9. Juni 2014

Den Schützengraben der geistigen Landesverteidigung verlassen

Wie so viele vor ihm versucht sich Daniel Meier an der schwierigen Aufgabe, das Verhältnis von Hochdeutsch und Mundart zu erklären. Wie so viele vor ihm scheitert er. Seine Argumentation des Schützengrabens, der nun endlich zu verlassen sei, ist zu oberflächlich, als dass sie mit der Kindergarten-Mundart in Zürich und dem Aargau in Bezug gebracht werden könnte. Meier vermischt staatspolitische Argumente (Parlamentssprache) mit dem allgemeinen Sprachgebrauch in der Deutschschweiz und der Mundart im Kindergarten. Die drei Dinge sind nicht direkt miteinander vergleichbar. Zurecht weist Meier auf die fehlende Souplesse von Erwachsenen in der Verwendung von Hochdeutsch hin. Doch was hat dies mit dem Kindergarten zu tun? Niemand widerspricht, wenn Meier einen unverkrampfteren und selbstbewussteren Umgang mit dem Hochdeutschen fordert. Meier selbst bleibt aber in sicherer Deckung, wenn es darum geht, konkrete Ideen vorzuschlagen. (uk)


Ein Berner Grüner spricht fortan Hochdeutsch im Grossen Rat: welch eine Leistung! Bild: swissinfo.ch

Die Deutschen müssen wir nicht lieben, aber das Deutsche, NZZaS, 8.6. von Daniel Meier



Als 1901 im bernischen Kantonsparlament ein jurassischer Grossrat forderte, man möge künftig Hochdeutsch sprechen, damit auch die französischsprechenden Ratsmitglieder etwas verstehen, war die deutschsprechende Mehrheit empört. Da er die Forderung auf Deutsch vorbringe, sei ja bewiesen, dass da kein Problem bestehe, antwortete man ihm - und versenkte den Vorstoss.
Seither haben die Grossräte in Bern immer wieder über einen Wechsel abgestimmt, sechsmal in den letzten 30 Jahren. Diese Woche sprachen sie sich erneut klar dagegen aus. Die Argumente sind seit 100 Jahren die gleichen: Auf Berndeutsch debattiere es sich eben spontaner. Jeder soll reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen sei.
Hochdeutsch oder Mundart - im alten Sprachenstreit lässt sich ein Punkt leicht klären: Wenn das Gegenüber Mühe mit dem Dialekt hat, wechselt man auf Hochdeutsch. Das nennt man Anstand. Doch die Berner sind nicht so arrogant, wie es zunächst scheint. Selbst den Voten in rustikalem Oberländer Dialekt können die Jurassier durchaus folgen - dank Simultanübersetzung ins Französische. Auch andere zweisprachige Parlamente behelfen sich mit Dolmetschern. Vielsprachigkeit ist wertvoll, und sie ist teuer.
Gleichwohl offenbaren die Berner mit ihrer trotzigen Weigerung den Abwehrreflex, der in der ganzen Deutschschweiz jeweils zutage tritt, sobald etwas zu deutsch klingt. Das war nicht immer so. Noch um 1900 wurde das Ende der Mundart vorausgesagt. Mehr und mehr redete man Hochdeutsch, in der Zürcher Oberschicht vereinzelt sogar im Alltag. Doch dann setzte der Dialekt zum grossen Comeback an. Zunächst wanderten mehr Ausländer ein, worauf sich die Schweizer in ihre ureigene Sprache zurückzogen. In den beiden Weltkriegen stärkte man bewusst den Dialekt, um zu Deutschland auf Distanz zu gehen. Von kultureller Überfremdung durch die Reichsdeutschen war die Rede. In den sechziger Jahren setzte schliesslich eine weitere Mundartwelle ein, auch als Zeichen des Protests gegen die Obrigkeit.
Dieser Vormarsch der Mundart im öffentlichen Leben hält bis heute an. Einst wurde an Schulen nur Hochdeutsch gesprochen, auch im Turnen, in der Pause. Inzwischen ist sogar an der Universität Mundart zu hören. Der Pfarrer, der Offizier, die Stadtpräsidentin, der Bundesrat, sie alle plaudern in ihrem Dialekt - vor 50 Jahren undenkbar. Die erste Mundart-Radiosendung war 1968 ein Grosserfolg. Mittlerweile beschränkt sich das Hochdeutsche oft auf Staumeldungen. Neue Fernsehsendungen heissen «SRF bi de Lüt» - oder aber «The Voice of Switzerland».
Nichts gegen Mundart. Sich in Fiesch, in Gais, Steckborn oder Sörenberg an lokalen Eigenheiten zu erfreuen, das ist wunderbar. Aber Hochdeutsch ist unsere zweite Muttersprache. Wir sind quasi bilingue - eigentlich ein Geschenk. Wie ein Spanier, der durch Südamerika reist, können wir in Berlin oder Wien mit den Leuten reden, ihre Bücher und Zeitungen lesen, an ihrer Kultur teilhaben.
Kinder sprechen ihre ersten Worte im Dialekt, aber kaum schnappen sie Deutsch auf, ahmen sie es nach, spielerisch, lustvoll - und oft recht geschliffen. Die Kinder der vielen deutschen Einwanderer sind ihre Lehrer. Später lernen wir das Hochdeutsch richtig, in Wort und Schrift. Doch nach der Schule folgt der Schnitt. Hier die Mundart, die wir ausschliesslich sprechen, dort das Hochdeutsche, dass wir ausschliesslich schreiben und lesen. Oder im deutschen Fernsehen hören.
Aber wer gar kein Hochdeutsch spricht, verliert die Übung. Diese Muttersprache wird zur Fremdsprache. Falls man doch wieder einmal Deutsch reden muss, weil ein Tourist oder ein eingewanderter IT-Manager aus Köln etwas fragt, tut man sich schwer und fühlt sich unwohl. Ressentiments können auch aus solchen Erlebnissen entstehen. Und die Entfremdung schreitet voran.
Dem wollten die Bildungsdirektoren entgegenwirken. Mit Frühdeutsch im Kindergarten sollte wohl die Liebe zum Deutschen besser verankert werden. Dieser Schuss ging nach hinten los, die Gegenreaktion an der Urne fiel klar aus. Nach dem Kanton Zürich stimmte im Mai auch der Aargau für die Dialektpflicht. Überraschend war das nicht: Viele sahen die Mundart und ihre Schweizer Identität gefährdet, wenn schon Kindergärtler Hochdeutsch sprechen müssen.
Den Schweizern das Deutsche vorzuschreiben, ist eine ganz schlechte Idee. Übrigens taugt es auch nicht als Mittel, um mehr Weltoffenheit zu erzwingen. Wenn überhaupt, dann schwingt das Pendel von selbst zurück. Jugendliche tippen auf Facebook im Dialekt. Wer das daneben findet, verkennt, dass sich Sprache nur so verändern kann. Vielleicht redet eine kommende Generation wieder Deutsch - einfach aus Freude daran.
Es ist Zeit, den Schützengraben der geistigen Landesverteidigung zu verlassen. Mancher mag Mühe haben mit der deutschen Art. Nun denn, die Deutschen müssen wir nicht lieben, aber das Deutsche. Wir sollten unverkrampft und selbstbewusst mit dieser Sprache umgehen, die auch die unsere ist. Niemand muss in gestelztem Bühnendeutsch oder Schachtelsätzen sprechen, auch nicht laut und schnell, wir müssen uns schliesslich nicht assimilieren. Dass hier ein Schweizer Deutsch spricht, darf man durchaus hören.

Der Grüne Urs Muntwyler, der mit seinem Vorstoss in Bern gescheitert ist, redet fortan im Grossen Rat Hochdeutsch. Das ist offiziell erlaubt. Nur hat es bisher niemand gemacht.

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