der Matur flog er von der Schule. Danach weigerte sich sein Vater, ihm noch irgendwas zu finanzieren. Der junge Pichard war gezwungen, zu arbeiten. Im Schlachthof Basel entsorgte er die Schlachtabfälle. «Die Arbeit hat mich geerdet, ja sogar gerettet», sagt er. ­Ausserdem hat sie ihm eine wichtige ­Lebenserkenntnis für seinen Beruf vermittelt: Nehmt die Jungen in die Verantwortung und holt sie auf den Boden der Realität.
Er fördert und fordert
Lange Zeit hat er als Realschullehrer in Biel Französisch, Deutsch und Mathematik unterrichtet. In Klassen mit einem Anteil von 85 Prozent Migranten. Die Realklassen, so sagt er, seien – vor allem in den sozialen Brennpunkten – das Auffangbecken für all die Schüler, die früher in Kleinklassen waren: Verhaltensauffällige, Behinderte, Laute, Lernschwache. Doch er mag sie alle. Er habe kein Rezept, sagt er. «Er ist der Beste, den wir je hatten», sagen die Schüler. Unterdessen sind es nicht ­weniger als 37 Jahre, die der Basler in der Region Biel unterrichtet.
Er fordert viel von seinen Schülern. «Wieso immer wir?», sagen sie dann. Und Pichard erwidert: «Gefährlich wird es erst, wenn ich nichts mehr fordere.» Seine schlimmste Strafe sei die Drohung, drei Wochen lang keine Aufgaben mehr zu korrigieren. Er vermittelt ihnen Spirit, Passion, manchmal auf eine hemdsärmlige, direkte Art. «Sie müssen stolz sein auf das, was sie erreichen können», sagt er. Natürlich mache auch er Fehler, immer wieder. «Ich bin kein Zauberer», sagt er.
Kürzlich wollte ein Schüler bei einem Mädchen die Aufgaben abschreiben. Sie liess ihn nicht. Da rastete der Junge aus und bedrohte sie. «Selber schuld, wenn du nicht lernst», sagte Pichard zu ihm. Der Junge kam mit einer Verwarnung davon. «Bei mir kriegt jeder eine zweite Chance», sagt Pichard. Doch auch bei ihm gibt es Grenzen: «Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts.» Das gelte für die Schüler wie für den Lehrerberuf.
Auch Lehrer benoten
Die Bändel seiner schwarzen Wohlfühlschuhe stehen offen, eine Narbe an seiner Wange blitzt auf – ein medizinischer Kunstfehler bei seiner Geburt. Pichard ist ein unermüdlicher und fesselnder Erzähler: So unterrichtete er einst ein türkisches Mädchen, das bald perfekt Deutsch sprach und nach dem Schulaustritt eine Bilderbuchkarriere hätte hinlegen können. Dann heiratete sie einen türkischen Mann und blieb von da an im Haus. Heute lebt die vierköpfige Familie von der Fürsorge und die Kinder können beim Eintritt in die Schule kaum Deutsch. «Wenn etwas falsch läuft, so muss man es benennen», sagt Pichard. Ihn nervt, wenn Ideologen jegliche Kritik an den Migranten als ­Bedrohung und Rassismus betrachten.
Beizukommen sei solchen Problemen nicht mit Fördermassnahmen. Der dichte Therapiegürtel in den Schulen sei ineffizient, kontraproduktiv, teuer und nütze oft den Anbietern mehr als den Betreuten. «Wer Therapie sät, erntet Fälle», sagt er. Doch auch mit seiner eigenen Gilde geht Pichard hart ins Gericht: Es dürfe nicht sein, dass nur den Schülern Noten von sehr gut bis miserabel verteilt würden. Auch die Lehrer müssten diese Spannweite akzeptieren. «Mit anderen Worten, wir müssen uns von unfähigen Mitarbeitern trennen. Dies wird eine Aufgabe der Schulleitungen sein.»
Und er fordert, dass Klassen von möglichst wenigen Lehrkräften geführt werden. «Es braucht engagierte Lehrer, die mit Herzblut etwas für die Schüler tun wollen.» Wenig hält er von der neuen Zauberformel der Bildungsverwaltung: Qualitätsmanagement. «Solche Messinstrumente führen nur zu mehr Bürokratie und damit zu Menschen, die ihr Geld sitzend verdienen und nicht im Kontakt mit den Jugendlichen», sagt er. «Doch ich halte viel von Rückmeldungskultur. Man muss sich Zeit nehmen, mit den Schülern ihre Arbeiten durchgehen. Das Problem ist, dass diese Zeit kaum mehr vorhanden ist.»
Kein Wunder, hat Pichard Feinde: Als er, der frühere überzeugte Sozialist und heutige Grünliberale, im 2008 in den Stadtrat gewählt worden war, kam er in einen Interessenkonflikt zwischen Politik und seiner Funktion als Lehrer. Da wollte ihm der Bieler Bildungsdirektor Pierre-Yves Moeschler (SP) ein Kommunikationskonzept aufzwingen. Doch weil sich Alain Pichard in Schulfragen nicht den Mund verbieten lässt, reichte er die Kündigung ein. Seither arbeitet er nicht mehr in Biel, sondern in der ­Gemeinde Orpund, einem Nachbardorf. «Es war eine schwierige Zeit», sagte er. Aufs Gemüt schlug ihm das Gefühl, er lasse seine alte Klasse im Stich.
Massive Widersprüche im System
«Du musst nicht ihr Freund sein, doch man muss die Jugendlichen ernst nehmen und einbeziehen», sagt er über sein Verhältnis zu seinen Schülern. Dann würden sie Verantwortung übernehmen. Das hat er mit seinem Klassenrat erlebt. Als im Schulhaus Probleme mit Vandalismus auftauchten, ging Pichard zum Klassensprecher und sagte: «Wir haben ein Problem mit Vandalismus, könnt ihr uns helfen?» Den Schuldigen bekam man nicht, doch der Vandalismus hörte sofort auf.
Pichard ist ein Pragmatiker, doch heute, so fürchtet er, wird das Schul­system von massiven Widersprüchen gelähmt: «Individualisierung und Standards, Autonomie und vereinheitlichte Lehrpläne oder Integration und selektive Oberstufe sind nun einmal nicht zusammen zu haben.» Man sei dabei, ein hybrides Modell aufzubauen, und die Überforderung der Lehrkräfte sei vorprogrammiert. «Die der Bildungsbudgets übrigens auch.»

«Ich bin kein Missionar, ich erhebe meine Stimme und merke, dass sie ankommt», sagt Pichard. Er sei auch kein Politiker. Trotzdem ist er in Biel der bestgewählte Stadtrat. 2007 ist er aus der Grünen Partei ausgetreten. «Diese Partei wurde immer sektiererischer, ein freier Diskurs war unmöglich. Politisches Asyl fand er bei den Grünliberalen. Und nochmals sagt er: «In meinem Herzen bin ich immer noch ein Linker.» Im Sonnenlicht leuchtet fahl die alte Narbe.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen