25. Mai 2014

"Die Vorteile des Heimunterrichts überwiegen"

Im Aargau kündigt sich eine Debatte über den Heimunterricht (Homeschooling) an. Der Kanton erlaubt Heimunterricht durch Eltern - auch ohne Lehrerausbildung. Momentan werden rund 70 Kinder zu Hause unterrichtet.


Homeschooling-Familien organisieren jährlich ein gemeinsames Lager, Bild: zvg

Homeschooling: Unterricht bei Mama in der Küche, Aargauer Zeitung, 25.5. von Elia Diehl


Rechtfertigen müsse sie sich ständig. Einige grüssten sie nicht mehr. «Ich verstehe nicht warum», sagt Sandra Bolliger. «Wir schaden doch niemandem.» Sie ärgert sich über die kritische Interpellation von CVP-Grossrätin Marianne Binder zum «Homeschooling».
Sandra und Willy Bolliger leben mit ihren vier Kindern in Aarau. Zwei Zwillingspaare, fünf und neun Jahre alt. Sie Flugbegleiterin, er Rechtsanwalt. Die Kinder gehen nicht in Kindergarten und Schule. Sie gehören zu den schweizweit rund 1000 Kindern, die daheim von ihren Eltern – Treuhänder, Polizisten oder Lehrer – unterrichtet werden (siehe Box).
Der Verein «Bildung zu Hause» organisiert jährlich ein Lager mit Schweizer Homeschooling-Familien – eine Projektwoche wie in der Schule, mit Vorträgen der Kinder, Lernstationen und Exkursionen. Diese Tage war auch Familie Bolliger im Haus «Bärgsunne» oberhalb des Thunersees.
Warum Hausunterricht? «Aus religiösen Gründen macht es hier niemand», sagt Sandra Bolliger bestimmt. «Warum Schule?», fragt sie zurück, nur weil seit rund 200 Jahren eine Schulpflicht bestehe und das niemand hinterfrage?
Für sie geht es um die Lebensqualität für die ganze Familie: Zu gross ist die Präsenzzeit in der Schule, die Kinder sind kaum noch zu Hause. Plötzlich übernehme einfach der Staat, was vorher die Mutter tat. «Ich will nicht, dass andere meine Kinder mehr prägen als ich.»
Die Gründe der Eltern sind verschieden: statt der Einschulungsklasse, wegen psychisch gestresster Kinder, wegen des Zeitaufwands, für eine gezieltere Förderung. Alle nennen es ein «Experiment, das funktioniert». Und die Kinder hätten mitentschieden.
Willy Bolliger überlässt den Heimunterricht seiner Frau, da sie besser geeignet sei. Anfangs war er skeptisch. «Aber es ist bloss ‹ein› Weg, ‹ein› Ansatz. Nicht besser, nicht schlechter.» Der Rechtsanwalt betont, dass es in der Schweiz keine Schulpflicht gebe. Er unterstellt der Interpellantin zudem Populismus, da «sie in den Nationalrat will».
Sandra Bolliger indes will nur das Optimum aus ihren Kindern herausholen. Oft geht sie mit dem Stoff weiter als der kantonale Lehrplan vorgibt, berücksichtigt das aktuelle Interesse der Kinder. «Lernen macht so mehr Spass.» Ohne grossen Einsatz der Eltern geht es nicht. Überheblichkeit werde ihnen nachgesagt, sagt Cary Timpanaro, Heilpädagogin aus Wettingen – «ein Vorurteil». Alle haben sie aber nichts gegen die Regelschule. Einige sind selbst Lehrer. «Ich könnte nie Lehrerin sein», sagt Sandra Bolliger, 25 Kinder wären zu viel. Dafür brauche es ein Lehrpatent. «Nicht aber für Hausunterricht.» Eine heimunterrichtende Primarlehrerin nickt. «Den Lehrstoff kann ein durchschnittlich intelligenter, gebildeter Mensch Kindern beibringen», so Bolliger. Eine Grenze des Machbaren schliesst sie aber nicht aus.
Brauchen Kinder nicht auch Umgang mit Gleichaltrigen? «Wir sperren unsere Kinder nicht in den Keller», echauffiert sich die vierfache Mutter. Ihre Kinder sind in Sportvereinen, im Chor, in der Pfadi, nehmen Trommelunterricht, machen Paartanz und sind im Religionsunterricht. «Nicht weil ich religiös bin», sagt sie, «weil sie selbst entscheiden sollen.» Die Schule werde als einziger Hort für Sozialisierung angesehen. «Dennoch gibt es saufende und randalierende Jugendliche», die sich nicht in die Gesellschaft integrierten.

Nachteile gebe es zwar überall, aber sie ist überzeugt: Die Vorteile von Heimunterricht überwiegen. «Die Kinder erleben weniger Negatives», sagt Bolliger, weniger Zwänge, weniger diffusen psychischen Stress wie Mobbing. Gerade der intensive Umgang mit den Geschwistern, meist unterschiedlich alt, fördere die Sozialisierung. «In der Familie», so erklärt eine Mutter, «kann man Konflikten weniger aus dem Weg gehen.»


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