Immer jüngere Kinder, viele mit Defiziten, Bild: Keystone
Dem Kanton Zürich fehlt es an Kindergärtnerinnen, Tages Anzeiger, 16.5.
Im grössten Schulkreis
der Stadt Zürich, dem Glattal, werden nach den Sommerferien rund 725 Kinder neu
in den Kindergarten kommen. Ein Jahr zuvor waren es 613. Laut Rosemarie
Binggeli werden fünf bis sechs neue Kindergartenklassen geschaffen. «Der Mangel
an Kindergartenlehrpersonen ist massiv», sagt die Vizepräsidentin der
Kreisschulpflege Glattal. Auf die ausgeschriebenen Stellen gingen kaum
Bewerbungen ein. Ausschreibungen würden zwar breit gestreut und Studienabgänger
direkt angesprochen. «Aber es bleibt eine Zitterpartie.»
Eltern
von angehenden Kindergärtlern stellten dieses Jahr 336 Zuteilungsgesuche im
Schulkreis Glattal – so viele wie noch nie. Da die Klassen mit durchschnittlich
fast 20 Kindern alle voll seien, besteht weniger Spielraum als bisher, um die
Wünsche der Eltern zu berücksichtigen. So kann es sein, dass Geschwister
unterschiedliche Schulen besuchen müssen und auch Freunde oder Nachbarskinder
getrennt werden. Erste Priorität hat der Schulweg. Ein Kind sollte in der Lage
sein, diesen allein zu bewältigen.
Dass
die Hälfte aller Eltern ein Gesuch stellt, ist neu. Auch andere Gemeinden
erhalten vergleichbar viele Gesuche. Binggeli erklärt sich diese Entwicklung
auch damit, dass der Alltag für viele Familien eine organisatorische
Herausforderung ist. «Eltern versuchen, Zeit zu sparen, indem Krippe und
Kindergarten ihrer Kinder möglichst auf dem Arbeitsweg liegen.» Noch befinde
man sich mitten im Prozess der Zuteilung. Ziel sei es, mit möglichst vielen
Eltern einvernehmliche Lösungen zu finden.
In
Horgen treten nach den Sommerferien 211 Kinder neu in den Kindergarten ein. 17
von ihnen können wegen des um zwei Wochen verschobenen Stichtags eingeschult
werden. Horgen bringt die gesamthaft 24 zusätzlichen neuen Kindergärtler in
einem Pavillon unter, eine Stelle ist noch offen. Roger Herrmann, Leiter des
Horgner Schulsekretariats, bereiten vor allem die Zuzüger Sorgen. Bis kurz vor
Schulstart am 18. August melden diese ihre Kinder noch an, was die Planung
erschwere. Da man ausgeglichene Klassengrössen anstrebe, sei es nicht möglich, den
vielen Zuteilungswünschen der Eltern gerecht zu werden.
«Zu
wenig Wertschätzung»
Laut
Brigitte Fleuti, Präsidentin des Verbandes Kindergarten Zürich, hat sich schon
lange abgezeichnet, dass bald mehr Kinder eingeschult und entsprechend mehr
Lehrpersonen auf Kindergartenstufe gebraucht werden. Dass es nun doch zu einem
Lehrermangel gekommen ist, erklärt sie mit den hohen Anforderungen, die eine
Kindergärtnerin erfüllen muss, ohne angemessen entlöhnt zu werden. So gelte es,
Kinder mit Sprachschwierigkeiten und speziellen Bedürfnissen zu integrieren und
jedes Kind einzeln zu fördern. Die Kinder seien immer jünger, viele hinkten in
ihrer Entwicklung hinterher. Viele Kindergärten seien in zu kleinen Räumen mit
schlechter Schalldämpfung untergebracht. Der Lärmpegel sei entsprechend hoch,
was für die Lehrperson stressig sei.
Allen
gerecht zu werden und gleichzeitig die administrative Aufgaben zu erfüllen, sei
ein strenger 100-Prozent-Job, der nicht voll entlöhnt und zu wenig
wertgeschätzt werde. Kindergartenlehrpersonen erhalten bei einer vollen Stelle
bloss 87 Prozent ihrer Lohnstufe. Es brauche bessere Rahmenbedingungen, damit
die Kindergartenstufe nicht zur Problemstufe werde. Fleuti: «Der Kindergarten
ist das Fundament der Volksschule! Würden Sie am Fundament Ihres Hauses
sparen?»
Für
Lilo Lätzsch, die Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbandes,
gehört der Kindergarten im Bewusstsein der Bevölkerung nicht zur Schule. «Die
Arbeit der Kindergärtnerinnen wird nicht als gleichwertig empfunden», sagt sie.
Noch immer geistere in den Köpfen das Bild der «Gfätterlitante» herum. Dabei
sei die Eingangsstufe fachlich gesehen die wichtigste. Hier machten Kinder die
ersten, prägenden Lernerfahrungen, sagt Lätzsch.
Systematisches
Lernen
Walter
Bircher, Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich, hofft, dass sich in
Zukunft noch mehr angehende Lehrer für den Kindergarten entscheiden. 131
Anmeldungen seien dieses Jahr für die Eingangsstufe eingegangen. Vergangenes
Jahr waren es 121. Auf der Eingangsstufe gibt es zwei Studiengänge:
Kindergarten und Kindergarten-Unterstufe. Der Abschluss des Letzteren
berechtigt zur Lehrtätigkeit auf der Kindergartenstufe und auf der 1. bis 3.
Primarstufe. 62 Studierende haben sich dafür eingeschrieben, und die Erfahrung
zeigt, dass rund die Hälfte der Absolventen dieses Studiengangs später auf der
Kindergartenstufe unterrichtet.
Der
Studiengang Kindergarten-Unterstufe trage viel dazu bei, junge Menschen für das
Studium zur Kindergartenlehrperson zu begeistern, da er ihnen auch die
Primarstufe als Option offenlasse, sagt Bircher. «Auf der Kindergartenstufe
entwickeln die Kinder das systematische Lernen. Für einen erfolgreichen Verlauf
der Schulkarriere haben die Kindergartenjahre eine zentrale Bedeutung.» Die
Lehrtätigkeit auf der Kindergartenstufe sei deshalb eine der
verantwortungsvollsten Aufgaben. Wenn die Gesellschaft die Bedeutung des
Kindergartens mehr anerkenne, würden sich künftig wohl noch mehr angehende
Studierende für diese Stufe entscheiden.
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