Wird auch im Aargau zum Thema: Kopftuch in der Schule, Bild: Aargauer Zeitung
Streit-Stoff, Basler Zeitung, 7.6. von Samuel Tanner
Der Streit-Stoff lässt sich scheinbar genau bemessen, 164 mal 65
Zentimeter, ungefähr so klein ist ein Kopftuch – in diesen Tagen füllt der
Stoff aber Gerichtssäle, Parlamente, Zeitungsspalten. Der Blick schreibt: «Im Kopftuchstreit verhärten
sich die Fronten.» Die NZZ meldet:
«Besonders virulent ist die Debatte im Kanton St. Gallen.»
Und das St. Galler Tagblattkommentiert: «Die
Kopftuchfrage muss geklärt werden.»
In
den Artikeln geht es immer um Au (SG), eine Gemeinde im Rheintal, die
eigentlich nicht viel mehr zu bieten hat als eine Autobahnausfahrt. Als der
Leiter der Primarschule an einem Tag im Juni 2013 zwei Mädchen aus Somalia nach
Hause schickt, löst er damit eine nationale Debatte, parlamentarische Vorstösse
und eine gehässige Diskussion im Auer Werkhofsaal aus. Nur ahnt er davon noch
nichts.
Die
beiden Mädchen, Nafiso und Naimo, wollen den Unterricht an jenem Morgen mit
Kopftuch besuchen. Der Schulleiter will das nicht akzeptieren, Kopfbedeckungen
werden nicht toleriert, er hält sich bei seinem Entscheid an die Schulordnung.
Was daraus entsteht, ist ein Streit, der sich mittlerweile nur noch im
Zeitraffer einigermassen zusammenfassen lässt: Medien kritisieren den Entscheid
– Schule verteidigt sich – Medien kritisieren weiter – Schule «lernt dazu» (der
Schulpräsident), fällt neuen Entscheid – Mädchen dürfen Unterricht mit Kopftuch
besuchen – SVP lanciert das Referendum dagegen – Gemeinde stimmt
Kopftuchverbot zu – Familie der Mädchen legt Rekurs ein.
Inzwischen,
ein Jahr nach dem Entscheid des Auer Schulleiters, diskutierte der Aargauer
Grosse Rat eine Motion zur Einführung des Kopftuchverbots an Schulen, sprach
sich das Kantonsparlament von Freiburg gegen das Tragen von Burkas und
Gesichtsschleiern aus, besprach der Ständerat die Pflicht zur gegenseitigen
Rücksichtnahme in religiösen Fragen.
Im
St. Galler Rheintal scheint die Diskussion derweil aus dem Ruder zu
laufen.
Warten, warten, warten
Im
Kantonsrat warten SVP und CVP seit Monaten darauf, dass die Regierung ihre
Vorstösse zur Kopftuchfrage beantwortet. In den Gerichtssälen warten die
Richter auf Signale aus der Politik. Und in der Bevölkerung, speziell in Au,
wartet eine Mehrheit der Leute darauf, dass ihr Votum gegen das Kopftuch im
Schulunterricht durchgesetzt wird.
Dienstag
der letzten Woche, der Werkhofsaal in Au ist doppelt so gut gefüllt wie jeweils
an den Bürgerversammlungen, unter der Decke staut sich der Frust und im Raum
steht die offizielle Frage des Abends: «Kopftücher an Schulen – mit Schweizer Werten
vereinbar?» Die Befürworter eines Verbots sitzen vorne links, die Gegnerinnen
rechts, dazwischen haben die Organisatoren einen Gang freigelassen. Wie breit
dieser ist, zeigt sich schon vor der Diskussion. Als einer der Befürworter
seinen Gegnerinnen die Hand geben will, lehnen diese ab. Wir und ihr, man kann
den Abend in drei Worten zusammenfassen.
Die
Befürworter berufen sich auf Volksentscheide, die Gegnerinnen auf die
Verfassung, die Religionsfreiheit vorschreibe. Die Befürworter predigen
Toleranz, die Gegnerinnen ebenso. Die Befürworter zitieren aus dem Koran, die
Gegnerinnen widersprechen. Die Wahrheit scheint in diesem Werkhofsaal
verhandelbar.
Die
beiden Frauen, die gegen ein Kopftuchverbot votieren, sind Mitglieder des
Islamischen Zentralrats – der lautesten, aber sicher nicht repräsentativsten
Vertretung des Islams. Ferah Ulucay, stellvertretende Generalsekretärin, auf
dem Podium: «Ihr dürft den Koran nicht antasten, wir wissen selber, was wir
daran haben.» Und Janina Rashidi, die stellvertretende Pressesprecherin, nach
dem aufkommenden Saal-Applaus über eine Aussage der Befürworter: «Österreich hat
beim Anschluss an Hitler-Deutschland auch geklatscht.»
In
der dritten Reihe sitzt ein Mann mit Ohrenringli, die Arme verschränkt und die
Lippen so spitz, dass er damit Zehennägel schneiden könnte.
Die
vier Redner tauschen Beispiele («Ich kenne ein Mädchen, das das Kopftuch nicht
freiwillig trägt!») und Beleidigungen («Sie schwitzen!») aus. Aber am Ende ist
alles so unklar, wie wenn Gilbert Gress am Fernsehen modernen Fussball mit dem
FC Strasbourg der 70er-Jahre erklärt. In der Fragerunde sagt ein Mann aus der Region:
«Wäm da bi üs nöd passt, där söll s Land verloh.» Und eine Frau aus der
Nachbargemeinde findet, es sei ja schon verrückt, dass am Schulsporttag jetzt
nur noch Rindswürstli statt Schweinswürstli verteilt würden. Aus Rücksicht auf
die Muslime. So endet ein Abend, an dem es eigentlich ums Kopftuch an der
Schule gegangen ist. Der Gang zwischen den Stuhlreihen im Werkhofsaal Au ist natürlich
nicht breiter geworden – man könnte es aber meinen.
«Endlich klare Regelung»
Einer
der beiden Kopftuchgegner auf dem Podium war Mike Egger, 21 Jahre alt,
Präsident der Jungen SVP St. Gallen. Nach seinem
Auftritt stand er noch eine Weile bei Ferah Ulucay, sie sprachen über Toleranz
und Werte. Wahrscheinlich waren sich selten zwei junge Leute uneiniger.
Der
vielleicht einzige gemeinsame Nenner: «Wir wollen endlich eine klare Regelung.
Der heutige Zustand ist für die Schulen untragbar.» So die Formulierung von
Mike Egger. Mit diesen Sätzen im Kopf fuhr er am Dienstag dieser Woche nach St. Gallen, der Kantonsrat tagte, er ist eines seiner Mitglieder. Weil
die Regierung seinen ersten Vorstoss zu einem Kopftuchverbot an Schulen seit
Monaten unbeantwortet liegen lässt, wollte er eine dringliche Motion
durchbringen. Und scheiterte damit. Die Regierung liess verlauten, sie wolle
zuerst einen Bericht erstellen lassen, der die «Bedeutung der Grundrechte für
das staatliche Handeln» klären soll. Der zuständige FDP-Regierungsrat sagte,
diese Auslegeordnung würde «eine schöne Grundlage» schaffen für weitere
Entscheide.
Auslegeordnung,
Grundlage –freundliche Grüsse aus der unverbindlichsten Ecke der deutschen
Sprache. Mike Egger plant jetzt eine Volksinitiative. Es geht zwar immer noch
ums Kopftuch, 164 mal 65 Zentimeter gross, aber solange die Politik keine
Entscheide fällt, wird der Streit-Stoff immer grösser.
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