Homeschooling-Familien organisieren jährlich ein gemeinsames Lager, Bild: zvg
Homeschooling: Unterricht bei Mama in der Küche, Aargauer Zeitung, 25.5. von Elia Diehl
Rechtfertigen müsse sie
sich ständig. Einige grüssten sie nicht mehr. «Ich verstehe nicht warum», sagt
Sandra Bolliger. «Wir schaden doch niemandem.» Sie ärgert sich über die
kritische Interpellation von CVP-Grossrätin Marianne Binder zum «Homeschooling».
Sandra und Willy Bolliger
leben mit ihren vier Kindern in Aarau. Zwei Zwillingspaare, fünf und neun Jahre
alt. Sie Flugbegleiterin, er Rechtsanwalt. Die Kinder gehen nicht in
Kindergarten und Schule. Sie gehören zu den schweizweit rund 1000 Kindern, die daheim
von ihren Eltern – Treuhänder, Polizisten oder Lehrer – unterrichtet werden
(siehe Box).
Der Verein «Bildung zu
Hause» organisiert jährlich ein Lager mit Schweizer Homeschooling-Familien –
eine Projektwoche wie in der Schule, mit Vorträgen der Kinder, Lernstationen
und Exkursionen. Diese Tage war auch Familie Bolliger im Haus «Bärgsunne»
oberhalb des Thunersees.
Warum Hausunterricht? «Aus
religiösen Gründen macht es hier niemand», sagt Sandra Bolliger bestimmt.
«Warum Schule?», fragt sie zurück, nur weil seit rund 200 Jahren eine
Schulpflicht bestehe und das niemand hinterfrage?
Für sie geht es um die
Lebensqualität für die ganze Familie: Zu gross ist die Präsenzzeit in der
Schule, die Kinder sind kaum noch zu Hause. Plötzlich übernehme einfach der
Staat, was vorher die Mutter tat. «Ich will nicht, dass andere meine Kinder
mehr prägen als ich.»
Die Gründe der Eltern sind
verschieden: statt der Einschulungsklasse, wegen psychisch gestresster Kinder,
wegen des Zeitaufwands, für eine gezieltere Förderung. Alle nennen es ein
«Experiment, das funktioniert». Und die Kinder hätten mitentschieden.
Willy Bolliger überlässt
den Heimunterricht seiner Frau, da sie besser geeignet sei. Anfangs war er
skeptisch. «Aber es ist bloss ‹ein› Weg, ‹ein› Ansatz. Nicht besser, nicht
schlechter.» Der Rechtsanwalt betont, dass es in der Schweiz keine Schulpflicht
gebe. Er unterstellt der Interpellantin zudem Populismus, da «sie in den
Nationalrat will».
Sandra Bolliger indes will
nur das Optimum aus ihren Kindern herausholen. Oft geht sie mit dem Stoff
weiter als der kantonale Lehrplan vorgibt, berücksichtigt das aktuelle
Interesse der Kinder. «Lernen macht so mehr Spass.» Ohne grossen Einsatz der
Eltern geht es nicht. Überheblichkeit werde ihnen nachgesagt, sagt Cary
Timpanaro, Heilpädagogin aus Wettingen – «ein Vorurteil». Alle haben sie aber
nichts gegen die Regelschule. Einige sind selbst Lehrer. «Ich könnte nie
Lehrerin sein», sagt Sandra Bolliger, 25 Kinder wären zu viel. Dafür brauche es
ein Lehrpatent. «Nicht aber für Hausunterricht.» Eine heimunterrichtende
Primarlehrerin nickt. «Den Lehrstoff kann ein durchschnittlich intelligenter,
gebildeter Mensch Kindern beibringen», so Bolliger. Eine Grenze des Machbaren
schliesst sie aber nicht aus.
Brauchen Kinder nicht auch
Umgang mit Gleichaltrigen? «Wir sperren unsere Kinder nicht in den Keller»,
echauffiert sich die vierfache Mutter. Ihre Kinder sind in Sportvereinen, im
Chor, in der Pfadi, nehmen Trommelunterricht, machen Paartanz und sind im
Religionsunterricht. «Nicht weil ich religiös bin», sagt sie, «weil sie selbst
entscheiden sollen.» Die Schule werde als einziger Hort für Sozialisierung
angesehen. «Dennoch gibt es saufende und randalierende Jugendliche», die sich
nicht in die Gesellschaft integrierten.
Nachteile gebe es zwar
überall, aber sie ist überzeugt: Die Vorteile von Heimunterricht überwiegen.
«Die Kinder erleben weniger Negatives», sagt Bolliger, weniger Zwänge, weniger
diffusen psychischen Stress wie Mobbing. Gerade der intensive Umgang mit den
Geschwistern, meist unterschiedlich alt, fördere die Sozialisierung. «In der
Familie», so erklärt eine Mutter, «kann man Konflikten weniger aus dem Weg
gehen.»
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