7. Juni 2014

Kopftuchdebatte läuft aus dem Ruder

Der Streit-Stoff lässt sich scheinbar genau bemessen, 164 mal 65 Zentimeter, ungefähr so klein ist ein Kopftuch - in diesen Tagen füllt der Stoff aber Gerichtssäle, Parlamente, Zeitungsspalten. Und die Diskussion breitet sich von St. Gallen aus über die ganze Schweiz.





Wird auch im Aargau zum Thema: Kopftuch in der Schule, Bild: Aargauer Zeitung

Streit-Stoff, Basler Zeitung, 7.6. von Samuel Tanner


Der Streit-Stoff lässt sich scheinbar genau bemessen, 164 mal 65 Zentimeter, ungefähr so klein ist ein Kopftuch – in diesen Tagen füllt der Stoff aber Gerichtssäle, Parlamente, Zeitungsspalten. Der Blick schreibt: «Im Kopftuchstreit verhärten sich die Fronten.» Die NZZ meldet: «Besonders virulent ist die Debatte im Kanton St.Gallen.» Und das St.Galler Tagblattkommentiert: «Die Kopftuchfrage muss geklärt werden.»
In den Artikeln geht es immer um Au (SG), eine Gemeinde im Rheintal, die eigentlich nicht viel mehr zu bieten hat als eine Autobahnausfahrt. Als der Leiter der Primarschule an einem Tag im Juni 2013 zwei Mädchen aus Somalia nach Hause schickt, löst er damit eine nationale Debatte, parlamentarische Vorstösse und eine gehässige Diskussion im Auer Werkhofsaal aus. Nur ahnt er davon noch nichts.
Die beiden Mädchen, Nafiso und Naimo, wollen den Unterricht an jenem Morgen mit Kopftuch besuchen. Der Schulleiter will das nicht akzeptieren, Kopfbedeckungen werden nicht toleriert, er hält sich bei seinem Entscheid an die Schulordnung. Was daraus entsteht, ist ein Streit, der sich mittlerweile nur noch im Zeitraffer einigermassen zusammenfassen lässt: Medien kritisieren den Entscheid – Schule verteidigt sich – Medien kritisieren weiter – Schule «lernt dazu» (der Schulpräsident), fällt neuen Entscheid – Mädchen dürfen Unterricht mit Kopftuch besuchen – SVP lanciert das Referendum dagegen – Gemeinde stimmt Kopftuchverbot zu – Familie der Mädchen legt Rekurs ein.
Inzwischen, ein Jahr nach dem Entscheid des Auer Schulleiters, diskutierte der Aargauer Grosse Rat eine Motion zur Einführung des Kopftuchverbots an Schulen, sprach sich das Kantonsparlament von Freiburg gegen das Tragen von Burkas und Gesichtsschleiern aus, besprach der Ständerat die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme in religiösen Fragen.
Im St.Galler Rheintal scheint die Diskussion derweil aus dem Ruder zu laufen.
Warten, warten, warten
Im Kantonsrat warten SVP und CVP seit Monaten darauf, dass die Regierung ihre Vorstösse zur Kopftuchfrage beantwortet. In den Gerichtssälen warten die Richter auf Signale aus der Politik. Und in der Bevölkerung, speziell in Au, wartet eine Mehrheit der Leute darauf, dass ihr Votum gegen das Kopftuch im Schulunterricht durchgesetzt wird.
Dienstag der letzten Woche, der Werkhofsaal in Au ist doppelt so gut gefüllt wie jeweils an den Bürgerversammlungen, unter der Decke staut sich der Frust und im Raum steht die offizielle Frage des Abends: «Kopf­tücher an Schulen – mit Schweizer ­Werten vereinbar?» Die Befürworter ­eines Verbots sitzen vorne links, die Gegnerinnen rechts, dazwischen haben die Organisatoren einen Gang freigelassen. Wie breit dieser ist, zeigt sich schon vor der Diskussion. Als einer der Befürworter seinen Gegnerinnen die Hand geben will, lehnen diese ab. Wir und ihr, man kann den Abend in drei Worten ­zusammenfassen.
Die Befürworter berufen sich auf Volksentscheide, die Gegnerinnen auf die Verfassung, die Religionsfreiheit vorschreibe. Die Befürworter predigen Toleranz, die Gegnerinnen ebenso. Die Befürworter zitieren aus dem Koran, die Gegnerinnen widersprechen. Die Wahrheit scheint in diesem Werkhofsaal verhandelbar.
Die beiden Frauen, die gegen ein Kopftuchverbot votieren, sind Mitglieder des Islamischen Zentralrats – der lautesten, aber sicher nicht repräsentativsten Vertretung des Islams. Ferah Ulucay, stellvertretende Generalsekretärin, auf dem Podium: «Ihr dürft den Koran nicht antasten, wir wissen selber, was wir daran haben.» Und Janina Rashidi, die stellvertretende Pressesprecherin, nach dem aufkommenden Saal-Applaus über eine Aussage der Befürworter: «Österreich hat beim Anschluss an Hitler-Deutschland auch geklatscht.»
In der dritten Reihe sitzt ein Mann mit Ohrenringli, die Arme verschränkt und die Lippen so spitz, dass er damit Zehennägel schneiden könnte.
Die vier Redner tauschen Beispiele («Ich kenne ein Mädchen, das das Kopftuch nicht freiwillig trägt!») und Beleidigungen («Sie schwitzen!») aus. Aber am Ende ist alles so unklar, wie wenn Gilbert Gress am Fernsehen ­modernen Fussball mit dem FC Strasbourg der 70er-Jahre erklärt. In der Fragerunde sagt ein Mann aus der ­Region: «Wäm da bi üs nöd passt, där söll s Land verloh.» Und eine Frau aus der Nachbargemeinde findet, es sei ja schon verrückt, dass am Schulsporttag jetzt nur noch Rindswürstli statt Schweinswürstli verteilt würden. Aus Rücksicht auf die Muslime. So endet ein Abend, an dem es ­eigentlich ums Kopftuch an der Schule gegangen ist. Der Gang zwischen den Stuhlreihen im Werkhofsaal Au ist ­natürlich nicht breiter geworden – man könnte es aber meinen.
«Endlich klare Regelung»
Einer der beiden Kopftuchgegner auf dem Podium war Mike Egger, 21 Jahre alt, Präsident der Jungen SVP St.Gallen. Nach seinem Auftritt stand er noch eine Weile bei Ferah Ulucay, sie sprachen über Toleranz und Werte. Wahrscheinlich waren sich selten zwei junge Leute uneiniger.
Der vielleicht einzige gemeinsame Nenner: «Wir wollen endlich eine klare Regelung. Der heutige Zustand ist für die Schulen untragbar.» So die Formulierung von Mike Egger. Mit diesen Sätzen im Kopf fuhr er am Dienstag dieser Woche nach St.Gallen, der Kantonsrat tagte, er ist eines seiner Mitglieder. Weil die Regierung seinen ersten Vorstoss zu einem Kopftuchverbot an Schulen seit Monaten unbeantwortet liegen lässt, wollte er eine dringliche Motion durchbringen. Und scheiterte damit. Die ­Regierung liess verlauten, sie wolle zuerst einen Bericht erstellen lassen, der die «Bedeutung der Grundrechte für das staatliche Handeln» klären soll. Der zuständige FDP-Regierungsrat sagte, diese Auslegeordnung würde «eine schöne Grund­lage» schaffen für weitere Entscheide.

Auslegeordnung, Grundlage –freundliche Grüsse aus der unverbindlichsten Ecke der deutschen Sprache. Mike Egger plant jetzt eine Volks­initiative. Es geht zwar immer noch ums Kopftuch, 164 mal 65 Zentimeter gross, aber solange die Politik keine Entscheide fällt, wird der Streit-Stoff immer grösser.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen