Primarschüler 1959 im Kinderdorf Pestalozzi. Seither hat die Belastung stetig zugenommen, Bild: Fotostiftung Schweiz
Ausgebrannt im Klassenzimmer, Tages Anzeiger, 14.6. von Anja Burri
Als Jürg Brühlmann,
Geschäftsleitungsmitglied des Schweizerischen Lehrerverbands, vor 50 Jahren zur Schule ging, las
sein Lehrer während des Unterrichts die Zeitung. Damit er die Schüler, die
still Aufgaben lösen mussten, dennoch beobachten und wenn nötig massregeln
konnte, hatte der Lehrer ein Loch in die Zeitung geschnitten. Die Schüler
standen vor einem Rätsel: Wie konnte der Lehrer trotz der grossen Zeitung vor
dem Gesicht jede Bewegung im Klassenzimmer registrieren? Sie schrieben dem
autoritären Mann magische, übermenschliche Fähigkeiten zu. Der Respekt vor ihm
war gross.
Diese Geschichte wäre
in den heutigen Klassenzimmern undenkbar. «Die Unterrichtsformen sind viel
anspruchsvoller geworden, und das Verhalten der Kinder hat sich stark
verändert», sagt Brühlmann. Auch ist die Liste der jüngsten Reformen lang:
Zusätzlicher Fremdsprachenunterricht in der Primarschule, die Integration von
Sonderschülern in Regelklassen, das Schulharmonisierungskonkordat Harmos oder
der neue Lehrplan 21 sind nur ein paar Beispiele. Immer wieder reagieren
Lehrkräfte auf die verschiedenen Herausforderungen ihres Berufs mit Erschöpfung
und sind ausgebrannt, lassen sich deswegen krankschreiben. «Burn-out» steht
dann häufig auf dem ärztlichen Attest.
Teure
Ausfälle
Durch
die krankheitsbedingten Ausfälle entstehen an verschiedenen Stellen
beträchtliche Kosten, wie Daniel Frey, Mediziner und Ex-Direktor der
Stadtzürcher Schulgesundheitsdienste, sagt. Weil Burn-out als Diagnose nirgendwo
systematisch erfasst wird, fehlen genaue Zahlen. Verfügbar ist die Zahl der
IV-Frühpensionierungen von 2009 bis 2013: Gemäss Frey liessen sich in der Stadt
Zürich in der Zeit 43 Lehrpersonen invaliditätsbedingt frühpensionieren.
Dadurch gingen nach seinen Schätzungen über 400 Arbeitsjahre verloren, und es
entstanden IV-Kosten in Millionenhöhe. Mindestens die Hälfte dieser
Frühpensionierungen erfolgte aus psychischen Gründen.
Mediziner Frey hat im
vergangenen Jahr eine Studie zum Thema Arbeit und Gesundheit unter den
Stadtzürcher Lehrern geleitet. Die bisher unveröffentlichten Ergebnisse zeigen:
Den meisten Lehrern geht es grundsätzlich gut. Aber: Mindestens jede zehnte
Lehrkraft weist so starke emotionale Erschöpfungszeichen auf, dass das Risiko
eines Burn-outs beträchtlich ist. 40 Prozent der befragten rund 1000
Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer der Volksschule gaben an, sie seien eher
oder stark psychisch belastet. Weil gleichzeitig über 11'000 andere
Verwaltungsangestellte befragt wurden, ist erstmals in der Schweiz ein
Vergleich zwischen dem Burn-out-Risiko der Lehrer und anderer Berufe möglich.
«Selbst Polizisten oder das medizinische Pflegepersonal fühlen sich im
Durchschnitt weniger ausgelaugt als die Lehrer», sagt Frey, der heute als
Gesundheitsexperte tätig ist. Das habe sicher auch damit zu tun, dass der
Polizeiberuf eine Männerdomäne sei und Männer bei Befragungen generell weniger
über psychische Probleme sprächen. Für den Lehrerberuf sei es allerdings auch
nötig, einfühlsam zu sein.
Die Belastung zeigt
sich auch bei den körperlichen Beschwerden: Jede vierte Klassenlehrkraft
berichtet von einer «Erschöpfung und Energielosigkeit», beim
Verwaltungspersonal beträgt dieser Anteil knapp 17 Prozent. Frey rechnet vor:
«Hochgerechnet fühlen sich 10 Prozent von rund 2000 Klassenlehrkräften in
Zürich nach der Arbeit ausgelaugt und psychisch stark belastet. Wenn man davon
ausgeht, dass jeder dieser 200 Lehrer eine Klasse à 20 Schüler unterrichtet,
dann werden allein in Zürich 4000 Kinder von solchen Lehrkräften unterrichtet.»
Schülerbeziehung
in Gefahr
Für Frey sind diese
Zahlen alarmierend. «Es ist ein grosser Unterschied, ob ein Lehrer oder ein
Steuerberater ein Burn-out hat», sagt er. Denn Lehrer sei ein Beziehungsberuf.
Eine gute Beziehung zwischen Schülern und Lehrer sei die Basis für
erfolgreiches Lernen und Erziehen.
Die Zürcher Befunde
bestätigen die bisherigen Burn-out-Untersuchungen aus Deutschland und der
Schweiz. Im Kanton Basel-Stadt litt 2001 fast jede dritte Lehrperson unter
emotionalen Erschöpfungszuständen, im Thurgau berichtete 2006 jede vierte
befragte Primarlehrkraft davon. Im Herbst wird die erste gesamtschweizerisch
repräsentative Studie zu dem Thema veröffentlicht. Studienleiterin Doris Kunz
Heim von der Pädagogischen Hochschule FHNW verrät noch keine Ergebnisse, sagt
aber: «Ein Teil der Lehrpersonen steht unter grossem Druck.» Verschiedene
Kantone reagieren bereits und organisieren Weiterbildungen zur
Burn-out-Prävention. Ein Westschweizer Kanton hat beim Arbeitsmedizinischen
Institut in Lausanne eine Untersuchung in Auftrag gegeben, weil sich die
psychischen Krankschreibungen der Lehrer derart häuften.
Dem Schweizerischen
Lehrerverband (LCH) reicht dies nicht. An der Delegiertenversammlung von heute
in Basel steht das Thema Burn-out zuoberst auf der Traktandenliste. «Wir
wollen, dass die Behörden endlich Verantwortung übernehmen», sagt Brühlmann.
Heute würden die Lehrkräfte mit den gesundheitlichen Problemen oft allein gelassen.
Es werde erwartet, dass sie sich selbstständig um Prävention bemühten. Dies,
obwohl das Burn-out-Phänomen den Staat viel Geld koste und auch den Kindern
schade. Als Erstes wird der LCH eine arbeitsmedizinische Studie in Auftrag
geben. «Wir wollen genau abklären: Was bedeutet es für die Gesundheit einer
Lehrperson, wenn diese in einem zu kleinen Schulzimmer bei schlechter Luft und
hoher Lärmbelastung täglich mehrere Stunden voll präsent sein muss?», sagt
Brühlmann. Sobald der LCH über vertiefte Befunde verfügt, will er politische
Forderungen an die kantonalen Erziehungsdirektoren stellen. Zum Beispiel
könnten die Lehrer eine Reduktion der Unterrichtspensen verlangen.
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