Talent ohne Förderung, NZZaS, 8.6. von René Donzé
Er sagt es
immer wieder, während er seine Zeichnungen zeigt. «Ich weiss auch nicht, wie
ich darauf gekommen bin.» Es ist, als ob der 14-jährige Jan Gracia von aussen
Eingebungen habe für seine Sujets. Diesen haftet oft etwas Grusliges an: Auf
seinem Selbstporträt klafft ein Loch in der Wange und gibt den Blick auf das
Gebiss frei. Auf einem anderen Bild ergiesst sich die tintenschwere Nacht über
einen Fischer im Boot auf dem Meer. Ein Vogel ist halb Maschine, halb Tier. Bis
ins Detail ausgearbeitet hat Jan einen Totenkopf mit all seinen Schattierungen.
H.?R.?Giger ist sein Idol.
Stundenlang kann er sich in seinem
Zimmer über das Papier beugen und an seinen Werken feilen. Seine Ausdauer ist
bemerkenswert. Kaum zu glauben, dass dieser Knabe vor fünf Jahren wegen
Konzentrationsschwierigkeiten aus der Regelklasse in eine Sonderschule wechseln
musste. Die Schulpsychologin sprach damals von einem «schulisch entmutigten
Kind». In seinen ersten beiden Schuljahren konnte er den Lehrern kaum folgen,
arbeitete langsam und war geistig abwesend. «Der Unterricht ist an ihm
vorbeigerauscht», sagt Mutter Antje Gracia. «Er brauchte individuelle
Unterstützung.» Eine Sonderschulung erschien den Eltern, Fachleuten und
Schulbehörden die beste Lösung.
Unlust an der Schule
Ab der dritten Klasse besuchte Jan
eine Kleingruppenschule in St.?Gallen. Für die Oberstufe wechselte er in die
Sonderschule Bad Sonder in Teufen (AR). Die intensive Betreuung in der kleinen
Klasse tut ihm gut. «Ich kann mich jetzt besser konzentrieren», sagt Jan. Seine
Leistungen aber schwanken noch immer stark, und geblieben ist seine Unlust an
der Schule. Begeisterung zeigt er nur fürs Zeichnen: «Das mache ich wirklich,
wirklich gerne.» Stolz präsentiert er die Zeichnungen aus seiner dicken Mappe.
Am liebsten möchte er Grafiker, Designer oder Bühnenbildner werden. «Das ist
mein Traum.»
Dass Jan talentiert ist, ist
unbestritten. Kürzlich hat er das Aufnahmeverfahren für die Talentschule der
Stadt St. Gallen durchlaufen und die Tests bestanden. Eigentlich könnte er dort
ab diesem Sommer während eines Tages pro Woche seine Fähigkeiten unter
fachkundiger Anleitung weiter entwickeln.
Doch Stadt und Kanton St. Gallen
verweigern ihm das Angebot aus Prinzip. Es gehe nicht an, dass ein
Sonderschüler im angestammten Schulumfeld fehle, lautet die Begründung. «Die
Lernziele können nicht erreicht werden, wenn die Sonderschule nur teilzeitlich
mit einer wesentlich tieferen Stundenzahl besucht wird», erklärt Margrit
Honegger von der zuständigen kantonalen Fachstelle. Auch der Leiter von Bad
Sonder will seine Schüler nicht hergeben: «Wir sind beauftragt, die uns
anvertrauten Jugendlichen zu den kompletten Blockzeiten zu beschulen», sagt
Thomas Schwemer.
Die städtischen Schulbehörden führen
auch pädagogische Gründe ins Feld. «Es gibt wohl keine bessere individuelle
Förderung als in den kleinen Sonderklassen», sagt der Leiter des Schulamtes,
Christian Crottogini. Ein Sonderschulplatz im Bad Sonder kostet rund 225
Franken pro Tag. «Es sollte in diesem Rahmen auch möglich sein, die besonderen
Talente eines einseitig begabten Schülers zu fördern.» Dort sei Jan sicher am
besten aufgehoben - auch unter Berücksichtigung seiner durch Gutachten
bestätigten Defizite, sagt Crottogini.
«Das ist doch Unsinn. Es geht hier um
Budgets und Regeln, die man stur verteidigt», sagt Vater Giuseppe Gracia. In
der Sonderschule fehlten die nötigen Fachkräfte für die gestalterische Bildung,
sagt er. Statt Jan zu ermutigen, hätten ihm dort die Lehrer verboten, «negative
Bilder zu zeichnen». Und in der Kleingruppenschule habe man ihn sogar dazu
aufgefordert, solche Bilder zu vernichten. «Das nenne ich nicht gerade
Talentförderung», sagt Gracia. Er kritisiert, dass sich die zuständigen
Behörden hinter Formalitäten versteckten und nicht offen seien für eine Lösung mit
Augenmass.
Doch längst geht es den Eltern um
mehr als um ihren Sohn. Sie haben sich in einem Brief an den St. Galler
Erziehungsdirektor Stefan Kölliker gewandt. «Wir bitten Sie, diese Situation
mit den Verantwortlichen zu überdenken», schreiben sie. Man dürfe Menschen
nicht von der Talentschule ausschliessen, nur weil sie aus der falschen Schule
kämen. Gerade vor dem Hintergrund einer sonderschulischen Biografie seien
spezielle Talente bedeutsam für die Zukunft, schreiben sie. «Unserer Meinung
nach wird ein falsches gesellschaftspolitisches Signal gesendet.»
Hoffen auf das Amt
Für Jan aber wollen Antje und
Giuseppe Gracia einen anderen Weg beschreiten: Sie haben ein Gesuch um
Überprüfung der Sonderschulung gestellt, mit dem Ziel, dass ihr Sohn in eine
Regelklasse wechseln kann. «Das Schulamt wird die Abklärungen möglichst rasch durchführen
und anschliessend unter Einbezug der Eltern die Situation neu beurteilen», sagt
Schulamt-Leiter Crottogini. Die Eltern hoffen, dass dann auch Jans
Talentförderung nichts mehr im Wege steht.
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