9. Juni 2014

Mundart in die Verfassung?

Dass in Zürcher und Aargauer Kindergärten hemmungslos Mundart gesprochen wird, empört gewisse Politiker. Ein Tessiner CVP-Nationalrat macht jetzt einen provokativen Vorstoss: Er fragt den Bundesrat, ob es notwendig sei, den Artikel 4 der Bundesverfassung abzuändern und Hochdeutsch durch Schweizer-Deutsch zu ersetzen.




Befürchtet eine "Hollandisierung": CVP-Nationalrat Marco Romano, Bild: CVP

Wird Mundart zur fünften Landessprache der Schweiz? Schweiz am Sonntag, 7.6. von Othmar von Matt



Dialekt ist im Vormarsch – in der Politik, am Radio und im Fernsehen. In der Westschweiz und im Tessin weckt das Ängste. Ein Tessiner Parlamentarier fordert nun den Nationalrat heraus. 

Die Überraschung war gross. Mit 121 587 zu 97 440 Stimmen nahmen die Aargauer am 18. Mai die Initiative der Schweizer Demokraten deutlich an. «Das kantonale Schulgesetz ist so zu ändern», steht darin, «dass die Unterrichtssprache im Kindergarten grundsätzlich die Mundart ist.» Nach Zürich 2011 verbietet auch der Aargau den Kindergärtnerinnen ab kommendem Schuljahr Hochdeutsch. Im Schulgesetz wird verankert, dass sie nur noch Dialekt verwenden dürfen. Den Kindergärtlern wird die Sprache nicht vorgeschrieben. Damit gehen zwei Kantone mit zusammen zwei Millionen Einwohnern folgenschwere neue Wege: Zürich, mit 1,4 Millionen bevölkerungsreichster Kanton, und der Aargau mit 0,64 Millionen viertgrösster Kanton. 

Im Tessin sorgt diese Entwicklung für Empörung. «Damit wird der Dialekt institutionalisiert», sagt CVP-Nationalrat Marco Romano. Der Kindergarten sei «die erste Institution», mit der Kinder in Kontakt kämen. Die neue Generation erhalte ein «anderes Verständnis der Sprachvielfalt», glaubt er. «Ich frage mich, was die Deutschschweiz damit will. Will sie den Dialekt institutionalisieren? Will sie eine Verfassungsänderung, eine Hollandisierung?» 

Am Montag stellt der Tessiner dem Bundesrat Fragen zur Mundart-Problematik. «Ist es notwendig, den Artikel 4 der Bundesverfassung abzuändern und Hochdeutsch durch Schweizer-Deutsch zu ersetzen?», will er wissen. Heute steht in Artikel 4: «Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.» Weiter fragt Romano, ob die Romandie und das Tessin «Hochdeutsch im Unterricht durch Schweizer-Deutsch» ersetzen sollten, «um die nationale Kohäsion zu gewährleisten?» 

Im Moment verstehe er seine Fragen als «Provokation». Romano: «Die Deutschschweiz muss sich erklären, ob sie Dialekt als Landessprache haben will.» Ob es «bald fünf Landessprachen» gebe, fragt er sich. Nur: Welchen Dialekt würde die Deutschschweiz in die Verfassung schreiben? «Walliser Dialekt? Berner Dialekt? Oder Basler Dialekt?» 

Ähnliche Volksbegehren wie in Zürich und im Aargau wurden zwar in Glarus und Luzern abgelehnt oder scheiterten wie in Solothurn während der Unterschriftensammlung. In 17 der 21 deutschsprachigen Kantone gehört es zum Auftrag des Kindergartens, neben der Mundart auch den Zugang der Kinder zu Hochdeutsch zu fördern. 

Dennoch ist der Dialekt in der Deutschschweiz rasant im Vormarsch. Im März 2013 präsentierte die Swatch ihren Geschäftsbericht in Mundart. Am 28. Mai 2013 erschien der «Blick am Abend» zum 5-Jahres-Jubiläum als «Blick am Abig» in Mundart. Er habe so viele Reaktionen erhalten wie nie zuvor, schrieb Chefredaktor Peter Röthlisberger diese Woche in der zweiten Mundart-Ausgabe. 

Auch das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) setzt auf Mundart. So geben Bundesräte nach Pressekonferenzen SRF ihre Stellungnahmen nicht nur in Hochdeutsch, Französisch und Italienisch ab, sondern auch in Mundart – für «10 vor 10». O-Töne und Gespräche mit Akteuren im Studio seien bei «10 vor 10» aus «Gründen der Spontaneität» seit 1990 auf Schweizerdeutsch, sagt Mediensprecher Stefan Wyss. Auch in der «Arena» wird seit 1993 in Mundart diskutiert. «Hochdeutsch erlaubt mehr Präzision», sagt Wyss. «Schweizerdeutsch ist spontaner.» Deutschschweizer könnten sich «besser, direkter und differenzierter» ausdrücken. 

Seit 2013 existiert auch eine «Dialäkt Äpp», mit der man anhand von 16 Fragen bestimmen kann, aus welchem Dorf der Dialekt stammt, den man spricht. Und auf Facebook gibt es die Seite «Schwiizerdütsch». Sie zählt 273 053 Fans. Zum Vergleich: Analoge Seiten für die «Deutsche Sprache» bringen es zusammen auf etwa 85 000 Fans. 

Die sozialen Medien und Netzwerke haben die Mundart in neue Höhen gehievt. Das zeigt eine Online-Umfrage, an der sich 1460 Personen beteiligten. «Welche Sprache benutzen Sie hauptsächlich, wenn Sie über diese Medien kommunizieren?», lautete eine Frage. 71 Prozent gaben an, hauptsächlich in Mundart zu kommunizieren. In der Entscheidungsfrage («Benutzen Sie Mundart, wenn Sie über diese Medien kommunizieren?») sagten gar 92,4 Prozent Ja. 


Vor allem bei den Jungen läuft der private schriftliche Austausch über SMS, Chat und E-Mail fast ausschliesslich in Mundart ab. Schriftdialekt bediene die neue allgemeine Tendenz zur Informalität, es schreibe sich «leichter, spontaner und authentischer», schreibt die NZZ. 

«Das, was wir in der Mündlichkeit haben, wird in jüngster Zeit bei Kindern und Jugendlichen gespiegelt auch in der Schriftlichkeit», hält Helen Christen, Linguistik-Professorin an der Uni Freiburg, in der NZZ fest. «Das Private schreiben sie auf Mundart, das Öffentliche auf Hochdeutsch. Jüngere wachsen bereits in einer Art Zweischriftigkeit auf.» 

Der aktuellen Mundartwelle steht Schriftsteller Adolf Muschg kritisch gegenüber. Im und nach dem Krieg sei die Mundart geistige Landesverteidigung gewesen, sagte er an den Solothurner Literaturtagen. Und in den 50er- und 60er-Jahren sei sie zur Sprache der Opposition gegen die AKW im Raum Basel geworden. «Doch dann erfolgte der unaufhaltsame Abstieg zur Reklamesprache», urteilt Muschg. «Die heutige Mundart ist eine Marketingsprache.» Kritisch gibt sich auch der Tessiner Nationalrat Romano. «Geht es so weiter, reiche ich eine parlamentarische Initiative oder eine Motion ein», hält er fest. Schon bald könnten Kantonalparlamente ihre Debatten in Mundart führen, befürchtet er. 

Romano weiss aus Erfahrung, was es bedeutet, wenn eine (Landes-)Sprache ins Abseits gerät. Wie etwa das Italienische. So verhandeln die Schweiz und Italien ihre Probleme in Steuer- und Grenzgänger-Fragen nicht auf Italienisch. Sondern grösstenteils auf Englisch. «Das kann doch nicht sein», schüttelt Romano den Kopf. Und der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi sagt: «Die Schweiz und Italien sind weltweit die einzigen Länder, in denen Italienisch eine offizielle Landessprache ist. Dass sie auf Englisch verhandeln, ist schade.» 

Isabelle Chassot hat das Problem erkannt. Italienisch drohe in der Diskussion Deutsch - Französisch unterzugehen, sagt sie. Deshalb will die Direktorin des Bundesamts für Kultur künftig eines: «Den Fokus auf Italienisch legen.» 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen