9. Juni 2014

Sonderschüler darf nicht in Talentschule

Jan hat die Aufnahmeprüfung für die Talentschule St. Gallen bestanden - doch er darf nicht hingehen. Die Eltern wehren sich gegen Behörden, die auf Prinzipien beharren.
Talent ohne Förderung, NZZaS, 8.6. von René Donzé


Er sagt es immer wieder, während er seine Zeichnungen zeigt. «Ich weiss auch nicht, wie ich darauf gekommen bin.» Es ist, als ob der 14-jährige Jan Gracia von aussen Eingebungen habe für seine Sujets. Diesen haftet oft etwas Grusliges an: Auf seinem Selbstporträt klafft ein Loch in der Wange und gibt den Blick auf das Gebiss frei. Auf einem anderen Bild ergiesst sich die tintenschwere Nacht über einen Fischer im Boot auf dem Meer. Ein Vogel ist halb Maschine, halb Tier. Bis ins Detail ausgearbeitet hat Jan einen Totenkopf mit all seinen Schattierungen. H.?R.?Giger ist sein Idol.
Stundenlang kann er sich in seinem Zimmer über das Papier beugen und an seinen Werken feilen. Seine Ausdauer ist bemerkenswert. Kaum zu glauben, dass dieser Knabe vor fünf Jahren wegen Konzentrationsschwierigkeiten aus der Regelklasse in eine Sonderschule wechseln musste. Die Schulpsychologin sprach damals von einem «schulisch entmutigten Kind». In seinen ersten beiden Schuljahren konnte er den Lehrern kaum folgen, arbeitete langsam und war geistig abwesend. «Der Unterricht ist an ihm vorbeigerauscht», sagt Mutter Antje Gracia. «Er brauchte individuelle Unterstützung.» Eine Sonderschulung erschien den Eltern, Fachleuten und Schulbehörden die beste Lösung.
Unlust an der Schule
Ab der dritten Klasse besuchte Jan eine Kleingruppenschule in St.?Gallen. Für die Oberstufe wechselte er in die Sonderschule Bad Sonder in Teufen (AR). Die intensive Betreuung in der kleinen Klasse tut ihm gut. «Ich kann mich jetzt besser konzentrieren», sagt Jan. Seine Leistungen aber schwanken noch immer stark, und geblieben ist seine Unlust an der Schule. Begeisterung zeigt er nur fürs Zeichnen: «Das mache ich wirklich, wirklich gerne.» Stolz präsentiert er die Zeichnungen aus seiner dicken Mappe. Am liebsten möchte er Grafiker, Designer oder Bühnenbildner werden. «Das ist mein Traum.»
Dass Jan talentiert ist, ist unbestritten. Kürzlich hat er das Aufnahmeverfahren für die Talentschule der Stadt St. Gallen durchlaufen und die Tests bestanden. Eigentlich könnte er dort ab diesem Sommer während eines Tages pro Woche seine Fähigkeiten unter fachkundiger Anleitung weiter entwickeln.
Doch Stadt und Kanton St. Gallen verweigern ihm das Angebot aus Prinzip. Es gehe nicht an, dass ein Sonderschüler im angestammten Schulumfeld fehle, lautet die Begründung. «Die Lernziele können nicht erreicht werden, wenn die Sonderschule nur teilzeitlich mit einer wesentlich tieferen Stundenzahl besucht wird», erklärt Margrit Honegger von der zuständigen kantonalen Fachstelle. Auch der Leiter von Bad Sonder will seine Schüler nicht hergeben: «Wir sind beauftragt, die uns anvertrauten Jugendlichen zu den kompletten Blockzeiten zu beschulen», sagt Thomas Schwemer.
Die städtischen Schulbehörden führen auch pädagogische Gründe ins Feld. «Es gibt wohl keine bessere individuelle Förderung als in den kleinen Sonderklassen», sagt der Leiter des Schulamtes, Christian Crottogini. Ein Sonderschulplatz im Bad Sonder kostet rund 225 Franken pro Tag. «Es sollte in diesem Rahmen auch möglich sein, die besonderen Talente eines einseitig begabten Schülers zu fördern.» Dort sei Jan sicher am besten aufgehoben - auch unter Berücksichtigung seiner durch Gutachten bestätigten Defizite, sagt Crottogini.
«Das ist doch Unsinn. Es geht hier um Budgets und Regeln, die man stur verteidigt», sagt Vater Giuseppe Gracia. In der Sonderschule fehlten die nötigen Fachkräfte für die gestalterische Bildung, sagt er. Statt Jan zu ermutigen, hätten ihm dort die Lehrer verboten, «negative Bilder zu zeichnen». Und in der Kleingruppenschule habe man ihn sogar dazu aufgefordert, solche Bilder zu vernichten. «Das nenne ich nicht gerade Talentförderung», sagt Gracia. Er kritisiert, dass sich die zuständigen Behörden hinter Formalitäten versteckten und nicht offen seien für eine Lösung mit Augenmass.
Doch längst geht es den Eltern um mehr als um ihren Sohn. Sie haben sich in einem Brief an den St. Galler Erziehungsdirektor Stefan Kölliker gewandt. «Wir bitten Sie, diese Situation mit den Verantwortlichen zu überdenken», schreiben sie. Man dürfe Menschen nicht von der Talentschule ausschliessen, nur weil sie aus der falschen Schule kämen. Gerade vor dem Hintergrund einer sonderschulischen Biografie seien spezielle Talente bedeutsam für die Zukunft, schreiben sie. «Unserer Meinung nach wird ein falsches gesellschaftspolitisches Signal gesendet.»
Hoffen auf das Amt

Für Jan aber wollen Antje und Giuseppe Gracia einen anderen Weg beschreiten: Sie haben ein Gesuch um Überprüfung der Sonderschulung gestellt, mit dem Ziel, dass ihr Sohn in eine Regelklasse wechseln kann. «Das Schulamt wird die Abklärungen möglichst rasch durchführen und anschliessend unter Einbezug der Eltern die Situation neu beurteilen», sagt Schulamt-Leiter Crottogini. Die Eltern hoffen, dass dann auch Jans Talentförderung nichts mehr im Wege steht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen